Ein Schriftsteller, der ab und zu in der Zeitung einen Aufsatz publiziert, wird von seinen Auftraggebern zunehmend auf die (mangelnde) Verständlichkeit seiner Texte verwiesen und dabei in einschneidender Weise mit dem realen Phantom des »durchschnittlichen Zeitungslesers« konfrontiert. Immer dringlicher stellen sich ihm Fragen nach der Zumutbarkeit seiner künstlerischen Ambition, nach Verhältnissen der Wildheit und Zähmung im Kulturbetrieb sowie nach den Lichtverhältnissen in den Köpfen aller Beteiligten.
Wer als Schriftsteller in der erfreulichen Lage ist, dann und wann für eine der konzerngestützten auflagestarken Zeitungen zu schreiben, dem begegnet als Gegenspieler seiner künstlerischen Freiheit wiederholt das Phantom des durchschnittlichen Zeitungslesers. Diese archetypische Figur taucht weniger in persona als symbolisch auf. Von der Redaktion wird sie als statistische Größe ins Feld geführt, um dem Schriftsteller klarzumachen, dass seine Schreibweise elitär, also mehrheitsunfähig und damit nicht konzerndienlich sei. Der Standardsatz in diesem Zusammenhang lautet: »Der durchschnittliche Leser unserer Zeitung versteht diesen und jenen Satz nicht.« Ein wohlmeinender Redakteur gibt dem Schriftsteller – seinem Schriftsteller, dessen er sich annimmt – zu verstehen, dass er zu viel Bildung voraussetze in seinem Schreiben. Vor dem Hintergrund der prekären Wirtschaftslage des Medienwesens seien aber nicht nur seine Beiträge, sondern sei die Zeitung selbst als Printausgabe ein Luxusprojekt, für das man den Konzernlenkern dankbar sein müsse. Nur dem Goodwill einiger bildungsbeflissener Redaktionsmitglieder sei es übrigens zu danken, dass er, der Schriftsteller, noch dann und wann im Blatt figuriere. Eigentlich, so hört er bisweilen, halte man nur aus Nostalgie an seinen Beiträgen fest. Auf der Redaktion sehnten sich gewisse Mitarbeiter in jene Zeit zurück, als Texte, wie er sie schreibe, noch großflächig in Zeitungen erschienen seien. Darum fänden sie seine Schriftstellerexistenz schützenswert: Die künstlerische Autonomie seines freien Schaffens, selbst wenn sie nur noch ein Hirngespinst sei, müsse als etwas Erhaltungswürdiges betrachtet werden, genauso wie das Original Toggenburger Holzhaus mit seinen handgeschnitzten Fassaden. So gesehen sei er nicht einfach ›ein‹ Schriftsteller, sondern ihr Schriftsteller, dessen Werk sie sich zu eigen machten, mit dem Enthusiasmus ebenso wie der Sorge der Anwaltschaftlichkeit.
Bei aller Lust, weiterhin für Tageszeitungen zu schreiben, zuckt unser Schriftsteller instinktiv zusammen, wann immer der Begriff des durchschnittlichen Tageszeitungslesers fällt. Beim Mutmaßen über diese Figur, eigentlich Denkfigur, welche die Redaktionen gern als Drohgespenst bemühen, um den stilistischen Freiheitsdrang seines freien Schriftstellertums zu zügeln, fühlt er sich wie ein Zoobewohner, dessen Halter am Hungertuch nagen. Doch wer bildet eigentlich dieses diffuse Gremium, in dem er seine Halter vermutet? Es sind ja keineswegs die Zeitungsleute allein, es sind auch Buchhändlerinnen, in deren Augen ein verklärter Glanz tritt, wann immer sein Name fällt (und eine bekümmerte Miene, wenn seine Verkaufszahlen ruchbar werden). Es sind Funktionäre sonder Zahl, die seine Manuskripte bezuschussen und ihm Stipendien zusprechen. Es sind Veranstalter, die sich ermannen, ihn zu buchen, obgleich die Auflagenmillionäre mehr Publikum brächten. Sie alle fördern ihn und ärgern sich mit der stillen Selbstsicherheit des Besserwissens über seine durchschlagende Wirkungslosigkeit, wobei sie von ihrer Faszination für sein Tun kaum abzubringen sind. Gewiss, sie verstehen sein Verhalten nicht wirklich, aber ihr Nichtverstehen ist von tiefer Sympathie getragen – und von der Überzeugung, dass der Enthusiamus für seine Kunst dieses Verständnis nicht braucht. Kurz, man liebt ihn für seine Andersartigkeit, und so widersteht man dem wirtschaftlichen Druck der Zooleitung und heizt weiter seinen Käfig.
Doch wie lange werden die Betreiber des Zoos noch die Mittel haben, ihn durchzufüttern, das Luxustier? Wer wird mit ihm zum Doktor gehen, wenn er krank ist? Der Schriftsteller entsinnt sich seines einstigen Lebens außerhalb des Geheges, in der freien Wildbahn der Schriftstellerei, ein Dasein, das geprägt war vom freizügigen Gebrauch des Genitivs. War dieses Leben so hart und gefährlich? Nicht wirklich, denn dort, fernab vom Schwarmverhalten der Leser, in der Savanne schreibender Selbstvergessenheit und beschützt vom relativen Misserfolg seiner Arbeit, war er nie eine erstrebenswerte Beute – auch nicht für jene als Raubtiere verkleideten Jäger, die nicht aus Hunger jagen, sondern nur, weil die Gegenwehr des Wilds sie stimuliert. Mit Recht hielten sie sein Sitzfleisch für zäh, und kam er am Waldrand auf sie zu, packten sie ihre Flinten ein. Gelangweilt verließen sie den Hochsitz, stiegen zu ihm herab und richteten einige gönnerhafte Fragen an ihn, am liebsten über sein originales Leben in den Erzähldschungeln. Vielleicht noch über seinen jüngsten Roman, den sie noch nicht gelesen hätten. Wie er denn laufe, fragten sie.
Laufen? Reflexartig denkt der Schriftsteller bei diesem Wort jetzt an Krücken und Prothesen. Hinsichtlich seines Romans hat er sich stets aufgeräumt gegeben. Dann schenkte er dem Jäger, überzeugter Nichtleser, wie er wusste, ein Buch. »Fürs Büchergestell«, sagte er und bemerkte im selben Moment, dass er nicht witzig war, oder wenn witzig, dann auf erloschene, verstaubte Weise. Woher rührte dieser vergilbte Eindruck seiner Ironie? Vielleicht daher, dass er schon damals wusste: Nur als Zoobewohner würde er natürliche Feinde haben, diejenigen nämlich, die seine Fütterung finanzierten und sich darüber ärgerten, dass sie den Schirm der Schonung über ihm aufspannten, indem sie ihn mit gutdotierten Auslandsauftritten bedachten, obwohl die breite Masse (ein Begriff, den sie gerne und oft benutzten) niemals von seiner Kunst Notiz nehmen würde.
In der Freiheit aber, außerhalb der Zoogehege, war sein einziger Feind das Desinteresse gewesen. Doch an dieser Zumutung ist seines Wissens noch keiner gestorben.
Vermutlich, denkt der Schriftsteller, stimmt das alles gar nicht: Dein einstiges Leben in der freien Wildbahn war nicht leicht. Denn damals gab es eine große Zahl von anderen, die so wie du von ihrem freien Schriftstellertum zu leben versuchten. Es gab Konkurrenz. Heute nicht mehr. Heute klammern sich alle, die noch so leben wollen, aneinander, als trieben sie auf einem kleinen Floß. Sie sind alle verschwägert und unterstützen einander, wo es geht – wie Mitglieder einer Selbsthilfegruppe oder Sekte. Sie sind in ein kumpelhaftes Floß-Du verfallen, und an Konkurrenz ist auf diesen brüchigen Planken gar nicht zu denken. Die letzten Konflikte, die sie noch austragen, sind solche um die staatliche Futterzuteilung. Es sind Käfigzwiste, Rivalitäten, wie sie nur zwischen Wesen entstehen können, die nicht jagen und nicht säen, sondern gefüttert werden, weil niemand ihnen beim Aussterben zusehen will.
Stolz auf die rare Rigorosität seines Urteils, notiert der Schriftsteller in sein stets aufgeschlagenes Übungsheft: »Die Medien sind das letzte Bollwerk des Monotheismus in der westlich-pluralistischen Welt. Ihr Gott, die Heilige Quote, herrscht sonnenköniglich über Köpfe und Federn der Lohnempfänger. In der Auflage unserer Buchwelt hat SIE eine emsige Nebengottheit gefunden, die etwas weniger streng, doch ebenso scharfsichtig agiert. Wer jedoch im direkten Einflussbereich der Heiligen Quote die Stirn hat, nach eigenen Gesetzen zu schreiben, hat entweder viel Geld geerbt, oder er macht den Pausenclown und hält dies für einen Beruf. Für alle anderen gelten die Imperative, die aus Auflagezahlen, Leserbefragungen und den Forderungen nach Aktualität und Leichtfasslichkeit abgeleitet sind und an ihr Schreiben gerichtet werden: das Gesetz der Großen Zahl.«
Obwohl der Schriftsteller eine solche Lehrstunde wohl bitter nötig hätte, wird kein Redakteur ihm ernstlich empfehlen, mit dem durchschnittlichen Zeitungsleser ein Bier zu trinken, damit er etwas über das Schreiben für Tageszeitungen lerne – weil es ihn aus Fleisch und Blut nicht gibt. Es genügt also vorerst, wenn der Schriftsteller beim Schriftstellern intensiv an diese Figur als ein Abstraktum denkt. Es soll eine Art Bildschirmgnom sein, der jedes Mal schmerzgepeinigt heult, wenn der Schriftsteller einen Nebensatz zuviel einflicht, ein Fremdwort gebraucht oder Bildung voraussetzt.
Denkt der Schriftsteller an diese Gestalt, so fragt er sich, ob sie eine Kopfbedeckung trägt oder es vorzieht, barhäuptig den zeitungslesenden Durchschnitt zu verkörpern. Ist es ein Mann, eine Frau? Gutaussehend? Besserverdienend? Dies alles hilft ihm beim Schreiben wenig. Nein, es behindert ihn. Es hemmt seinen Ideenfluss. All seine Alpträume kulminieren darin, dass der durchschnittliche Zeitungsleser beim Schreiben hinter ihm erscheint, ihm über die Schulter blickt und ein undefinierbares Geräusch von sich gibt – manchmal isst er eine Wurststulle, manchmal einen Keks, was krachlederne, irgendwie schreibfeindliche Laute verursacht.
Diese Schreckensvorstellung hat unser Schriftsteller für einmal überwunden, wenigstens für diesen einen Tag. Denn heute hat er sich aufgerafft, hat dem Gespenst des durchschnittlichen Zeitungslesers getrotzt und etwas verfasst. Einen Text! Einen »Originalbeitrag«, wie sein Redakteur wohl sagen würde. Zwar findet der Schriftsteller sein Werk nicht überfliegend brillant, aber annehmbar. Darum schickt er es an den Redakteur seines Vertrauens.
Was geschieht nun? Ein paar Tage später ruft der Redakteur seinen Schriftsteller an und beteuert, wie gern er seinen Text gelesen habe. Er bedankt sich wortreich für die Mühe, die er sich gegeben habe und die gut erkennbar sei in seinem Text. Und genau hier liege auch das Problem: Er habe den Eindruck, der Schriftsteller habe sich unwohl gefühlt beim Schreiben dieses Textes, er sei nicht warm geworden mit dem Thema, dem gewählten Stil. Er, der Redakteur, werde das Gefühl nicht los, der Schriftsteller habe seinen Text in einem Zustand der Befangenheit verfasst, habe zu intensiv über die Wirkung einzelner Worte nachgedacht, auf Verständlichkeit hin gearbeitet. Dabei sei es doch eine seiner Stärken, nicht auf solche Dinge zu achten beim Schreiben. In seinen besten Texten ziele nichts auf Wirkung ab, kein Wort wirke beabsichtigt, keine Pointe kalkuliert, kein Bild gesucht. Offen gestanden, so der Redakteur, sei er von diesem Text richtiggehend enttäuscht. Sein Stil – er sage dies ungern, fühle sich aber verpflichtet, es dem Schriftsteller mitzuteilen – grenze ans Journalistische. Ihm sei, als hätten hier Tonfälle auf sein Schreiben abgefärbt, die keinesfalls auf den Tonfall eines Schriftstellers abfärben dürften, die seinem Werk ja eigentlich auch fremd seien, wie er sich erlaube lobend zu bemerken. Und dem allem zum Trotz befürchte er, der Redakteur, dass der durchschnittliche Zeitungsleser gerade diesen Text, der so sehr um sein Verständnis buhle, nicht verstehen werde. Solch ein peinvolles Missverständnis aber könne er ihm nicht zumuten, schon aus Loyalität zu seinem Werk, ruft der Redakteur, ja, er müsse ihn, den Schriftsteller, vor sich selber schützen. »Vielleicht ist es also das beste«, fügt er nun in direkter Rede an, »wir drucken den Text gar nicht ab?«
Der Schriftsteller atmet hörbar auf und ist einverstanden. An diese Lösung hätte er von selbst nie gedacht, und er ist seinem Redakteur dankbar für den Vorschlag. »Das beste, wir drucken den Text gar nicht ab«, denkt er – darauf muss man erst mal kommen. Das ist neu, als Idee, und genial, als Konzeption. Von Ausfallhonoraren zu leben, wäre eine königliche Existenzform. Keine gehässigen Leserbriefe, keine mäkelnden Kommentare von Kollegen, keine sarkastischen Anmerkungen selbsternannter Experten und keine geharnischten Repliken im Konkurrenzblatt.
Unser Schriftsteller spürt, wie eine große Last von ihm abfällt. Er dankt dem Redakteur für seine Ehrlichkeit. Dieser ist geschmeichelt und gibt zu, dass er sich eine solche nicht in jedem Fall erlauben könne, schon aus Zeitgründen. Aber bei ihm, dem Schriftsteller, sei eine derartige Sorgfalt selbstverständlich. Den Text eines anderen hätte er ohne Vorwarnung und bedenkenlos einfach abgedruckt, ohne daran zu denken, dass der Name des Verfassers Schaden nehmen könnte. Ein solches im Grunde hemdsärmeliges Vorgehen, das auf der Redaktion übrigens gang und gäbe sei, liege aber bei einem Autor seines Kalibers nicht drin.
Der Schriftsteller fragt sich beschämt, wie er das verdient hat. Was hat er denn Herausragendes geleistet, das ihm eine solche Vorzugsbehandlung einträgt? Was soll einer bloß Bleibendes geschaffen haben, denkt er betreten, der kaum imstande ist, ein Feuilleton zu schreiben, tauglich für eine Zeitung, deren Haltbarkeit einen Tag beträgt?
Während er, ohne wirklich zu feilschen, ein Ausfallhonorar aushandelt, denkt er: Mit meinem Text glaubte ich, endlich wieder einmal Beute gemacht zu haben. Aber diese Beute scheint ungenießbar zu sein. Darum gibt man mir Essensmarken, die als Ersatz dienen sollen.
Der Schriftsteller beendet mit einigen diffusen Floskeln der Freundlichkeit das Telefongespräch, wobei der Redakteur eilig versichert, möglichst bald wieder einen Text bei ihm bestellen zu wollen, als Zeichen seiner Wertschätzung. Der Schriftsteller hängt auf, und dabei erinnert er sich jetzt an eine Beobachtung, die er schon früh in seinem Leben machen durfte: Immer wieder ist er beim Zugreisen Zeuge eines rituellen Vorgangs geworden. Er sah, wie Geschäftsleute und Pendler frühmorgens mit selbstvergessener Eingespieltheit zuerst den Feuilletonbund aus der frisch entfalteten Zeitung zogen und auf den Abfallstapel legten, bevor sie sich genussvoll einer ausgiebigen Lektüre hingaben. Eine Zeitung ist für sie offenbar erst komplett, denkt der Schriftsteller, wenn der Kulturteil aus ihr entfernt worden ist – und damit, falls überhaupt, mein Text.
In diesem Moment wäre unserem Schriftsteller zu gönnen, dass er nicht an jenen anderen Redakteur seines Leibblattes denken muss, einen Leitartikler der scharf gefiederten Art, der ganz andere Ansichten über die Blattausrichtung hegt als der Vertrauensredakteur. Dieser Parforceintellektuelle hat ihm unlängst folgendes erklärt: Das Häufchen derer, die sein Geschwurbel noch verstünden, seien nur Ewiggestrige, als Abonnenten zahlenmäßig zu vernachlässigen, eine aussterbende Gattung inmitten der Horden hochtechnisierter Illettristen. Dies zeigten sämtliche Erhebungen. Als medial Belämmerte bildeten diese letzteren das Gros seiner Leser. Für sie und niemanden sonst schreibe wohl oder übel, wer für dieses Blatt schreibe. Und könne er, der Schriftsteller, diese Leser nicht für sich gewinnen, dann hielten sich die Konzerne, welche ihre neuen Geräte an eben diese Leser verkaufen wollten, mit Inseraten zurück – Lesegeräte wohlgemerkt, die das Abonnieren einer Zeitung in naher Zukunft überflüssig machen würden. Diese sogenannten ›Leser‹ aber, Zielgruppe der Lesegerätewerbung, sprächen die verstümmelte Sprache, welche die neuen Geräte ihren Bedienern abverlangten, Geräte wohlgemerkt, für die in der Zeitung mit ganzseitigen Inseraten geworben werde, Inserate, die das Artikelhonorar des Schriftstellers finanzierten. Seine Leser sprächen in Einzelworten und kurzen Floskeln, so der Parforceintellektuelle, dies müsse er bedenken, wenn er schreibe oder über das Schreiben schreibe. Ihr Denken sei ein Sprechblasendenken in Stummelsätzen. Auch er bedaure dies, doch er habe es zu akzeptieren als wirtschaftliche Grundlage seiner Zeitungsexistenz, wie jeder, der für das Blatt schreibe. Denn eine Zeitung sei nie besser als ihre Leser, ja man könne geradezu behaupten, die Leser hielten stets die Zeitung in Händen, die sie verdienten.
Ist es nicht möglicherweise umgekehrt? so fragt sich der Schriftsteller jetzt. Ist nicht genau das Gegenteil wahr, dass nämlich die Leser nie besser als ihre Zeitung sind, weshalb man sagen kann, eine Zeitung habe stets jene Leser, die sie verdiene: Je dümmer die Zeitung, desto dümmere Leser wüchsen unter ihren papierenen Fittichen heran? Er befragt sich selbst und muss gestehen: Stets hat er lieber Texte von Autoren gelesen, die mehr wussten als er. Nicht wirklich, weil er beim Lesen etwas lernen wollte, aber weil deren Texte herausfordernder und also belebender waren. Und er fragt sich, ob das bei Zeitungslesern anders sei. Müssen denn die Tiere im Zoo den Vorstellungen der Zoobesucher entsprechen, so fragt er sich, also an ihre Rolle angepasst werden, ehe sie für das Zurschaugestelltwerden geeignet sind? Oder kommen die Leute in den Zoo, weil sie ein Wesen sehen wollen, das anders lebt als sie und sie damit überrascht?
Statt für seinen Redakteur einen nächsten, feuilletonistisch verkrampften Text zu Fragen dieser Art zu schreiben, nimmt er sich vor, dies demnächst bei den Menschen selbst, die er überall in der Stadt lesen sieht, in Erfahrung zu bringen. Er zieht seinen Mantel an und geht aus dem Haus.
Auf dem Spaziergang kommen dem Schriftsteller Zweifel an den Thesen des Paraderedakteurs. Wenn er bedenkt, mit welcher Raffinesse sich die Kinder seiner Nachbarn Tag für Tag ihre kleinen Straßenschlachten liefern, mit welchem Einfallsreichtum sie einander foppen, wie hellwach und geistesgegenwärtig sie beim Erfinden neuer Schmähungen und Kraftwörter sind, dann zweifelt er an der Beschränktheit des künftigen durchschnittlichen Zeitungslesers. Sollen aus diesen aufgeweckten Wesen einmal jene Stummelsatzkretins werden, von denen der Parforceintellektuelle sprach? Daran kann er beim besten Willen nicht glauben. Und wenn er an die Wortspiele denkt, mit denen sein Klempner ihn neulich unter der defekten Spüle hervor überrascht hat, zweifelt er an der Überzeugung des Paraderedakteurs, wonach die ›bildungsfernen Schichten‹ vom
TV-Dauerkonsum so abgestumpft seien, dass sie kaum die Gebrauchsanleitung eines Rasierapparats verstünden, von komplexeren Geräten zu schweigen. Lesegeräten zumal.
Am Bahnhof betrachtet der Schriftsteller die bewegte Menge, ohne das Gefühl zu haben, durch den Maschendraht eines Käfigs zu blicken: Der Parforceintellektuelle sähe hier wohl Pendler und Konsumenten, denkt er. Ich sehe Individuen mit einem intakten Hunger auf das Kommende, Menschen, für deren Ausbildung große Geldsummen ausgelegt worden sind und die durch vielerlei Anreize gelernt haben, neugierig zu bleiben.
Nun wird der Schriftsteller doch wieder unsicher, denn soeben hat er den Fehler gemacht, seines jüngsten Besuchs in einer Buchhandlung zu gedenken. Diese Lokalität hatte nichts mehr gemein mit dem, was er in seinen Studienjahren als Stätte des Buchkaufs kennengelernt hat. Das Etablissement glich mehr einer Geschenkboutique als einer Sortimentsbuchhandlung. Zuerst hatte er eine Weile verloren zwischen grellbunten Regalen herumgestanden. Keine Buchhändlerin kam auf ihn zu, um seine Wünsche zu erfragen, nein, Wühltische sonder Zahl brüskierten seinen Blick, und einige Stoffpuppen vom Kindermerchandising ließen ihn glauben, er habe sich in einen Spielzeugladen verirrt. Zu seinem Befremden erblickte er eine Sodamaschine, wie er sie aus den Wartezimmern alternativmedizinischer Hausärzte kennt, und eine kleine Kaffeebar lud zu bücherfernem Verweilen. Der Schriftsteller hatte lange die Belletristikzone gesucht und sie nach Abspulung einiger schweißtreibender Regalkilometer endlich aufgespürt, eingezwängt zwischen den immensen Kochbuch- und Haustierabteilungen. In seiner Bücherheimat angekommen, verstimmten ihn nun aber Titel wie »Kleist für Eilige«, »Der Gilgamesch in zwei Stunden« oder »Kafkas Prozess, integral gelesen von Dieter Bohlen«.
Wie ergeht es den Stammkunden dieser Buchhandlung, fragt er sich, wenn sie meine Zeitung abonniert haben und darin meinen Essay über die Verkümmerung der Sprache in der Werbung lesen? – Buchhandlungen dieser Art haben gar keine Stammkunden, nur Laufkundschaft, flüstert eine Stimme in seinem Kopf. War es etwa die des durchschnittlichen Lesers?
Der Schriftsteller erinnert sich nun daran, was jeder Schriftsteller sagt, wenn er im Café eines Literaturhauses einem jüngeren Kollegen souverän wirkende Ratschläge geben will: Es sei einer der größten Fehler im Leben eines Schriftstellers, die Intelligenz seiner Leser zu unterschätzen. Doch wenn er nun die Briefe bedenkt, mit denen seine Leser ihn mitunter beglücken, dann ist er versucht, alles, was er bisher gedacht hat, zu revidieren. In diesen Briefen teilen ihm Leser mit, dass auch sie, so wie er, eine problematische Beziehung zu ihrem Vater hätten, dass aber die Art, wie er dieses Problem offenbar bewältigt habe, zur Nachahmung wenig empfohlen sei, weshalb es angebrachter gewesen wäre, er hätte ein Buch über seine Mutter- oder Schwesterbeziehung geschrieben und sich die Vaterbeziehung für später aufgehoben. Weitere Zuschriften loben den Schriftsteller für den Umstand, dass er mit seiner Erzählung »Kakteen am Abend« die Gegend um Fulda zu einer literaturfähigen Topographie erkoren habe. Andere finden es verdienstvoll, dass er mit seiner Familienchronik »Hindelbank und seine Hindelbänkler« – von der er nicht weiß, wer sie geschrieben hat, er jedenfalls nicht – endlich einmal die holzverarbeitende Industrie ins Zentrum eines erzählerischen Werks gestellt habe.
Der Schriftsteller ist vom Spazieren, das inzwischen zu seinen Hauptbeschäftigungen zählt, nach Hause gekommen. »Wie dement«, so schreibt er in sein stets aufgeschlagenes Übungsheft, »wie verblödet und doof ist das intelligible Wesen Mensch heutzutage wirklich, das durchschnittliche Mängelexemplar eines homo sapiens, das offenbar weiter für fähig gehalten wird, die komplexe Eingabeartistik zu meistern, die Fahrscheinautomaten ihren Bedienern abverlangen? Ist es wirklich so, dass meine Leser einer untergehenden Welt angehören, nur weil sie Hades nicht für den Kommandanten eines Raumschiffs halten und in einer Koryphäe keinen Nadelbaum vermuten?
Hat ein Autor heutzutage die Verwegenheit, bei der Dichterlesung einen Blick ins Publikum zu werfen«, schreibt unser Schriftsteller, »so schimmert der Abglanz dezent ergrauter Häupter zu ihm hoch. Der durchschnittliche Besucher unserer Gehege blickt auf ein reiches Leben zurück.« Nun ist er versucht, der Hypothese des Paraderedakteurs doch Glauben zu schenken, wonach er im Begriff sei, ein schreibender Therapeut im Bereich der Geriatrie zu werden, während seine Bücher am Markt so verloren seien, dass er als berufliche Existenz den Artenschutz des Stipendienwesens brauche, um zu überleben. Der Literaturbetrieb und die Medienwelt schaffen also tatsächlich um ihn herum Zooverhältnisse, die ihn am Leben erhalten.
Doch etwas Entscheidendes ist bisher unter den Tisch gefallen, findet der Schriftsteller, und er schreibt: »Der oft als Zeuge der Anklage herangezogene durchschnittliche Tageszeitungsleser ist eine weder statistisch noch marketingmäßig genau umrissene Figur, und über seinen Intelligenzquotienten ist wenig bekannt. Vielmehr ist er eine Instanz, wie sie derjenige benötigt, der etwas nur Gefühltes faktisch belegen will – eine bloße Behauptung. Er personifiziert das Unbehagen des schrumpfenden Feuilletons, das seine Existenzberechtigung im Zeitalter der durchgreifenden Ökonomisierung gefährdet sieht. Darum taucht das Gespenst des durchschnittlichen Lesers am Horizont der Blattoberkante einer jeden Zeitung auf, die am Tropf der Auflagezahlen hängt«, schreibt unser Schriftsteller nun mit einem Blick zur Uhr, die eine Zeit nach Mitternacht anzeigt. »Ist er vielleicht der archetypische Rächer, der im Ledermantel die Redaktion betritt, um aufzuräumen – ein Revenant des Marlboromanns, der auf einem einsamen Feldzug gegen alles ist, was er nicht begreift? Hasst er die Zeitung für jeden Satz, den er nicht auf Anhieb versteht, und ist er der vollbärtige Abonnementabbesteller aus den Weiten der Prärie, der kraft seiner Abbestellung das konzertierte Schweigen des Zeitungswesens bricht…?«
Hier bricht der Schriftsteller ab. Er kann sich beim besten Willen keinen durchschnittlichen Zeitungsleser mehr vorstellen, den interessieren würde, was ihm jetzt noch zur Figur des durchschnittlichen Zeitungslesers einfallen könnte. Deshalb knipst unser Schriftsteller nun die Lampe über seinem Schreibtisch aus und begibt sich zu Bett, nicht ohne prompt vom durchschnittlichen Leser zu träumen, der diesmal keine so eindeutige Marlboro-Gestalt mehr zeigt, stattdessen ein vielgesichtiges Naturell, das auch Züge des schlauen Klempners, der vifen Nachbarskinder und sogar des Paradeintellektuellen aufweist. Bevor der Schriftsteller endgültig ins babylonische Bildergewirr des Schlafs entgleitet, meint er zu hören, wie dieser durchschnittliche Leser, angetan mit einer weder besonders mittelmäßigen noch wirklich überdurchschnittlichen Cordhose, einen sehr treffenden Kommentar zu seiner jüngsten Arbeit macht, genauer zu ihrem Titel, der bisher ›Lichterlöschen‹ hieß und möglicherweise abgeändert werden muss, sobald morgen das erste Licht über dem Bett des jetzt zeitungsfern schlummernden Schriftstellers angeht.
ist freier Autor und Musiker. Im Jahr 2010/2011 war er Gastprofessor am Collegium Helveticum in Zürich. Er publizierte diverse Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften wie u.a. der Neuen Zürcher Zeitung.
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Die vielfach geforderte Freiheit des Einzelnen, Kunst nach eigenem Gutdünken zu rezipieren, zu genießen, aber auch zu produzieren und damit zu definieren, ist heute weithin Realität geworden. Wir leben im Zeitalter der Laienherrschaft in den Künsten und den mit ihnen verbundenen Medien: einem Regime, das auf der Dynamik der Massen-Individualisierung und dem Kontrollverlust etablierter Autoritäten beruht, in dem jede Geltung relativ ist und die Demokratisierung in ihrer ganzen Ambivalenz zum Tragen kommt.
Die Essays und Interviews des Bandes kreisen um die Figur des Kulturpublizisten. Wie wirken Ökonomisierung und Digitalisierung auf sein Selbstverständnis ein? Wie sieht es mit der gegenwärtigen Rollenverteilung zwischen Publizist und Künstler aus? Wie verhält sich der Publizist gegenüber dem immer eigenmächtiger auftretenden Rezipienten? Der zeitgenössische Kulturpublizist tritt als Diskursproduzent und als Weitererzähler flüchtiger Wahrnehmung auf; doch auch als Interpret, der als Leser und in diesem Sinne als »Laie« seine Stimme entwickelt – jenseits aller Reinheits- und Absicherungsgebote, die etwa die Wissenschaft aufstellt. Eine Kultur des Interpretierens als eine von der Laienperspektive her gedachte Kultur der Subjektivität, der Aufmerksamkeit, der Sprache und der Auseinandersetzung mit den Künsten ist in Zeiten der Digitalisierung eine unschätzbar wertvolle, omnipräsente und zugleich bedrohte Ressource.
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