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Robert Pfaller: »Bohr nicht in der Nase! Schau dir die Frauen an!«
»Bohr nicht in der Nase! Schau dir die Frauen an!«
(S. 151 – 157)

Über Freude, Alterität und öffentlichen Raum

Robert Pfaller

»Bohr nicht in der Nase! Schau dir die Frauen an!«

PDF, 7 Seiten

Spiele haben nicht nur Regeln, die angeben, wie gespielt werden muss, sofern man überhaupt spielen will. Sie haben auch Regeln, die befehlen, dass in bestimmten Situationen gespielt werden muss – z. B. : »Heute ist Faschingsdienstag, du musst dich verkleiden!« Diese gebietende Kraft des Spiels wird ausgeübt von dem »als ob«, das jedem Spiel als spezifische Illusion innewohnt. Diese von den Spielenden nicht geglaubte, aber zärtlich aufrechterhaltene Illusion fordert von ihnen auch, gut zu spielen. Denn sonst würde die Illusion gebrochen. Alles Glück in der Kultur aber geht von solchen spielerischen Illusionen aus. Eine postmoderne Ideologie, welche die Individuen dazu anleitet, sich als Spielverderber zu betätigen und alle gesellschaftlichen Rollen abzulehnen, nur weil sie Rollen sind, trägt darum nicht zu einem Gewinn an Freiheit bei. Sie führt nur zu einem Verzicht auf jenen Anteil an Glück, den es in einer konfliktuellen Gesellschaft zu erkämpfen gilt.

Dass Spiele immer Regeln haben, ist eine einfache und in ihrer Notwendigkeit kaum erklärungsbedürftige Tatsache. Die Regeln betreffen aber nicht nur die Organisation des Spiels. Sie legen also nicht nur fest, wie gespielt werden kann; sie schreiben vielmehr auch vor, dass in bestimmten Momenten gespielt werden muss. Die Regeln organisieren also nicht nur die Einschließungen und Ausschließungen dessen, was innerhalb des Spiels möglich ist etwa so, wie Verkehrspolizisten einen schon vorhandenen Straßenverkehr regeln, sondern sie sorgen, anders als solche Polizisten, auch dafür, dass es einen solchen Verkehr überhaupt gibt. Die Spiele als gesellschaftliche Institutionen produzieren die Unterbrechungen des nichtspielerischen Alltagslebens. Sie legen fest, ob und wann das übrige Leben Pause machen muss, um einer spielerischen Betätigung Platz zu machen. Gerade in Österreich, einem Land, in dem Arbeiter fast nie die Arbeit niederlegen, um zu streiken, kommt es doch zu massenhaften Arbeitsniederlegungen im Zusammenhang von Spielen: Viele Arbeitgeber würden sich hüten, ihren Mitarbeitern das Verfolgen von Skiweltmeisterschaftsrennen im Fernsehen und das damit verbundene Daumenhalten (denn nicht nur die Rennläufer, sondern auch die Zuschauer spielen etwas) zu untersagen. Die Spiele erweisen sich in solchen Momenten sozusagen (aber eher mit Georges Bataille als mit Carl Schmitt gesprochen) als der Souverän, der den Ausnahmezustand vom normalen Erwerbsleben ausruft.

Das bedeutet, dass wir die Realität »Spiel« genau genommen immer in einer doppelten Bedeutung antreffen: als spezifischen, vom Nichtspiel unterschiedenen Teil des Alltagslebens, und als allgemeine, abstrakte Vorgabe, die über die Grenze zwischen den Teilen Spiel und Nichtspiel sowie über den Rhythmus ihrer Abfolge entscheidet. Das Spiel ist somit (wie die Hegelsche »konkrete Allgemeinheit«) zugleich etwas Besonderes und etwas Allgemeines, das das Verhältnis dieser Besonderheit zu der ihr entgegengesetzten Besonderheit organisiert. In demselben Sinn hatte der Philosoph Louis Althusser diese allgemeine, die Besonderheiten trennende Funktion vom Staat festgestellt: »Der Staat […] ist weder öffentlich noch privat, er ist vielmehr die Bedingung jeder Unterscheidung zwischen öffentlich und privat.«1 Dasselbe gilt für das Spiel. Es ist nicht nur das andere der übrigen Wirklichkeit, sondern auch die Bedingung jeder Unterscheidung des Spiels von ihr. Auch das Spiel also »greift über«, wie Marx eine solche Verdoppelung benannt hätte:2 Als Besonderes beinhaltet es die Regeln, wie gespielt werden muss. Als Allgemeines beinhaltet es die Vorschrift, wann gespielt werden muss.

Das Andere des Spiels: beherrscht und benötigt

Das Spiel mag seinem Anderen, der übrigen Wirklichkeit, gegenüber dominant sein und seine strukturierende, unterbrechende Funktion auf bestimmende Weise ausüben. Das bedeutet jedoch nicht, dass es jemals vollständig dominieren und die übrige Wirklichkeit auf immer zum Verschwinden bringen oder suspendieren könnte. Das Spiel kann gleichsam nicht, wie ein Schurke im Western, sagen: »Hier bestimme ich, und du verziehst dich hinter den Horizont.« Die Vorstellung, dass alles, die ganze Welt, Spiel sein könnte, ist – wie Johan Huizinga mit Recht betonte – eine Idee finsterer Metaphysiker, die das Spiel zum Verschwinden bringt und lediglich, ähnlich wie die Idee vom Leben als Traum, darauf abzielt, die Wirklichkeit gegenüber einer vermuteten zweiten Welt, die sich hinter der Welt befindet, platonisch abzuwerten.3 Wenn alles Spiel ist, dann gibt es kein Spiel mehr.

Eben weil das Spiel übergreift, ist es darauf angewiesen, dass es auch sein Anderes gibt. Aus eigener Notwendigkeit, und nicht etwa, weil es an der begrenzten Macht des partikularen Anderen an eine Grenze stieße, braucht das Spiel die Wirklichkeit. Es herrscht über sein Anderes, und es kann doch zugleich – wie alle Herren – nicht ohne dieses von ihm Beherrschte existieren. Es mag ihm dort oder da, dann und wann, etwas wegnehmen – vielleicht sogar sehr viel –, aber es muss es leben lassen, sonst ist der Souverän Spiel zugleich mit seiner Herrschaft dahin. So, wie das Spiel befiehlt, dass gespielt werden muss, setzt es sich selbst auch einen Schlusspfiff bzw. eine Ziellinie und ordnet an, dass jetzt nicht mehr gespielt werden, sondern den Geboten der Wirklichkeit Folge geleistet werden muss.

Das Spiel und seine Illusion

Johan Huizinga, der Kulturhistoriker des Spiels, und Octave Mannoni, der Psychoanalytiker der Illusion, haben in fast gleichlautenden Worten darauf hingewiesen, dass das Wort »Illusion« vom lateinischen »ludus« (Spiel) abstammt und also wörtlich »Einspielung« bedeutet.4 Nicht nur jeder Illusion aber wohnt etwas Spielerisches, sondern auch umgekehrt jeglichem Spiel eine Illusion, ein bestimmtes »als ob«, inne. Das bedeutet, dass innerhalb der von Roger Caillois5 vorgeschlagenen Unterteilung der Spiele in Mimikry (darstellendes Spiel wie z.B. Theater), Agon (Wettkampfspiel), Ilynx (Rausch, Schwindel, wie z.B. beim Schaukeln) und Alea (Zufallsspiel, wie z.B. Roulette) die Gattung der Mimikry nicht nur eine Gattung neben anderen ist. Vielmehr muss man von der Mimikry sagen, dass sie über die anderen Gattungen »übergreift«: Nicht nur im theatralischen Spiel, sondern auch in jeder der anderen Kategorien des Spiels steckt ein mimetisches Moment, ein »als ob«: Im Wettkampf muss man so tun, als ob es von unüberbietbarer Wichtigkeit wäre, den anderen zu schlagen oder den angestrebten Erfolg zu erzielen (»Ein Stürmer muss für einen solchen Ball leben«, sagte ein bekannter österreichischer Fußballtrainer einmal); im Ilynx muss man den Kontrollverlust simulieren; im Zufallsspiel muss man so tun, als könnte man den Zufall erahnen und kontrollieren.

Gemäß Mannonis grundlegender Unterscheidung der Einbildungen in »foi« und »croyance«; d.h. zwischen selbstgeglaubten und nicht selbstgeglaubten Illusionen; zwischen Bekenntnissen, zu denen es leicht auffindbare, bekennende Träger gibt, und »Illusionen der anderen«, von denen (wie z.B. bei der Höflichkeit oder beim Horoskop) oft schwer zu sagen ist, wer sie jemals geglaubt haben könnte, bildet die Illusion des Spiels einen klaren Fall der zweiteren – der Einbildung der anderen.6 Selbst das Kind, das einsam mit einem Schläger einen Ball gegen eine Hauswand schlägt,7 und das Kätzchen, das sich mit Eifer an einer Zwirnrolle betätigt,8 handeln mimetisch in diesem Sinn. Sie tun – nach Huizingas Erkenntnis – so, als ob etwas um jeden Preis gelingen müsste. Sie müssen das nicht wissen. Es muss ihnen nicht bewusst sein, dass sie eine Illusion zur Darstellung bringen (denn es ist eben eine Illusion der anderen). Aber sie tun es.

Der Zwang, zu spielen, und der Zwang, gut zu spielen

Mit diesem Als-Ob, dieser nicht selbstgeglaubten Illusion, geht ein Zwang einher. Sigmund Freud hatte dies, von der anderen Seite des Problems kommend, bemerkt: Zwangshandlungen beinhalten immer ein »Als-Ob«; sie sind mimetisch, »durchwegs sinnvoll«, sie stellen etwas dar.9 Der Zwang besagt nun einerseits, dass gespielt werden muss. Aber er besagt auch zugleich, dass das Als-ob des Spiels um jeden Preis aufrechtzuerhalten ist. Man muss nicht nur jetzt sofort spielen, sondern man muss auch so gut spielen, wie nur möglich. Das Spiel beinhaltet nicht nur den Spielbefehl, sondern es fordert auch ein spielerisches Ideal ein.

Beide Zwänge gehen auffällig zusammen. Wer abends lange am Bildschirm arbeitet und, um sich zu regenerieren, zwischendurch ein Spiel am Computer spielt, kann leicht die Erfahrung machen, dass es ihm bzw. ihr nicht leicht fällt, mit dem Spielen wieder aufzuhören. Obwohl man durchaus weiß, dass man danach gar nicht mehr arbeiten wird und dass es darum klüger wäre, gleich schlafen zu gehen, muss man dann versuchen, noch eine Rekordrunde auf dem Rallyeparcours zu drehen oder eine Rekordzahl an Moorhühnern zu erlegen. Der Zwang, dass gespielt werden muss, versteckt sich hinter der ehrgeizigen Sehnsucht nach dem neuen Rekord. Wie auch bei den von Freud analysierten Zwangshandlungen muss der Inhalt der Illusion den zwanghaft Agierenden nicht bewusst sein, und wenn er es ist, dann müssen sie ihn nicht glauben. Die Spieler brauchen nicht zu glauben, dass es wichtig wäre, Moorhühner zu erwischen oder einmal noch schneller zu fahren als sie selbst. Der Zwang herrscht immer ohne solche Identifizierung mit der Illusion; er herrscht als Einbildung der anderen.

Dies übersieht der Spielverderber: er bildet sich ein, etwas Überraschendes zu sagen, wenn er einwendet: »Es ist ja nur ein Spiel«. Er tut dann so, als ob nur er über diese Erkenntnis verfügte, und nicht die anderen. Diese wären demnach ohne dieses Wissen und darum in der Illusion des Spiels gefangen, weil sie an diese glaubten; Letztere wäre ihre eigene Einbildung. Dies ist das eigentlich Ärgerliche am Spielverderber – seine philosophische Kurzsichtigkeit. Denn er ruft den anderen doch nur lautstark jenes Wissen in Erinnerung, das die Spielenden (als ihr solidarisch gehütetes Geheimnis) stillschweigend teilen und das sie selbst gerade brauchen, um von der Illusion des Spiels, die nicht ihre ist, gebannt zu sein. Eben weil sie wissen, dass es »nur« ein »dummes« Spiel ist, können sie nicht davon lassen.10 Von der Arbeit, die sie – ob zu Recht oder Unrecht – nicht »nur« für »dummen« Zeitvertreib halten, können sie viel leichter lassen. Freilich lassen sich aus ein und demselben Wissen zwei entgegengesetzte Konsequenzen ziehen. Entweder man lässt sich von der durchschauten Illusion bannen und verfällt in den freudigen, »heiligen Ernst« des Spiels; oder man verachtet die anderen, zerstört freudlos die Illusion des Spiels und wiegt sich selbstgefällig in der – nun selbst geglaubten – Einbildung eines Erkenntnisprivilegs.

Der unsichtbare Dritte

Wenn man spielen muss, dann muss man auch gut spielen – weil man sonst zu erkennen gäbe, dass die Illusion, die nicht die eigene ist, eine Illusion ist. Damit würde man sie für jenen anonymen, unsichtbaren Dritten zerstören, den wir bei allem symbolischen Handeln, ob wir es wissen oder nicht, voraussetzen.11 Denn nicht die Spielenden glauben an die Illusion, die sie gemeinsam aufrechterhalten (die gegnerischen Fußballmannschaften überbieten einander darin, den Ball zu einem begehrenswerten, kostbaren Gut zu erheben), sondern ein unsichtbarer Dritter, dem gegenüber die Spieler und ihr Publikum, wie Mannoni schreibt, »unter einer Decke stecken«,12 indem sie das Geheimnis ihres besseren Wissens nicht preisgeben und so tun, als ob – indem sie pünktlich spielen und gut spielen.

Spielverderberkulturen

Seltsamerweise kann das Wissen, dass der Adressat unserer spielerischen »als ob’s« ein unsichtbarer Dritter ist, und nicht irgendwelche wirklichen Anderen, einer Kultur verloren gehen. Eine ganze Kultur kann dann – wie zum Beispiel die unsere seit den 70er Jahren – spielverderberisch werden. Dies hat nicht nur zur Folge, dass jeder den anderen, sofern dieser noch spielt, für dumm hält. Sondern, schlimmer noch, es bedingt, dass der öffentliche Raum, der ein Raum des unsichtbaren Dritten und mithin ein Spielraum ist, in dem alle gefordert sind, Rollen zu spielen,13 fälschlich für den Raum der Anderen gehalten wird. Wenn das passiert, dann meinen wir, wir benähmen wir uns nicht deshalb gut oder elegant, weil wir vor dem unsichtbaren Dritten das Gesicht wahren müssen, sondern nur noch deshalb, weil die Anderen, wie wir glauben, es von uns fordern. Die Unterscheidung zwischen lustvoller Alterität und schmählicher Heteronomie kann nicht mehr getroffen werden (der vulgärmarxistische Begriff der »Entfremdung« repräsentiert diese Unfähigkeit in exemplarischer Weise). Alle, die sich irgendwie von Heteronomie befreien wollen, beginnen dann, jegliche Alterität abzulehnen14 und alles, was sie vom öffentlichen Raum erhalten könnten, zu verweigern. Frei sein heißt dann, nicht mehr großartig, glamourös, höflich, generös und heiter etc. sein, sondern lediglich selbst gestrickt und ungehobelt finster. Emanzipation gerät damit zum Verzicht auf die Beute, deren Überlassung die Eliten gerne, freudig überrascht und Hände reibend zur Kenntnis nehmen.

Sei ganz du selbst – ohne Kleider, Masken, Waffen

Alle Ressourcen der Kultur, die den Individuen nicht zuletzt zur Verfügung stehen, um Deklassierung zu überwinden (»Er spricht zu gut für einen Diener« heißt es einmal bei Diderot), werden von den spielverderberischen Individuen abgelehnt: Kultur wird, insofern sie spielerische Ideale, Muster für den öffentlichen Raum, bereitstellt, als »einschränkend« und »normierend« betrachtet. Es wird damit so getan, als ob ein befreiter Zustand ein solcher ohne jegliche spielerische Ideale wäre – und nicht etwa nur ein Zustand mit (vielleicht) anderen Mustern. Wenn es uns aber zum Beispiel jemals gelingen sollte, die überlieferten Geschlechterrollen zu überwinden, dann werden die neuen Rollen ebenfalls wieder Rollen sein; und das bedeutet, dass man auch sie nicht einfach von Natur aus beherrschen wird, sondern nur durch Kenntnis und Übung. Wenn mit den traditionellen Rollen Heteronomie verbunden war (was nicht ganz sicher ist, weil unsere Wut sich oft viel mehr auf die Rollen gerichtet hat als auf die Heteronomie, und wir also noch kaum ausprobiert haben, ob sich die Heteronomie nicht sogar unter Beibehaltung der Rollen hätte weitgehend abschaffen lassen), 15 dann werden die neuen Rollen jedenfalls nicht ohne Alterität sein. Und wenn zum Beispiel Subkulturen und Minderheitenkulturen jemals vollständige Anerkennung erhalten, dann wird sich zeigen, dass auch sie Kulturen sind: dass auch sie Muster bereithalten, die man nicht von Natur aus, sondern nur durch Kenntnis und Übung beherrscht. Nur solange einer Kultur eine andere vor der Nase sitzt, kann sie sich in der freudigen Illusion wiegen, die eigene Kultur wäre gar keine, sondern lediglich sozusagen der freiwillige Naturzustand ihrer Angehörigen. Kaum dass sie sich aus der Unterdrückung befreit hat, zeigt sie jedoch ihre vermeintlich kränkende Seite, die darin besteht, den Individuen spielerische Ideale vor Augen zu halten. Das mögen diese dann wieder – ähnlich den heutigen Schülern, die gähnend den begeisterten Ausführungen ihrer Lehrer zur Undergroundmusik der 70er bis 90er Jahre folgen – als »normierend« empfinden. Doch viel schlimmer als diese Alterität, die den Individuen einen Abstand zeigt zwischen dem, was sie sind, und dem, was sie sein könnten, ist ihr Ausbleiben. Wenn alle nur noch das sein können, was sie sind (z.B. irgendeine Schneeflocke), und sonst nichts, dann haben sie nicht einmal mehr die Chance, jemals irgendeine relevante Bewegung zu vollziehen. So kränkend es sein mag, einem spielerischen Ideal fern zu sein, und so schwer es fallen mag, ihm näher zu kommen, umso schlimmer ist es doch andererseits, mit keinem solchen Ideal mehr konfrontiert zu werden. Denn nirgends lebt es sich trostloser als dort, wo nichts von einem erwartet wird.

Schauspielen und Schauen

In einer Fernsehdokumentation über die Kultur Italiens hat der Schriftsteller Dario Fo einmal erklärt, dass italienische Frauen den öffentlichen Raum gern als eine Art Bühne benützen und eine entsprechende Form des glanzvollen Auftretens dafür entwickelt haben. Somit ist es dort nicht – wie es in manchen puritanischeren Kulturen empfunden wird – unhöflich, die Frauen zu betrachten, sondern im Gegenteil: es wird von den Frauen selbst als äußerst unhöflich empfunden, wenn man ihre Bemühungen keines Blickes würdigt. Fo hat dies mit einer kleinen Anekdote illustriert: Wenn er als kleiner Junge, so Fo, an der Hand seiner Mutter auf der Straße ging, dann kam es vor, dass die Mutter zu ihm sagte: »Bohr nicht in der Nase! Schau dir die Frauen an!«

Die Aufforderung der Signora Fo an ihren kleinen Sohn kann als beispielhafte Spielregel begriffen werden, die alle zuvor genannten Momente umfasst. Sie begreift den öffentlichen Raum als einen Raum des Spiels, das sofort zu spielen ist. Weiters muss das Spiel gut gespielt werden. Dem vielleicht ahnungslosen Kleinen wurde von seiner Mutter ein spielerisches Ideal vor die Augen gezaubert; er konnte sich vielleicht erstmals in einer Rolle erfahren, die gegenüber seiner nasenbohrenden, autoerotischen Kinderwirklichkeit große Ferne und Alterität aufwies; der Rolle eines schon einigermaßen erwachsenen Mannes. Auf einer Metaebene schließlich zeigt die Formulierung, dass Männer nicht einfach Männer, und Frauen nicht einfach Frauen sind, sondern nur insofern und deshalb, weil sie diese Rollen spielen. Geschlechtliches Verhalten und Sexualität wird damit nicht als individuelle und naturhafte, quasi tierische Praxis, sondern als kulturbedingtes Spiel charakterisiert. Und dem kleinen Dario, so fremd ihm das alles vorgekommen sein mag, wurde damit die Ehre zuteil, sich von nun an in einem Raum zu wissen, in dem er relevante Bewegungen machen konnte.

Dieser Text ist im Rahmen des vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds geförderten Projektes Übertragungen: Psychoanalyse – Kunst – Gesellschaft an der Universität für Angewandte Kunst in Wien entstanden.

1. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg, Westberlin 1977, S. 120.

2. Vgl. Karl Marx [1857]: Einleitung [zur Kritik der politischen Ökonomie], in: Ders. und Friedrich Engels: Werke, Band 13, 7. Auflage, Berlin/DDR 1971, S. 630.

3. Vgl. Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 1956, S. 13.

4. Vgl. ebd., S. 19 ; sowie Octave Mannoni: Clefs pour l’Imaginaire ou l’Autre Scène, Mayenne 1985, S. 162.

5. Vgl. Roger Caillois [1958]: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, München, Wien o. J.

6. Vgl. Robert Pfaller: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt/M. 2002.

7. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1980, S. 57.

8. Vgl. Huizinga: Homo Ludens, a.a.O., S. 18.

9. Vgl. Sigmund Freud [1907]: »Zwangshandlungen und Religionsübungen«, in: Ders., Studienausgabe, Bd. VII, Frankfurt/M. 1989, S. 15.

10. Vgl. Huizinga: Homo Ludens, a.a.O., S. 20f.

11. Vgl. Slavoj Žižek: »Ein Plädoyer für die ehrliche Lüge. Bill Clintons Affäre und das Freudsche Gespenst des Urvaters«, in: Die Zeit, Nr. 42, 8. 10. 1998, S. 72.

12. Vgl. Octave Mannoni: «Das Spiel der Illusionen oder das Theater aus der Sicht des Imaginären«, in: Maske und Kothurn. Internat. Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft, 52. Jg., Heft 1: Mit Freud, Wien 2006, S. 19.

13. Vgl. Richard Sennett: The Fall of Public Man, London 1974.

14. Dem entsprechen die typischen Verwechslungen: Man kritisiert z.B. nicht den kapitalistischen Wertbildungs-, sondern nur den »fordistischen« Arbeitsprozess; man bekämpft nicht die Klassenspaltung, sondern nur die Arbeitsteilung; man trägt nicht die politische Differenz gegenüber der anderen Generation aus, sondern nur die des Habitus – und bleibt ein Leben lang »berufsjugendlich«.

15. Um nur eine Auffälligkeit in diesem Zusammenhang zu nennen: anorektische Schlankheitsideale für Frauen werden meist auf das Diktat des männlichen Geschmacks zurückgeführt. Aber rundere Frauen werden bezeichnenderweise in jenen Kulturen bewundert, in denen die (angeblich patriarchale) Polarisierung der Geschlechterrollen noch stark ausgeprägt ist. Nur dort, wo kein Unterschied zwischen den Geschlechtern mehr sichtbar sein soll, müssen Frauen hungern.

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Robert Pfaller

Robert Pfaller

ist Professor für Philosophie und Kulturwissenschaften an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz; als Gastprofessor war er tätig an der Rietveld Academie Amsterdam, der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, der University of Illinois at Chicago, der Statens Kunstakademi Oslo, der Ecole Superieure des Arts Decoratifs de Strasbourg, der Technischen Universität Wien sowie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.

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