Im Verhältnis zwischen dem Interpreten und dem von ihm gelesenen Text gibt es Analogien zum Verhältnis zwischen dem Psychoanalytiker und dem Analysanden. Zur Vorstellung des aufrechten Interpreten gehört diejenige der Kontrolle und der Dominanz, zu derjenigen des »vor uns liegenden Buches« die Passivität und das Geheimnis. Durch die Erinnerung an ein Gespräch mit Peter von Matt verfolgt der Autor die Frage, wie der Interpret, der das Geheimnis knacken will, es zugleich bewahren, und sich dabei verlieren kann.
»Die Promenade des Schizophrenen: das ist ein besseres Modell als der Neurotiker, der auf der Couch kuschelt.«
Deleuze/Guattari
Da sitzt er also, der Literaturkritiker, den Stift in der Hand, um den Kopf die Rauchschwaden der frei schwebenden Aufmerksamkeit, und notiert, was ihm am Text, am »Fall«, der vor ihm liegt, auffällt. Er sitzt da wie der Psychoanalytiker, aufrecht, in der Position der Macht, nach oben ausgerichtet, wo einst die Sonne, das Gute und die Vernunft prangten. Vor ihm liegt, horizontal hingestreckt und ausgeliefert, der Patient. Der Text.
Diesen rechten Winkel der Deutung hat Peter von Matt in seinem Buch »Öffentliche Verehrung der Luftgeister« hinterfragt und ausgeleuchtet. Denn gerade diese aufrechte und aufrichtige Haltung erwartet jeder Leser von Literaturkritik. Es ist der rechte Winkel der geometrischen Vernunft, die sich die Welt der Objekte seit Descartes untertan macht, aber der sich der Mensch als neuzeitliches »sub-jektum« eben auch selbst »unter-worfen« hat. Und so bleibt uns nur noch eins – die Objekte, also die Bücher, nach den Regeln dieser Vernunft brav und gehorsam zu ordnen: Die Maßstäbe der kritischen Vernunft, die Winkel des Wissens nach außen zu projizieren und mit ihnen die Welt der Objekte und die Texte zu vermessen. Von Matt aber rät uns, auf das Rätsel der Literatur mit Rätseln zu antworten – wenn ich ihm folge, werde ich mir selbst zum Rätsel.
Kusch, Autor, Kusch!
Der Autor kuschelt sich wie der Neurotiker auf der Couch und kuscht, zeigt von Matt. Husch, husch ins Körbchen, sagt der Analytiker zu den Neurosen und der Neurotiker nickt und nickt. Husch, husch ins Wörtchen, sagt der Kritiker, und der Autor kuscht.
Und das Publikum? Es klatscht. Der Dressurakt ist gelungen. Der Autor liefert dem Leser, was ihm der Kritiker vorschreibt, und der Leser liest das, was ihm der Kritiker verschreibt. Das Lesen als Strafkolonie.
Dabei aber, und das ist die alte Falle der Dialektik, kuscht der Kritiker selbst. Er kuscht vor sich selbst, vor jenem Selbst, dessen Rolle er brav ausführt, und vergisst, dass das Lesen letztlich eine Suche nach einem anderen Ich wäre. Nach einem Ich, das sich allen Zuschreibungen entzieht.
Das Ich wird zum Anderen so, wie in den Übersetzungen die eigene Sprache sich ins Fremdartige weitet. Es ist genauso wenig die Aufgabe des Kritikers wie des Übersetzers, den fremden Text den Lesern so zu übersetzen, dass alles klar ist, dass aller Widerstand gebrochen ist. Die »gute« Lesbarkeit einer Übersetzung im Deutschen ist gerade keine Gewähr, dass hier...