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Joseph Vogl: Gezähmte Zeit
Gezähmte Zeit
(S. 61 – 71)

Finanzialisierungsprozesse und ihre Medien

Joseph Vogl

Gezähmte Zeit

PDF, 11 Seiten

Es gibt keine Medien in einem substanziellen und historisch stabilen Sinn. Medien sind nicht auf Repräsentationen wie Theater oder Film, nicht auf Techniken wie Buchdruck oder Telegraphie, nicht auf Symboliken wie Schrift oder Zahl reduzierbar und doch in all dem virulent. Man kann sie nicht bloß als Verfahren zur Verarbeitung und Speicherung von Information, zur räumlichen und zeitlichen Übertragung von Daten begreifen. Allenfalls erreicht man ihre historische Existenzweise durch eine besondere Frageform, durch die Frage danach, wie sie das, was sie speichern, verarbeiten und vermitteln, jeweils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind.

In dieser Hinsicht sind Medien unselbstverständliche, man könnte auch sagen: ungegenständliche Gegenstände, in historischer wie in systematischer Hinsicht. Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit einer Tendenz, sich selbst in diesen Operationen auszulöschen, sich selbst unwahrnehmbar zu machen. Sie werden zu einem konzisen Objekt nicht durch bestimmte Greifbarkeiten, sondern durch eine Konstellation von Ereignissen, durch Medien-Ereignisse in einem doppelten Sinn: durch jene Ereignisse, die sich in Medien kommunizieren, indem sich Medien selbst dabei auf besondere Weise mit-kommunizieren. Dieses doppelte Medien-Werden von Maschinen oder Institutionen, von Techniken oder Symboliken, ist nicht präjudizierbar und vollzieht sich von Fall zu Fall aus einem Gefüge aus heterogenen Elementen und Bedingungen. Und dieses Medien-Werden stellt allgemeine Definitionen des Medialen zurück und rückt lokale Situationen in den Blick, in denen sich eine Verwandlung von Dingen und Praktiken zu Medien vollzieht.

Medien vergisst man, wenn sie funktionieren, und sie werden auffällig, wenn etwas nicht klappt. So hatte man in den letzten Jahrzehnten einige Gelegenheiten, auf die Wirksamkeit eines der wohl prominentesten Mediensysteme aufmerksam zu werden. Es handelte sich – etwas euphemistisch gesagt – um Störungen im Weltformat, die Sie alle kennen und die man mit Daten benennen kann: 1987, 1990, 1994, 1998, 2000 und schließlich der Kollaps der Jahre 2007 und 2008 – all diese Finanzkrisen, die nach den Berechnungen der Ökonomen nur alle paar Milliarden Jahre hätten passieren dürfen, haben nicht nur die fatale Effizienz der modernen Finanzökonomie vorgeführt. Sie lassen sich auch als epistemologische Glücksfälle begreifen und zeigen, wie sich in Krisen, d.h. im Rauschen des Systems seine Kanäle, seine Funktionselemente bemerkbar machten. Darum soll es im Folgenden gehen: Wie lässt sich moderne Finanzökonomie als ein Mediensystem begreifen? Wie lässt es sich datieren? Wie wirken hier heterogene Elemente zusammen? Wie also lässt sich eine Geschichte der Finanzen als Mediengeschichte erfassen?

Da wesentliche Praktiken der Finanzökonomie – wie der Kredit oder...

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Joseph Vogl

Joseph Vogl

ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl  »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).

Weitere Texte von Joseph Vogl bei DIAPHANES
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Spielregeln eröffnen ein Feld, in dem das Denken des Konkreten mit dem des Abstrakten immer schon konvergiert. Sie geben Urszenen einer kultur- und medienwissenschaftlich erweiterten Philosophie zu denken. Das hier vorliegende Buch versammelt fünfundzwanzig Spielregeln um das Werk eines Wissenschaftlers, der wie kaum ein anderer dem Denken des Konkreten als Allgemeines verpflichtet ist.

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