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Thomas Brandstetter: Außerirdische entwerfen
Außerirdische entwerfen
(S. 123 – 129)

Astrobiologie als zweifach paradoxe Wissenschaft

Thomas Brandstetter

Außerirdische entwerfen

PDF, 7 Seiten


Die Akteure. Ein Himmelskörper, dessen Beschaffenheit entweder bekannt ist (hierzu bediene man sich astronomischer Erkenntnisse) oder dessen Beschaffenheit man extrapoliere. Ein (möglichst einfacher) Organismus nach Wahl.

Die Grundregeln. Hierzu bediene man sich einer Theorie, die die Veränderung von Lebewesen in der Zeit erklärt. Achtung: Bislang konnte man sich auf kein verbindliches Regelwerke einigen! (Am gebräuchlichsten sind jedoch jene von Charles Darwin und Jean-Baptiste de Lamarck).

Der Spielablauf. Man wende die aus dem betreffenden Regelwerk gewonnenen Prinzipien auf die aufeinander folgenden Generationen des gewählten Organismus an. Die Generationenabfolge ergibt nun die Entwicklungsgeschichte eines möglichen Lebewesens. Diese Geschichte veröffentliche man entweder in einer wissenschaftlichen Zeitschrift (unter Angabe der Spielregeln) oder als Science fiction (unter Beifügung einer Handlung).


Die kopernikanische Revolution hat die Erde vom Mittelpunkt des Kosmos zu einem Trabanten der Sonne gemacht. Damit hat sie auch den Status der anderen Planeten verändert: diese wurden nun nicht mehr als vollkommene, aus einem »fünften Element« bestehende Körper vorgestellt, sondern als erdähnlich. Infolgedessen stand auch die Frage nach ihrer Bewohnbarkeit im Raum. Bereits Johannes Kepler stellte Spekulationen über die Bewohner des Mondes an, und seit dem Ende des 17. Jahrhunderts waren Außerirdische ein fester Bestandteil kosmologischer Überlegungen. Zwar finden sich bereits in der Literatur der Antike Mondbewohner, etwa in Lukians Wahrer Geschichte. Doch dienten solche Mondreisen der satirischen Betrachtung der menschlichen Gesellschaft, der in Gestalt fremder Wesen ein Spiegelbild vorgehalten werden sollte. Das Besondere an den Außerirdischen der Neuzeit war, dass sie ein Produkt der Wissenschaft, nicht der Literatur darstellten (auch wenn man die Bedeutung der satirischen Tradition nicht unterschätzen sollte). Das heißt, dass die Phantasie den Regeln der Plausibilität unterworfen wurde: während bei Lukian die spielerische Lust an der Kombination von Merkmalen vorherrschte und sein Mond unter anderem dreiköpfige Geier beherbergte, entwarf Kepler seine Mondbewohner nach den Maßgaben dessen, was er über den Mond wusste (bzw. zu wissen glaubte). Da der Mond seiner Meinung nach von großen Temperaturunterschieden beherrscht wurde, mussten die Körper und das Verhalten seiner Bewohner darauf abgestimmt sein: ihre Gestalt war deshalb schlangenförmig, ihre Haut dick, und bei extremer Hitze und Kälte zogen sie sich in Höhlen zurück.1

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren solche Plausibilitätsregeln jedoch eher lose, und die Astronomen hielten sich mit allzu detaillierten Spekulationen über die konkrete Gestalt von Außerirdischen zurück. Sie beschränken sich meist darauf, die Möglichkeit, ja sogar die Wahrscheinlichkeit von extraterrestrischem Leben aufgrund der Erdähnlichkeit der anderen Planeten zu konstatieren; selten gingen sie jedoch wie Kepler bei der Beschreibung von dessen Gestalt ins Detail.

Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch erschienen mit der Darwin’schen Evolutionstheorie neue Plausibilitätsregeln, die es erlaubten, kontrollierte Gedankenexperimente über die Gestalt außerirdischer Lebewesen anzustellen. Darwin ging von der These aus, dass sich die Arten im Laufe der Zeit verändern können und dass diese Veränderungen bestimmten Gesetzen folgen: nämlich der Variation (die Nachkommen eines Lebewesens sind nicht alle gleich, sondern weisen geringfügige Differenzen auf), dem Konkurrenzdruck (die verschiedenen Exemplare einer Art wetteifern um Lebensraum und Ressourcen, die sie zum Überleben benötigen) und der Selektion (auf Dauer werden sich nur jene Exemplare fortpflanzen können, welche die für eine bestimmte Situation am besten geeigneten Eigenschaften aufweisen). Mittels dieser Gesetze konnte man versuchen, die Art und Weise der Entstehung rezenter Arten aus Ausgestorbenen zu ermitteln, also genealogische Stammbäume zu entwerfen. Neben einer solchen historischen Rekonstruktion bot sich jedoch auch die Anwendung dieser Gesetze auf Gedankenexperimente über die mögliche zukünftige Entwicklung von rezenten Arten an. Bereits bei Darwin findet man gelegentlich solche Spekulation, etwa über die Möglichkeit, dass sich die durch Membrane verbundenen Finger des Galeopithecus, eines fliegenden Lemurs, durch natürliche Selektion verlängern und ihn damit in eine Art Fledermaus verwandeln könnten oder dass sich fliegende Fische eines Tages in geflügelte Tiere transformieren könnten. Das meiste Aufsehen erregte aber seine Extrapolation über eine mögliche zukünftige Entwicklung des nordamerikanischen Schwarzbären: da dieser dabei beobachtet wurde, beim Schwimmen mit dem Maul Insekten zu fangen, könne man sich, so Darwin, vorstellen, dass sich sein Körperbau durch natürliche Selektion immer mehr an das Leben im Wasser und, durch Vergrößerung des Mauls, an das Fressen von Insekten anpassen werde, bis schließlich eine Kreatur entstünde, die »so monströs wie ein Wal« wäre.2

Es ist kein Wunder, dass diese Spekulation vielen Zeitgenossen zu weit ging. Die Evolutionstheorie war ja selbst noch höchst umstritten, und die Vorstellung, dass sich ein Bär in einen Wal verwandeln könnte, war für die Kritiker ein Beweis für die Lächerlichkeit der ganzen Theorie. Zahlreiche Rezensenten machten sich darüber lustig, was Darwin dazu brachte, diese Passage in der zweiten Auflage seines Buches zu streichen.


Was an dieser Stelle aber deutlich sichtbar wird, ist das imaginative Potential der Evolutionstheorie. Als Theorie, die Parameter für gesetzmäßige Veränderungen von Lebewesen vorgab, erlaubte sie eine »Biologie des Möglichen«: die Durchführung kontrollierter Gedankenexperimente über die Entstehung und Veränderung möglicher Formen von Lebewesen unter bestimmten angenommenen Bedingungen. Wichtig ist, dass solche Gedankenexperimente narrativ strukturiert waren. Sie erzählten eine Geschichte, eine zeitliche Abfolge von Ereignissen, in der konkrete Ursachen mit konkreten Wirkungen verbunden waren. Ein gewisser Grad an Detailreichtum war unabkömmlich: es reichte nicht aus, einfach zu sagen, dass sich Lebewesen nach diesen und jenen Gesetzen ineinander verwandeln würden. Vielmehr musste man beschreiben, welche Mechanismen unter welchen Umständen auf welche Teile wirkten, um die Konsequenzen dieser allgemeinen Gesetze für spezifische natürliche Phänomene aufzuzeigen. Wie der Fall des Bären zeigt, konnte dieser Detailreichtum jedoch zu weit gehen. Dann bestand die Gefahr, dass die Verwandlungsszene nicht mehr als wissenschaftliches Gedankenexperiment, sondern alleine als literarische Fiktion wahrgenommen wurde.

Um den prekären Status der Evolutionstheorie als seriöser wissenschaftlicher Theorie nicht zu gefährden, hielten sich die Biologen des 19. Jahrhunderts mit Spekulationen über mögliche zukünftige Entwicklungen von Lebewesen zurück und konzentrierten sich vor allem auf die Rekonstruktion historischer Stammbäume. Die Aufgabe, das imaginative Potential der neuen Theorie auszuschöpfen, blieb damit den Künstlern und Literaten überlassen. Zahlreiche Karikaturen spielten bereits kurz nach Erscheinen von Darwins Hauptwerk mit dem Motiv des sukzessiven Formwandels, und der britische Autor Charles Kingsley veröffentlichte 1863 das Kinderbuch The Water-Babies, das eine Reihe phantastischer Gestalten und Transformationen vorstellte.3 Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts war die Evolutionstheorie ein fester Bestandteil des künstlerischen Repertoires.

Mit der Entstehung der scientific romance, der romanhaften Bearbeitung wissenschaftlicher Themen und Theorien, traten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch nach evolutionstheoretischen Regeln geschaffene Außerirdische in die Literatur. Am einflussreichsten war wohl der Brite H. G. Wells, der in seiner Jugend stark vom Darwin-Anhänger Thomas H. Huxley beeinflusst war und der sich seit den 1890er Jahren in Kurzgeschichten mit dem Ausdenken fremdartiger Lebensformen beschäftigt hatte. Die Außerirdischen, die schließlich in seinem 1897 erschienen Roman War of the Worlds vom Mars aus die Erde angriffen, können als paradigmatische Anwendungen der Methode des evolutionstheoretischen Gedankenexperiments im Bereich der phantastischen Literatur gelten. Bereits der Grund der Marsbewohner, ihren Planeten zu verlassen, gehört in den Rahmen dieser Theorie: Denn ausgehend von der kosmologischen Anwendung der Evolutionstheorie, wie sie im 19. Jahrhundert vorgebracht wurde, ging Wells davon aus, dass der Mars älter als die Erde und damit bereits erkaltet wäre, was seine Bewohner zwang, neue Ressourcen am nächstgelegenen jüngeren Planeten zu suchen. Die Außerirdischen selbst wurden vom Autor ebenfalls nach den Plausibilitätsregeln der Evolutionstheorie entworfen: ihre reduzierte Anatomie, die von einem übergroßen Gehirn und Tentakeln bestimmt war, war der Ausdruck einer grausamen Effizienz im Kampf ums Dasein. Und die Schlusspointe, nach der die Invasoren durch gewöhnliche, für den Menschen harmlose irdische Krankheiten hinweggerafft werden, verdankt sich ebenfalls der Anwendung des Prinzips der Anpassung an die Umwelt und des Überlebens des Stärkeren.

Nicht alle Autoren, die sich eines evolutionstheoretischen Rahmens bedienten, vertraten eine so düstere Sicht der Entwicklung. Der Deutsche Kurd Laßwitz, ein weiterer Begründer der Science fiction, beschrieb in seinem ebenfalls 1897 erschienen Roman Auf zwei Planeten freundliche und weise Marsbewohner, deren delikate Gliedmaßen und feinziselierte Gesichtszüge das Ergebnis einer natürlichen wie zivilisatorischen Höherentwicklung darstellten.

Bemerkenswert ist, dass die frühe Science fiction, die sich mit Außerirdischen beschäftigte, nicht nur Themen und Erkenntnisse aus den zeitgenössischen Naturwissenschaften übernahm. Vielmehr übernahm sie ein Verfahren, nämlich jenes des evolutionsbiologischen Gedankenexperiments, das selbst bereits eine starke narrative Dimension besaß. Dieses Verfahren erlaubte es, Außerirdische zu entwerfen, um die herum man dann eine Geschichte gestalten konnte. Freilich bedienten sich viele Autoren, für die eine abenteuerliche Geschichte wichtiger war als biologische Plausibilität, eher lose bei den Vorgaben der Evolutionstheorie. Aber selbst der kalte, unwirtliche Mars und die junge, von üppiger Vegetation bedeckte Venus der planetary romances von Edgar Rice Burroughs zeigen den Einfluss dieser Theorie. Es gab aber auch Autoren, die den Aspekt des Gedankenexperiments mehr in den Vordergrund rückten. Dazu zählen neben Wells und Laßwitz etwa der Astronom Camille Flammarion. Stark von Darwin beeinflusst, betonte er bereits in seiner 1862 erschienenen Abhandlung La Pluralité des mondes habités die Gültigkeit der Evolutionstheorie auch für andere Himmelskörper als die Erde. Leben konnte für ihn überall durch Zufall entstehen und sich dann nach den Gesetzen der natürlichen Auslese und der Anpassung an die Umwelt entwickeln. Folgten diese Überlegungen auch stilistisch noch den Gepflogenheiten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Möglichkeiten außerirdischen Lebens, so gab er sich in seinen späteren Publikationen zunehmend der Fabulierlust hin. In Recits de l’infini (1872) versammelte er drei Erzählungen, die von den kosmischen Reisen eines Geistes handelten, der sich auf verschiedenen Planeten in den dort durch Evolution entstandenen Lebewesen inkarnierte.

Das Beispiel von Flammarion und die Tatsache, dass Wissenschaftler noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie etwa die Astronomen Fred Hoyle und Carl Sagan, gelegentlich Science fiction-Romane verfassten, weisen bereits darauf hin, dass die Übergänge zwischen Literatur und Wissenschaft in diesem Bereich fließend sein konnten. Ob eine Spekulation als wissenschaftlich oder als literarisch wahrgenommen wurde, hing auch davon ab, wie weit man die Spekulationen trieb, wie detailliert man die Eigenschaften der Außerirdischen ausmalte und welches Gewicht man der erzählerischen Dimension verlieh. Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, dass der Transfer nicht einseitig von der Wissenschaft zur Literatur verlief. Mit der Herausbildung der Astrobiologie, der Wissenschaft vom außerirdischen Leben, als wissenschaftlicher Disziplin im Gefolge der US-amerikanischen Raumfahrtmissionen der 1960er und 1970er Jahre erlangte das evolutionstheoretische Gedankenexperiment einen neuen Stellenwert innerhalb der wissenschaftlichen Praxis selbst.4 1976 etwa veröffentlichten Carl Sagan und der Physiker Edwin Salpeter eine Beschreibung von Lebewesen, die auf dem Planeten Jupiter existieren könnten. Dieser Text erschien aber nicht in einem Sciencefiction-Heftchen, sondern in einer astrophysikalischen Fachzeitschrift. Aus Daten über die Atmosphäre des Jupiters, Formeln zur Berechnung der Aerodynamik und Annahmen über das Verhalten von Molekülen konstruierten sie quallenartige Organismen, die in den dichten Wolken des Planeten entstehen und existieren könnten.5 Sagan beauftragte schließlich einen Künstler damit, Bilder dieser Lebewesen zu malen, die er dann in seiner Fernsehserie Cosmos präsentierte.

Durch eine detaillierte Untersuchung dieses Falles ließe sich zeigen, auf welche Weise bei der Durchführung des Gedankenexperiments verschiedene heterogene Daten und Verfahren zusammengeführt wurden. Gedankenexperimente sind nämlich weder Algorithmen noch logische Folgerungen, die einem Ideal deduktiver Ableitung gehorchen würden. Ihre Anwendung erfordert die Verknüpfung von Theorien, empirischen Daten, mathematischen Formalismen und anderen Elementen zu einem Narrativ, das Implikationen der Aussagen plausibel erscheinen lässt – wobei das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt plausibel erscheint, von den geteilten Überzeugungen der Rezipienten dieses Narrativs abhängt.

Gedankenexperimente wie das von Sagan und Salpeter dienen dem Ausloten von Möglichkeitsräumen. Damit können sie zunächst einmal helfen, die empirische Forschung anzuleiten. Sagan etwa schlug vor, die Voyager-Sonden bei ihrem Vorbeiflug am Jupiter nach den von ihm erdachten Wesen Ausschau halten zu lassen. Auch die Marsmissionen der NASA wurden durch Gedankenexperimente vorbereitet: schließlich konnte man nur eine begrenzte Anzahl von Instrumenten und Experimenten mitführen, und es schien sinnvoll, solche zu haben, die nach den wahrscheinlichsten Lebensformen suchen würden.

Gedankenexperimente über außerirdisches Leben können aber auch dazu dienen, die Prämissen und Konsequenzen der biologischen Theorien selbst zu erproben. In der Auseinandersetzung zwischen den Evolutionsbiologen Steven Jay Gould und Simon Conway Morris etwa war die Figur des Außerirdischen zentral, als es um die Rolle der Konvergenz in der Evolution ging: sollte man annehmen, dass die Evolution völlig kontingent verlief, d.h. dass kleinste Entscheidungen riesige und irreduzible Auswirkungen haben, oder gibt es limitierende Faktoren, die dazu beitragen, dass sich auch unter sehr verschiedenen Umständen nur eine endliche Anzahl möglicher Lösungen durchsetzen würden? Nimmt man Ersteres an, gelangt man dazu, die Fremdartigkeit möglichen außerirdischen Lebens zu betonen, während die zweite Position von ihrer prinzipiellen Ähnlichkeit zu irdischen Lebensformen überzeugt ist.6 Auch hier zeigt sich wieder die enge Verschränkung zwischen wissenschaftlicher Praxis und fiktionalen Verfahren: nicht nur haben beide Autoren konkrete Beispiele für mögliche außerirdische Lebensformen angeführt (Gould etwa »klumpenartige, bänderartige oder kugelige Gebilde voll pulsierender Energie«7), einer von ihnen, Conway Morris, war auch wissenschaftlicher Berater der BBC-Produktionen Aurelia und Blue moon. Diese beiden Filme, die 2005 erstmals ausgestrahlt wurden, können als beispielhafte Inszenierungen des imaginativen Potentials der Astrobiologie gelten, insofern hier kontrollierte, auf bekannte Tatsachen und Theorien beruhende Gedankenexperimente mit den illusionistischen Verfahren moderner Computergrafik zu einem phantastischen Porträt der Ökologie zweier fremder Welten vereint wurden.

Mit diesen skizzenhaften Ausführungen sollte gezeigt werden, dass sich das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft nicht auf die Übernahme bestimmter wissenschaftlicher Themen oder Motive in den Bereich künstlerischer Darstellung, sei es Literatur, Malerei oder Film, beschränkt. Vielmehr sind es oft die wissenschaftlichen Verfahren selbst, die Eingang in die künstlerische Praxis finden. Ein solches Verfahren ist das evolutionsbiologische Gedankenexperiment, das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu beitrug, die Regeln einer literarischen Gattung namens Science fiction zu etablieren.

Die Betrachtung von Spekulationen über Außerirdische hat außerdem gezeigt, dass die Beziehungen zwischen den Bereichen Wissenschaft und Kunst reziprok sind. Zu behaupten, dass die Wissenschaft ihr imaginatives Potential an die Literatur auslagere, hieße zu verkennen, wie sehr etwa die Astrobiologie selbst imaginative Verfahren benötigt, um ihren Gegenstand allererst zu konstituieren. Denn die Astrobiologie ist eine zweifach paradoxe Wissenschaft. Erstens existiert ihr Gegenstand (zumindest bislang) nur im Modus des Möglichen. Ihre gesamte Existenzberechtigung beruht auf – mehr oder weniger plausiblen – Fiktionen. Zweitens muss sie ihren Möglichkeitsraum stets offen halten und einer Revision unterziehen: denn jede voreilige Definition von außerirdischem Leben produziert blinde Flecken und läuft Gefahr, ein solches Leben gar nicht wahrzunehmen, wenn es aus dem paradigmatischen Rahmen der Wissenschaft fällt. Die Wissenschaft vom Außerirdischen kann, als Wissenschaft vom irreduzibel Fremden, damit nur eine Wissenschaft der Gedankenexperimente sein. Das Konstruieren von Gedankenexperimenten aber impliziert stets literarische und künstlerische Verfahren und erfordert damit eine Fertigkeit des Imaginierens und Erzählens.

1. Johannes Kepler: Der Traum, oder: Mond-Astronomie, Berlin 2011.

2. Charles Darwin: The Origin of Species, London 1985, S. 215.

3. S. dazu Julia Voss: Darwins Jim Knopf, Frankfurt/Main 2009, S. 33–57.

4. S. dazu Steven J. Dick und James E. Strick: The Living Universe. NASA and the Development of Astrobiology, New Brunswick, New Jersey, London 2005.

5. Carl Sagan und Edwin Salpeter: »Particles, Environments and Possible Ecologies in the Jovian Atmosphere«, in: Astrophysical Journal, Supplement Series 32 (1976), S. 737–755.

6. S. dazu Thomas Brandstetter: »Alien Life: Remarks on the Exobiological Perspective in Recent Terrestrial Biology«, in: Kai-Uwe Schrogl u.a. (Hg.): Humans in Outer Space – Interdisciplinary Perspectives, Wien, New York 2011, S. 146–155.

7. Stephen Jay Gould: »SETI und die Weisheit von Casey Stengel«, in: Ders.: Das Lächeln des Flamingos. Betrachtungen zur Naturgeschichte, Basel 1989, S. 322–331, hier S. 325.

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Thomas Brandstetter

studierte Philosophie an der Universität Wien und Kunsttheorie an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien. Er war Junior Fellow am Internationalen Zentrum Kulturwissenschaften in Wien (2002–2003) und DOC Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (2004–2005). Er machte Forschungsaufenthalte in Cambridge (Visiting Student) und Paris und promovierte 2006 im Fach Kulturwissenschaft an der Bauhaus Universität Weimar, war Postdoc am Graduiertenkolleg »Codierung von Gewalt« im medialen Wandel, HU Berlin (2006), und Universitätsassistent am Lehrstuhl für Epistemologie und Philosophie Digitaler Medien des Instituts für Philosophie der Universität Wien. Thomas Brandstetter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei eikones – NFS Bildkritik.

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