Im Streit um die Frage, ob die Kunst kommentierungsbedürftig sei, sind frühe Debattenbeiträge wie diejenigen von Arnold Gehlen (dafür) oder Susan Sontag (dagegen) bis heute prägend. Die mengenmäßig größte Explosion der Kunstschriftstellerei kam jedoch erst danach. Und gibt spätestens seit den 90er Jahren Anlass, darüber zu staunen, was Sprache alles kann. So ist eine Sprache, die Kunst thematisiert, ohne auf Kriterien wie Klarheit, Nachvollziehbarkeit oder Argumentierbarkeit allzustark zu achten, trotzdem funktional: nämlich dann, wenn es zu den Funktionen der Kunstschriftstellerei gehört, Nebelschwaden der Verklärung zu verbreiten und so diejenigen Rezipienten zu beschämen, die schon immer wahrzunehmen meinten (aber nicht zu sagen wagten), dass der Kaiser keine Kleider trägt.
Es gibt gegenwärtig wohl kein künstlerisches Feld, in dem der Kommentar zum Werk einen auch nur annähernd vergleichbaren Umfang angenommen, geschweige denn eine ähnlich große Bedeutung erlangt hätte wie in der bildenden Kunst. Undenkbar der Besuch eines Museums, einer Messe, einer Galerie ohne pädagogische, wissenschaftliche, belletristische oder schöngeistig essayistische Sehhilfen – mehr denn je ist unser Blick »umgeben und vorbereitet durch einen ganzen Hof von Kommentaren, selbst bei den neuesten Werken«.1
An der Entwicklung des Ausstellungskatalogs lässt sich anschaulich verfolgen, welch umfassende Schwerpunktverschiebung hier stattgefunden hat. Die Gattung entstand in den 1670er Jahren im Zuge der neu ins Leben gerufenen Publikumsausstellungen der königlichen Kunstakademie im Salon Carré des Pariser Louvre. Da die Wandflächen damals vollständig mit Gemälden bedeckt waren, wurden zur besseren Orientierung schmale Heftchen gedruckt, aus denen Künstler, Titel und genaue Lage jedes Exponats hervorging, denen darüber hinaus aber selten mehr als einige wenige erläuternde Zeilen zu den Werken beigegeben waren.2
Heute hat sich der Ausstellungsführer in eine Kommentarsammlung verwandelt. Die Begleitmaterialien zu den vergangenen documenta-Veranstaltungen etwa erschienen jeweils in mehreren kiloschweren Bänden. Die Verantwortlichen der documenta 11 beispielsweise blendeten der eigentlichen Ausstellung vier sogenannte »Plattformen« vor – in gespenstischem Umfang textgenerierende Diskussionsveranstaltungen, die nicht so sehr eine Schau der Gegenwartskunst vorzubereiten schienen als vielmehr den Eindruck erweckten, die Kuratoren nutzten die anstehende Ausstellung lediglich als willkommenen Anlass, öffentliche Aufmerksamkeit auf die eigene Theorieproduktion zu lenken.
Längst gibt es kuratierende Kunstschriftsteller und kunstschriftstellernde Kuratoren, die bekannter sind als die Künstler, die sie präsentieren. Dass vielen Künstlern und auch so manchem Kunstfreund das nicht gefällt, leuchtet ein. Sie deuten die Kunstbegleitliteratur als Verfallsphänomen. Unter den spezifischen Bedingungen des zeitgenössischen Kulturbetriebs, so der Gedankengang, bemächtigt sich das Sekundäre der Ressourcen an Geld und öffentlichem Interesse, die legitimerweise dem Primären zukommen sollten: Das Gerede überwölbt das Werk. Das Remedium bestünde folglich im bewussten Verzicht auf jeglichen Kommentar.
Diese Auffassung, die ideengeschichtlich in der Goethezeit wurzelt,3 ist im zeitgenössischen Kulturbetrieb häufig anzutreffen. Die wesentlichen Argumente, die dafür bis heute aufgeboten werden, finden sich bereits in Susan Sontags einschlägigem Essay Against Interpretation aus dem Jahr 1964, in dem der »Strom der Kunstinterpretationen« mit den »Abgasen der Autos und der Schwerindustrie« verglichen wird. Der Kommentar, so Sontag, vergifte »unser Empfindungsvermögen«, er sei nichts als ein »Duplikat«, das uns von der Beschäftigung mit dem Original, der direkten sinnlichen Auseinandersetzung mit der Sache selbst abhalte.4 So plausibel eine solche Position gerade vor dem Hintergrund des heute allgegenwärtigen Misstrauens gegen die Vermittlungsleistung...