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Bernhard Siegert: Schiffe Versenken
Schiffe Versenken
(S. 259 – 269)

Rauschen des Meeres, Rauschen der Bildschirme

Bernhard Siegert

Schiffe Versenken

PDF, 11 Seiten


Man spielt es zu zweit. Im Krieg gibt es nur den Feind, egal aus wie viel Verbündeten er besteht. Neutrale kommen nicht vor. Jeder Spieler hat sich zwei Pläne anzufertigen. Diese bestehen jeweils aus einem Raster von Quadraten. Über die Größe des Rasters, das die Größe des Kriegstheaters festlegt, kursieren unterschiedliche Angaben: Sie reichen von 10 x 10 bis zu 20 x 20 Quadraten, denkbar wären rein theoretisch aber auch 1.000.000 x 1.000.000 Quadrate. Diese stellen das eigene Meer und das des Gegners dar. Seltsamerweise operiert man auf verschiedenen Meeren. Oder ist es dasselbe Meer? Es gibt viele Meere, schrieb Borges, aber doch immer nur dieses eine Meer. Die einzelnen Quadrate sind ansteuerbar durch Zahlen an der oberen Seite des Plans und durch Buchstaben an den Seiten (A bis J oder A bis T). In das eine Rasterpapier trägt man seine eigenen Schiffe ein, im anderen verzeichnet man seine Treffer und Fehlschüsse. Genau genommen ist der zweite Plan eine abstrakte Darstellung des Meeresgrunds. Das Schiff, das hier auftaucht, ist paradoxerweise versenkt. Über die Anzahl und die Größe der Schiffe (zum Beispiel 4 Torpedoboote, 3 Kreuzer, 2 Zerstörer, 1 Schlachtschiff) einigt man sich vor Beginn der Feindseligkeiten. Beide Gegner sind daher zu Beginn stets gleich stark, was allen historischen Tatsachen widerspricht. Weiterhin sehen die Spielregeln vor, dass die Schiffe nicht aneinanderstoßen dürfen, dass sie nicht über Eck gebaut sein dürfen und dass sie nicht diagonal aufgestellt sein dürfen.

Es wird abwechselnd gefeuert. Das Feuern selbst besteht darin, dass man die Koordinate eines Quadrats nennt. Der Gegner meldet, ob man einen Treffer oder einen Fehlschuss gelandet hat. Treffer wie Fehlschüsse werden auf dem Plan, der das gegnerische Meer darstellt, markiert. Trifft man irgendetwas, darf man solange weiter feuern, bis man wieder daneben geschossen hat. Hat man sämtliche Quadrate, über die sich ein Schiff erstreckt, mit Treffern bedeckt, hat der Gegner darüber Meldung zu machen, dass sein Kreuzer, sein Schlachtschiff oder was auch immer, versenkt sei. Gewonnen hat, wer als erster alle Schiffe des Gegners versenkt hat.

Geschichte des Seekriegs im Lichte von Schiffeversenken

Geschütze

Man kann den state of the art, der Schiffeversenken zufolge das Wesen des Seekriegs bestimmt, historisch ziemlich genau eingrenzen. Drei Anhaltspunkte sind dabei ausschlaggebend: Erstens, die Schlacht wird mit Geschützen ausgetragen; zweitens, die Meeresoberfläche ist gerastert; drittens, der Gegner ist unsichtbar. Natürlich könnte man auch die Existenz von Unterseebooten oder Torpedobooten oder Flugzeugträgern anführen, um die Art Krieg, die Schiffeversenken aufführt, aufs 20. Jahrhundert zu datieren. Aber erstens könnte man das Spiel auch mit den Schiffen spielen, die Nelson und Villeneuve zur Verfügung standen (Men-of-War mit standardmäßigen 74 Geschützen), und zweitens muss man aufzeigen, dass die Situation, in die Schiffeversenken den Krieg zur See versetzt und die Strategie, die daraus folgt, wesensmäßig mit dem Torpedoboot und dem Unterseeboot zusammenhängt. Nichtsdestotrotz muss man den Moment, in dem sich der historische Raum des Meeres für die bloße Möglichkeit des Erscheinens eines Spiels wie Schiffeversenken öffnet, deutlich früher datieren.

Zum ersten: dass die Schlacht mit Geschützen ausgetragen wird, ist ein ziemlich sicheres Indiz dafür, dass diejenigen, die Schiffeversenken spielen, sich nicht mehr im Zeitalter der Galeeren befinden. Nie wird Salamis auf den gerasterten Papierflächen sein. Schiffeversenken zwischen 480 v. Chr. und Lepanto hatte den Zorn des Poseidon als Ursache oder einen Rammstoß.1

Gerasterte Oberflächen

Zum zweiten: Der Blick, mit dem diejenigen, die Schiffeversenken spielen, auf ihre gerasterten Papierflächen schauen, ist ein Kartenblick. Das Meer, das hier erscheint, besitzt keinen Horizont, sondern nur eine willkürliche Eingrenzung, ohne die das Spiel sofort aufhören würde, spielbar zu sein. Ändern wir den Spielplan, ändern wir die Regeln. Ersetzen wir das quadratische Raster zunächst durch einen Globus und projizieren dessen Oberfläche mittels winkeltreuer Zylinderprojektion wieder in die Fläche. Was wir erhalten, ist eine Mercator-Karte. Spielt man Schiffeversenken mit Mercator-Karten, platziert man seine Schiffe am besten auf dem 90. Breitengrad bzw. am Nordpol. Dort verschwinden sie nämlich im Unendlichen. Spielt man das Spiel indes mit maßstabsgetreu dimensionierten Schiffen, ist auch das egal. Um die Position eines Objekts von der Größe eines Schiffes auf den Ozeanen dieser Erde zu bestimmen, benötigt man ein dermaßen engmaschiges Raster, dass es die Geduld eines jeden Spielers übersteigen wird, durch blindes Feuern in dieses Apeiron irgendetwas zu treffen.

Der Stand der Dinge, der Schiffeversenken zufolge die Lage beherrscht, setzt die Rasterung der Meeresoberfläche voraus, setzt also Ptolemäus, die Erfindung der Breiten- und Längengrade und ihren neuzeitlichen kartographischen Einsatz durch Gerard Mercator voraus. Der Erste indes, der ein Raster auf einen als begrenzt gedachten Seekriegsschauplatz projizierte, war der französische Schiffskaplan und Jesuitenpater Paul Hoste.

Seeschlachten wurden bis ins 16. Jahrhundert nach dem Vorbild des Infanteriekrieges zu Lande geführt. Das hieß im Zeitalter der Galeeren, dass man (wie noch bei Lepanto) in Dwarslinie antrat (was der Schlachtordnung der Hoplitenphalanx entspricht), die feindlichen Schiffe enterte und dann mit gewöhnlichen Landsoldaten ein Landgefecht auf hölzernem Boden aufführte. Seine eigentümliche Ordnung erhielt der Seekrieg erst in den drei englisch-niederländischen Kriegen. 1653 führten die auf See versetzten Armeeoffiziere Cromwells – die »Generäle zur See« Blake, Deane und Monck neue Gefechtsinstruktionen (Battle Orders) ein. Diese enthielten den entscheidenden Artikel 3: »all the ships of every squadron shall endeavour to keep in a line with the chief«.2 Dieser Artikel führte die Kiellinie als gewöhnliche Schlachtformation ein. Sie markierte den Beginn eines Übergangs von physischen Massen und ihren Kräften zu einer Geometrie des Krieges. Aus dem Element, das allein den Gesetzen der Tyche gehorcht, wird ein geometrischer Raum und aus der Seeschlacht eine Serie mathematischer Operationen. Schiffe fahren und kämpfen in Formation; der Krieg zur See setzt deswegen eine Operationsfläche voraus, die die Verarbeitung von Information zu Formation und von Formation zu Zerstörung zulässt.

Die Kiellinie war die logische Konsequenz aus der Breitseitaufstellung der Geschütze.3 Artikel 3 der Battle Orders markiert den Bruch mit der alten Galeerentaktik und beendete die Nachahmung von Infanterietaktiken zur See. Galeeren wie Infanteristen feuern in der Richtung ihres Vormarsches. Mit Breitseitbatterien bestückte Schiffe feuern jedoch querab zu ihrer Marschrichtung. Ihre am besten gesicherte Front ist dort, wo marschierende Armeen ihre schwer zu schützende Flanke haben. Dagegen waren die Spitze und das Ende einer Linie so offen wie die Flanken einer Armee.4 Die Kanone »führte zu einem Verschwinden einer Technik der Massen zugunsten einer Kunst, die Einheiten und [Schiffe] auf langen, geschmeidigen und beweglichen Linien verteilte. […] Es musste eine Maschinerie erfunden werden, deren Prinzip nicht mehr die bewegliche oder unbewegliche Masse war, sondern eine Geometrie teilbarer Abschnitte.«5 Der einzelne Schiffskörper konstituiert sich als »Element einer vielgliedrigen Maschine«.6

Paul Hostes L’Art des armées navales ou Traité des évolutions navales von 1697 brachte die englischen Battle Orders in ein axiomatisches System und wurde zum einflussreichsten Werk über die Seekriegskunst bis Ende des 18. Jahrhunderts. Durch Hoste wird die Kiellinie zum Basisaxiom der Kriegskunst zur See. Hoste schlägt aber auch eine neue kybernetiké techné vor, die dem neuen auf geometrisierten Evolutionen beruhenden Seekriegstheater entspricht. Auf der Brücke des Schiffes soll zwischen Groß- und Besanmast »ein großes Viereck ABCD ›gemacht‹ werden [das sogenannte ›quarré navale‹], wobei die Linie EF dem Kiel des Schiffes entspricht in der Weise, dass der Punkt E auf der Seite des Bugs liegt und der Punkt F auf der Seite des Hecks. Die Linie FE stellt also immer den Kurs dar, den das Schiff hält, die Linien AB, CD markieren seine Queren; und wenn das Schiff maximal hart am Wind liegt, markieren die Diagonalen CA und DB den einen Kurs, den das Schiff hält, wenn es zu wenden hat und die andere seine Quere.«7

In das Deck eines jeden einzelnen Schiffes soll ein Basisdiagramm eingraviert und der mit der Führung des Schiffs beauftragte Offizier in eine Zelle eines gerasterten Operationsschauplatzes im Maßstab 1:1 gestellt werden (Abb. 1). Das Quarré ist nichts anderes als ein Koordinatensystem, das der Mathematiker Paul Hoste zweifellos aus Descartes’ Geometrie kannte. Es projiziert auf die Meeresoberfläche ein Koordinatensystem, in dem jedes Schiff seinen »Ort« einnehmen kann. Die Bühne des Seekriegs fällt zusammen mit der gerasterten Papieroberfläche. Die Operation des Schiffs wird auf diese Weise berechenbar und abzählbar nach den Strichen der Windrose.

Seit Paul Hoste stellt sich das Meer also dar wie auf den gerasterten Spielflächen von Schiffeversenken. Indessen ist evident, dass die Anwendung der Kiellinie als Seekriegstaktik unter den Bedingungen von Schiffeversenken absolut selbstmörderisch wäre. Um bei Schiffeversenken zu gewinnen, zählen nicht mehr weithin sichtbare Operationen auf der Bühne der Meeresoberfläche, sondern zählt eine Ästhetik des Verschwindens. Die Frage ist: wie wird man auf dem Meer unsichtbar, um potentiell überall sein zu können? Den Gedanken, dass diese strategische Frage wichtiger sein könnte als das taktische Axiom der Kiellinie, wagte als erster Admiral Herbert, Lord of Torrington, zu denken.

»A fleet in being«

Zum dritten: Der Stand der Dinge, den Schiffeversenken dokumentiert, ist, dass die Gegner unsichtbar sind. Eine große Blindheit hat sich über die Führungsstäbe und Admiräle gesenkt. Eine undurchdringliche Nacht verhüllt den Kriegsschauplatz. Die eigenen und des Gegners Schiffe sind perfekt verborgen; entweder sind sämtliche Ortungsgeräte ausgefallen oder sie sind unwirksam. Kein Radar, kein Infrarot, keine Funkpeilung oder ein sonstiges Ortungssystem kann helfen; keine Signal Intelligence und auch kein Bletchley Park, dessen wizards die Funksprüche der Enigma knackten und die Positionen der deutschen U-Boote im Atlantik entschlüsselten, steht zur Verfügung. Die Sicht ist dermaßen zero, dass die Möglichkeit, mit dem Fernglas, den Horizont abzusuchen, nicht einmal vorgesehen ist. Alles, was wir haben, ist ein Schirm, der uns über die Lage der eigenen Schiffe informiert und über die Lage der Schüsse, die wir in das Nichts abfeuern, das uns umgibt.

Diese neue Ontologie des Meeres meldete sich am 30. Juni 1690 in einer der kläglichsten Seeschlachten der Engländer: Beachy Head. Paul Hoste hatte an dieser Seeschlacht teilgenommen, er befand sich an Bord des Flaggschiffes des Herzogs von Tourville. Der eigentliche Held dieser Seeschlacht war jedoch nicht Tourville, der Sieger, sondern der Kommandant der englisch-holländischen Flotte, Vizeadmiral Arthur Herbert, Lord of Torrington. Torrington verlor nicht nur diese Seeschlacht, er verlor sie außerdem noch durch Untätigkeit, die verdammenswerteste Form des Versagens für die englischen Seelords. Torrington zog es vor, nichts zu tun. Aber eben dadurch deutete er eine Logik des Seekriegs an, eine Ordnung des Unsichtbarwerdens, eine Nacht, die das Schiff als Hostescher Signifikant, der seinen Platz in einem Koordinatensystem und auf einer von überall her überschaubaren Bühne hat, schließlich verschlucken wird.

Ludwig XIV. hatte Gefallen an der Idee gefunden, den vertriebenen Stuartkönig James II. wieder auf den englischen Thron zu bringen bzw. die im Haus Oranien verbündeten protestantischen Handels- oder Piratennationen England und Holland wieder zu trennen. Daraus entstand der englische Thronfolgekrieg. Er begann mit einer groß angelegten französischen Land-See-Operation, mit der man James erst einmal ins katholische Irland brachte, um ihn von dort nach London weiter zu expedieren.

Im Juni 1690 segelte der Herzog von Tourville mit 74 französischen Schiffen in den Kanal ein, wo sich die englisch-niederländische Kanalflotte mit 57 Schiffen aufhielt, die von Vizeadmiral Arthur Herbert, Lord Torrington, kommandiert wurde. Einem ersten Versuch, ins Gefecht zu kommen, wich Tourville aus – sehr zur Erleichterung von Torrington. Am 30. Juni hatte der Wind nach NNO gedreht, so dass Torrington direkt luvwärts stand, die Franzosen vollständig in Lee. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als den Befehl zu geben, Schlachtformation zu bilden und anzugreifen. Die Vorhut Torringtons war aus holländischen Schiffen gebildet, die Mitte bildete Torrington selbst und die Nachhut bestand aus französischen und holländischen Schiffen unter Delavall. Nach den Regeln der Formaltaktik geht nun die Vorhut auf Parallelkurs mit der feindlichen Vorhut, die Mitte auf Parallelkurs mit der feindlichen Mitte usw. Nun hatten die Franzosen jedoch eine deutlich längere Linie als die Verbündeten (Abb. 2). Den Holländern gelang es daher nicht, ihr erstes Schiff mit dem ersten Schiff der Franzosen zu »konterminieren«. Und Torrington? Nach den Konventionen der Formaltaktik hätte er Anschluss an seine Vorhut halten und Tourvilles Flaggschiff in der Mitte angreifen müssen, die gigantische Soleil Royal mit ihren 104 Kanonen. Aber Torrington zog es vor, lieber nicht anzugreifen. Stattdessen zählte er Schiffe. Er zählte 40 Schiffe hinter der Soleil Royal und hinter sich selbst nur 23. Daraus schloss er ganz richtig, dass Tourville versuchen würde, ihn von hinten »zu doublieren«, wenn er selbst weiter auf die Mitte zuhalten würde. Also setzte er sich auf große Schussweite ab und hielt die Mitte dicht bei der Nachhut, um keine Lücke zwischen sich und Delavall einreißen zu lassen. Währenddessen fuhren die Holländer weiter auf die französische Vorhut zu, wodurch sich zwischen Mitte und Vorhut eine Lücke auftat. Etwa gegen 9 Uhr morgens eröffnete die holländische Vorhut das Feuer auf die französische Vorhut. Die aber hatte mindestens sechs Schiffe mehr, die jetzt ihre Segel setzten, vorpreschten, über Stag gingen und die Holländer doublierten, das heißt: sie nahmen sie von zwei Seiten unter Feuer.8 Torrington war immer noch eine Meile weit weg von der französischen Linie und ebensoweit von Ashby, der die Mitte anführte und der jetzt in das Gefecht gegen das französische Flaggschiff geriet, das Torrington eigentlich hätte führen müssen. Um zehn Uhr waren sowohl die Vorhut als auch die Nachhut im Gefecht – nur Torrington stand weiterhin weit ab. Gegen 1 Uhr hatte Ashbys Flaggschiff den Fockmast verloren; zwei weitere seiner Schiffe waren stark beschädigt und fielen aus der Linie. Die Franzosen stießen durch die Lücke (»crossing the T«) und nahmen zusätzlich die Holländer unter Feuer. Jetzt endlich gab Torrington den Befehl, den Holländern zu Hilfe zu kommen, doch ließ just in diesem Moment der Wind nach und legte sich schließlich ganz. Während Tourville versuchte, die Schiffe wieder ins Gefecht schleppen zu lassen, ließ Torrington, der das Einsetzen der Ebbe bemerkt hatte, klug Anker werfen. Die Franzosen wurden außer Gefechtsweite getrieben. Mit dem Tidenwechsel ging Torrington ankerauf und segelte ostwärts den Kanal hinauf, und damit war die unrühmliche Angelegenheit beendet. Nach Mahan war es der vollständigste Seesieg, der bis dahin jemals erfochten wurde.9 Die Franzosen verloren nach den Angaben von Paul Hoste nicht einmal ein Beiboot, dagegen musste Torrington sechzehn beschädigte Schiffe auf Strand auflaufen und im Angesicht des Feindes verbrennen lassen.

Die Schlacht war nach Padfield »one of the most humiliating defeats ever suffered by an English fleet.«10 Aber während in Paris etwas voreilig das Ende der englischen Vorherrschaft über die sieben Meere gefeiert wurde, überzeugte Torrington in London die Seekriegs-Taktiker, dass mit Beachy Head der Begriff Seemacht und mithin der Begriff England sich völlig neu definieren werde. Während der in Irland ausharrende James schon einen Tag nach Beachy Head am Fluss Boyne von William III. geschlagen wurde, kam Torrington vors Kriegsgericht und stiftete dem künftigen Seekriegswesen seine Idee. Angeklagt, seiner holländischen Vorhut nicht zu Hilfe gekommen zu sein und die Schlacht abgebrochen zu haben, bemühte Torrington Dantes »gran mar dell’ essere«: Seine Worte vor dem Parlament erlangten Unsterblichkeit in der Seekriegsgeschichte: »I said that whilst we had a fleet in being, they would not dare to make an attempt.«11 Gemeint war die Möglichkeit einer Invasion der Franzosen. Solange es eine englische Flotte gäbe, die das Reich des Möglichen kontrolliert, würden es die Franzosen nicht wagen anzugreifen. Nicht auf die geschlagene Seeschlacht (ob verloren oder gewonnen) kommt es an, sondern auf die schiere Möglichkeit, stets und überallhin eine Seeschlacht projizieren zu können. Bei genauerem Bedenken gab man Torrington recht, dass seine Einmischung in den Kampf den Franzosen die Luvseite überlassen hätte, wodurch das Desaster noch wesentlich schlimmer ausgefallen wäre. Torrington war also der erste, der nicht die eigenen Schiffe, sondern den Wind verteidigt hatte, nicht die Akteure auf der Bühne, sondern den aktionsstiftenden Raum, die Bühne selbst. Den Raum des Meeres hatte er gehalten, das aktionsstiftende Sein selbst. Torrington entbarg die Abwesenheit, den leeren Platz, an dem er fehlte, um das Meer als reinen referenzlosen Operationsraum ins Sein zu rufen. Damit hat Torrington den Seekrieg, der morgen weder bevorsteht noch nicht bevorsteht, erklärt. Erst Torrington wird die Seeschlacht (nicht) schlagen, die Aristoteles’ Schein-Beispiel für die Kontingenz im 9. Kapitel von Peri hermeneias war.12 Torringtons Entscheidung, sich nicht zu entscheiden, sondern den Raum zu verteidigen, aus dem heraus jede Entscheidung allererst möglich wird, das ist die Entdeckung von Strategie zur See.

Torrington wurde freigesprochen und sein Wort von der »fleet in being« machte Karriere. Die fleet in being ist die Ausübung eines Zwangs zum Nichthandeln auf die Gegenwart der Feinde des Empires durch die Einführung der Kontingenz einer Seeschlacht in den Möglichkeitshorizont eines jeden Punktes auf den Meeren dieser Erde.

»Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts hatte die fleet in being – eine von Admiral Herbert imaginierte Formel – den Übergang vom Sein zum möglichen Sein (»de l’être à l’étant«) markiert bei der Ausübung von Zwang auf den Gegner. Es ist das Ende des ›navalen Apparates‹ und des Nahkrieges, die Anzahl und die Feuerkraft der Linienschiffe wird zweitrangig. Was wesentlich ist, das ist die Art und Weise, in der man ihre An- und Abwesenheit im maritimen Element verwalten kann. Das angestrebte Ziel ist psychologisch: einen Zustand der permanenten Unsicherheit im Gesamten des behandelten Raumes zu schaffen.«13

Virilio zufolge hat Torrington nicht allein die »vaisseaux-fantômes«, die fliegenden Holländer, erfunden. Mit der Preisgabe des Prinzips, auf dem 1690 die Marineberater von William und Mary noch beharrten, demzufolge man den Feind angreifen muss, sobald man ihn bemerkt, installiert man eine »heimliche Flotte im Meer der virtuellen Präsenz«.14 Für Virilio ist daher Torringtons fleet in being bereits die Vorwegnahme des strategischen Atomunterseeboots. »Die ›fleet in being‹ ist die Logistik, die die Strategie als Kunst der Bewegung nicht sichtbarer Körper absolut vollendet, sie beinhaltet die permanente Präsenz einer unsichtbaren Flotte auf dem Meer, die den Gegner egal wo und wann überraschen kann, indem sie seinen Machtwillen durch die Schaffung einer globalen Zone der Unsicherheit zunichte macht.«15

Dispers werden, unsichtbar werden

Voilà. Das Meer, wie es von Schiffeversenken inszeniert wird, als Zone der Unsicherheit, und die Schiffe, wie sie von Schiffeversenken inszeniert werden, als permanente Präsenz einer unsichtbaren Flotte, haben ihren Ursprung in Torringtons neoaristotelischer Ontologie der Seeschlacht. Maximal realisiert wird diese Ontologie allerdings erst mit Einheiten, über deren Wirksamkeit nicht mehr das Gesetz einer repräsentativen Sichtbarkeit auf dem Seekriegsschauplatz und nicht mehr das Gesetz der Kiellinie entscheidet, sondern das Gesetz der Unsichtbarkeit und der Dispersion. Die Einheiten, die diese Ontologie, die die Ontologie des Seekriegs ist, der im Schiffeversenken-Spiel die Operationen bestimmt, zuerst realisierten, waren Torpedoboote.

Das erste Torpedoboot wurde schon 1873 konstruiert. Der nach unten gebogenen Bug der frühen Torpedoboote, der die Form der späteren U-Boote vorwegnimmt, deutet es an: das Torpedoboot ist ein Schiff, das sich nicht entscheiden kann, ob es über oder unter der Wasseroberfläche fahren soll. Diese neuen Schiffe sprachen nach Meinung vieler Experten das Todesurteil über die Panzerschiffe.

Insbesondere in Frankreich war nach den schlechten Erfahrungen im Krieg gegen Preußen 1870/71 und angesichts des Vorsprungs der englischen Marine, der die Schwäche der französischen Marine deutlich werden ließ, in den Schriften der Marinetheoretiker eine Tradition wieder aufgelebt, die bis ins 18. Jahrhundert zurückgeht: die Tradition des Kaperkrieges. Die Einzelbeiträge dieser Marinetheoretiker fügten sich mosaikartig zu einem neuen Konzept, das der Geschwaderkommandant Hyacinthe Laurent Théophile Aube, der 1886 französischer Marineminister wurde, systematisch zusammenfasste. So entstand um Aube die sogenannte »Jeune École«. Die Marinetheoretiker, die ihr zugerechnet wurden, vertraten die Auffassung, dass das Schlachtschiff keine Zukunft mehr habe, ebenso wenig wie die Strategie der Seeschlacht und der Blockade. Aus ist’s mit der Kiellinie. Aube macht dem Seekrieg à la Hoste ein Ende. Wahrscheinlichkeitslehre verabschiedet im Seekrieg cartesianische Geometrie.

Küstengestützte wie »autonome« hochseegängige Torpedoboote sollten im Meer verteilt werden, »um den immer noch flächenbeherrschenden« Schiffen »in der Tiefe des Raumes zerstreut den Garaus zu machen.«16 Der taktische Vorteil des Torpedoboots ergibt sich zunächst aus einer Asymmetrie der Sichtbarkeit: Groß und hoch waren die Schlachtschiffe für die niedrigen Torpedoboote schon zu sehen, bevor diese selbst sich am Schlachtschiffhorizont abzeichneten, wenn sie sich überhaupt vor einem Horizont abzeichneten, da, wie Torpedoboot-Taktiker darlegten, Torpedoboote grundsätzlich nachts angreifen.

Die zukünftige Flotte sollte Angriffstorpedoboote, Verteidigungstorpedoboote, Kanonenboote, Proviantschiffe, Kreuzer und Hilfskreuzer umfassen. Mit diesen Einheiten werde der Krieg nach den Gesetzen der »nombre«, der »vitesse«, der »faiblesse des dimensions« und »invisibilité« geführt. Die Vielzahl gäbe den Einheiten die Überlegenheit des »Hornissenschwarms«,17 der sich auf sein Opfer stürze, die »vitesse« garantiere ihnen die strategisch vorteilhafte Allgegenwart (»ubiquité«), die »faiblesse des dimensions« gewähre ihnen den besten Schutz, zu früh entdeckt oder versenkt zu werden. Die »Unsichtbarkeit« des Torpedobootes bringt das Meer als Bühnenraum für politische Repräsentationen des Militärischen zum verschwinden. An die Stelle der Linie tritt der Schwarm.

Daher schreibt sich also die Nacht, die sich über die Schiffe in Schiffeversenken gesenkt hat. Im Grunde sind alle Schiffe, die sich in den gerasterten Oberflächen von Schiffeversenken verstecken, Torpedoboote (oder Unterseeboote). Auch ein Flugzeugträger versucht sich unter den herrschenden Bedingungen zu verhalten wie ein Torpedoboot. Die Rationalität der Dislozierung von Schiffseinheiten im Meer, wie sie Schiffeversenken diktiert, ist die Rationalität der Torpedoboottaktik, wie ein Seekriegstaktiker 1912 ausführt: »The probabilities that the torpedo-boats will be hit before arriving at launching distance increase with the compactness of the order of attack; since, when the torpedo-boats are very close together, they constitute a single, extended target, easily visible; and, vice versa, they diminish with the increase in the dispersion of the torpedo-boats in the direction normal to the line of fire.«18

Entsprechend tauchen die Fragen, die sich ein jeder stellt, der Schiffeversenken spielt, historisch genau in dem Moment auf, in dem es darum geht, dispers in der Tiefe des Raumes verteilte kleine Einheiten zu bekämpfen. »The question is frequently asked, should dispersion [of firing] be increased or decreased to increase the hitting?«19 Das Ergebnis von sowohl mathematischen Berechnungen als auch von praktischen Erprobungen der US Navy lautete im Jahre 1912: Auf verstreute Ziele muss man auch verstreut schießen. »We should then be confronted with the fact that having eliminated all dispersion the hitting could actually be increased by introducing dispersion.« Rear Admiral Bradley Fiske, US Navy, zog daraus den Schluss, dass sich in diesen Fällen eine zu genaue Feuerleitung und eine zu große Geschicklichkeit beim Zielen negativ auswirken. »If the fire-control and the skill of the gunners are so great that the shots fall very close together, the chance of hitting the target is less than if the shots did not fall close together, if the range at which the guns are fired is incorrect.«20 Fiske plädierte übrigens auch vehement für den Einsatz von »game-boards« zum Zwecke des Studiums von Taktik und Strategie des Seekriegs. Spätestens ab 1916 spielen also Marineoffiziere Schiffeversenken aus professionellen Gründen.

Man könnte so die Seekriegsgeschichte präsentieren als eine große Erzählung, die in den state of the art einmündet, der von Schiffeversenken repräsentiert wird. Schwimmende politische Topiken, die im mikrokosmischen Format den Makrokosmos der Polis nach- oder vorbilden sollten, werden zu unscharfen Mannigfaltigkeiten, deren Objekthaftigkeit und Sichtbarkeit abhängt vom Dispersionsgrad ihrer Elemente, deren Versenkbarkeit damit eine Funktion statistisch zu kalkulierender Ereigniswahrscheinlichkeiten wird. Schiffeversenken macht eine Taktik erforderlich, die man mit einem Begriff des »War against Terror« als »low-density form of warfare« bezeichnen kann. Jede erkennbare Formation ist bei dieser Art von Krieg von Nachteil, das weiß schon jeder Schulbub, der unterm Pult Schiffeversenken spielt. Eine Formation der Schiffe im Pulk wie sie die spanische Armada 1588 zeigte ist taktisch ebenso unklug wie die berühmte Formation der Schiffe in einer Kiellinie oder eine andere Art der »compactness of the order of attack«. Der Krieg muss eins werden mit seinem Medium, die Flottille eins werden mit dem Rauschen des Meeres und dem Rauschen der Bildschirme.

1. Zu Salamis und der Triere als »Hochtechnologiewaffe der Antike« vgl. Wolfgang Pircher: »Die Haut des Kriegers«, in: Ursula Renner, Manfred Schneider (Hg.): Häutung. Kulturwissenschaftliche Lesarten des Marsyas-Mythos, München 2006, S. 47–71.

2. »Commonwealth Orders, 1653«, in: Fighting Instructions, 1530–1816, hg. v. Julian S. Corbett (Publications of the Navy Records Society, vol. XXIX), London 1905, S. 100.

3. Vgl. Alfred Thayer Mahan: Der Einfluss der Seemacht auf die Geschichte, Berlin 2. Aufl. 1898 (Reprint Kassel 1974), Bd. 1, S. 108.

4. Vgl. Elmar Potter, Chester W. Nimitz und Jürgen Rohwer (Hg.): Seemacht. Eine Seekriegsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Herrsching 1982, S. 40f.

5. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter. Frankfurt/M., 3. Aufl. 1979, S. 210. Ich habe »Menschen« in Foucaults Text durch »Schiffe« ersetzt.

6. Michael A. Palmer: Command at Sea. Naval Command and Control since the Sixteenth Century, Cambridge, Mass.-London 2005, S. 212.

7. Paul Hoste: L’Art des armées navales ou Traité des évolutions navales, Lyon 1697, S. 409 (meine Übersetzung).

8. Vgl. Mahan: Der Einfluß der Seemacht auf die Geschichte, a.a.O., S. 177.

9. Vgl. ebd., S. 179.

10. Peter Padfield: Maritime Supremacy and the Opening of the Western Mind, Woodstock, NY-New York, NY 1999, S. 137.

11. Arthur Herbert, Earl of Torrington: The Earl of Torrington’s Speech to the House of Commons, in November 1690, London 1716, S. 29.

12. Vgl. Aristoteles, Peri hermeneias (Lehre vom Satz), 18 b: »Man kann aber auch nicht behaupten, dass keins von beidem wahr ist, dass nämlich etwas sein kann, was weder sein noch nicht sein wird … Und … etwas wird, wenn es morgen sein wird, morgen sein. Wenn es aber morgen weder sein noch nicht sein wird, so gäbe es kein Zufälliges, z.B. keine Seeschlacht. Denn es müßte dann morgen eine Seeschlacht weder bevorstehen noch nicht bevorstehen.«

13. Paul Virilio: L’insécurité du territoire, Paris 2. Aufl. 1993, S. 28 (meine Übersetzung).

14. Paul Virilio: »Strategien der Enttäuschung«, in: Ars Electronica (Hg.): Welcome to the wired world. Mythos Information, Katalog 1995.

15. Paul Virilio: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, übers. von Ronald Voullié, Berlin 1980, S. 52.

16. Bojan Budisavljevic: »D’Annunzios Torpedowesen. Instrumente der Vorsehung und Geschicke des Meeres im Seekrieg um Fiume herum«, in: Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, hg. v. H. U. Gumbrecht, F. Kittler, B. Siegert, München 1996, S. 227–259, hier: S. 237.

17. Aube, zit. nach Volkmar Bueb, Die »Junge Schule« der französischen Marine. Strategie und Politik 1875–1900, Boppard 1971, S. 21.

18. Romeo Bernotti: »The Fundamentals of Naval Tactics. Translated by Lieutenant H. P. McIntosh«, in: Proceedings of the United States Naval Institute 38, 1912, No. 142, S. 682.

19. B. A. Long: »Dispersion and Accuracy of Fire«, in: Proceedings of the United States Naval Institute 38, 1912, No. 144, S. 1603.

20. Bradley A. Fiske: The Navy as a Fighting Machine, New York 1916, Kap. VIII.

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Bernhard Siegert

Bernhard Siegert

ist Gerd Bucerius Stiftungsprofessor für »Geschichte und Theorie der Kulturtechniken« an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar und seit 2008 Direktor des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar. Er forscht zum Komplex Ort ohne Ort: Das Schiff, zu Exzessiver Mimesis, High Fidelity und Mimikry, zur Kultur- und Mediengeschichte graphischer Operationen (Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen), zu den Medien des Heiligen und zu den Medien der Architektur (Fenster, Türen, Schleusen, Korridore).

Weitere Texte von Bernhard Siegert bei DIAPHANES
Peter Berz (Hg.), Marianne Kubaczek (Hg.), ...: Spielregeln. 25 Aufstellungen

Spielregeln eröffnen ein Feld, in dem das Denken des Konkreten mit dem des Abstrakten immer schon konvergiert. Sie geben Urszenen einer kultur- und medienwissenschaftlich erweiterten Philosophie zu denken. Das hier vorliegende Buch versammelt fünfundzwanzig Spielregeln um das Werk eines Wissenschaftlers, der wie kaum ein anderer dem Denken des Konkreten als Allgemeines verpflichtet ist.

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