Ein Labyrinth ohne Anfang und Ende
Aus: Soll und Haben. Fernsehgespräche, S. 309 – 320
Unterirdische Gangbauten des Denkens:
das nennen Gilles Deleuze und Félix Guattari ein RHIZOM /
Es geht um einen Schlüsselbegriff der modernen
Philosophie / Er testet die Intelligenz im Finden
unerwarteter Anfänge
Kluge: Was ist ein Rhizom?
Vogl: Zunächst ist ein Rhizom ein Labyrinth, ein unterirdischer Gangbau, der sich durch ein paar Elemente auszeichnet, die ihn von der abendländischen Geschichte des Labyrinths unterscheiden. Es ist ein Labyrinth ohne Anfang und Ende. Wenn es ein Labyrinth ohne Anfang und Ende ist, dann ist es zugleich ein Labyrinth ohne Ariadnefaden, also ohne Zentrum und Peripherie. Und dazu kommt ein drittes Merkmal, das ganz entscheidend ist für ein Rhizom: Es ist ein Gangbau, dessen Metrik, dessen metrische Ordnung so verwirrt ist, dass unklar ist, wie man von einem Element oder Ort des Labyrinths zu einem anderen kommen kann. Es ist ein System von Abkürzungen und Umwegen und kennt keinen geraden oder direkten oder richtigen Weg. Diese drei Elemente: ohne Anfang und Ende; ohne Ariadnefaden, also ohne Zentrum und Peripherie; und schließlich ein Gangsystem, das nur aus Abkürzungen und Umwegen besteht, würden ein Rhizom auszeichnen, welches deswegen der Ort für die unvorhergesehene Begegnung ist.
Kluge: Dies wäre dann für die Navigation in der Moderne nach Guattari und Deleuze sozusagen die Herausforderung.
Vogl: Genau. Das ist der Navigationsauftrag, und damit auch das Problem, das man durchaus ein modernes Problem nennen kann, nämlich in einem System von Kontingenzen, von kontingenten Ereignissen …
Kluge: Was ist kontingent?
Vogl: Kontingenz, kontingente Ereignisse, zufällige Ereignisse in diesem Sinne sind Ereignisse, die weder unmöglich noch notwendig sind und die – unvorsichtig gesagt – mit einer verminderten Kausalität geschehen. Ein kontingentes Ereignis geschieht, aber es ist nicht klar, wie man die Kausalität, wie man sich den Grund dieses Ereignisses zurecht legen soll. Das würde ich kontingent nennen.
Kluge: Haben Sie ein Beispiel?
Vogl: Ein Allerweltsbeispiel ist der Verkehrsunfall. Man stelle sich vor: hier eine Straße, dort eine Eisenbahnlinie, eine Ampel fällt aus, die Birne ist kaputt, und zwei Fahrzeuge stoßen auf der Kreuzung zusammen. Es gibt wenig zwingende Gründe, es hätte hundertfach verhindert, vermieden werden können, es musste nicht geschehen …
Kluge: Jeder einzelne Punkt in den Kausalketten hätte anders sein können, dann hätte der Unfall verhindert werden können. Aber dass die einzelnen Faktoren miteinander Beziehungen hätten, dass sie verwandt wären, dass sie von irgendjemandem geplant sein könnten, das ist nicht der Fall.
Vogl: Genau. Es gibt keine scharfe, keine direkte, keine notwendige Kausalität, die an dieses Ereignis heran führt. Die...
Abonnieren Sie
diaphanes
als
Magazin
und lesen Sie weiter
in diesem und weiteren 1390 Artikeln online
Sind Sie bereits Abonnent?
Dann melden Sie sich hier an:
ist promovierter Rechtsanwalt, Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller und Drehbuchautor. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er für sein umfangreiches literarisches Werk 2003 den Georg-Büchner-Peis, für seine Kinofilme und Fernsehproduktionen 2008 den Ehrenpreis der Deutschen Filmakademie; sein Lebenswerk wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt. Seit 1988 produziert Alexander Kluge unabhängige Kulturmagazine im deutschen Privatfernsehen: »›Fernsehen der Autoren‹ in homöopathischer Dosis«.
ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).