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Jede Nummer eine Art Meta-Collage

Stefan Zweifel

Georges Bataille. Geschichten des Auges

Nach dem zu urteilen, was ich bisher gelesen habe, ist der Titel, den Sie für diese Zeitschrift gewählt haben, höchstens insofern gerechtfertigt, als er uns »Dokumente« über Ihre Geistesverfassung liefert. Das ist viel, aber nicht ganz ausreichend.  Es gilt wirklich zu jenem Geist zurückzukehren, der uns beim Entwurf dieser Zeitschrift inspiriert hat, als wir beide mit Herrn Wildenstein darüber sprachen. Wollen Sie darüber bitte sehr ernsthaft nachdenken? Natürlich habe ich mit keinerlei Sanktion gegen »Documents« zu drohen. Außer einer: der Einstellung der Zeitschrift.
Pierre d’Espelzel, 15. April 1929

Abgehackte Rinderfüße vor Schlachthöfen, gewaltige Blutstriemen am Boden, hingepinselt nicht von Francis Bacon, sondern von anonymen Metzgergesellen, dann große Zehen von Menschen, die unsere verdrängte Unbeholfenheit und Hässlichkeit zeigen sollten, oder ersterbende Fliegen, die als dunkle Wolke des Todes auf Klebepapier wimmeln, zwischen all diesen fotografischen Ekelerregungskunststücken tauchte in der siebten Nummer der Zeitschrift »Documents« 1929 auch die Fotografie einer seltsam geformten Manuskriptrolle auf: die »120 Tage von Sodom«, jene schauerlichste Abrechnung mit dem Projekt der Aufklärung, die der Marquis de Sade 1785 verfasste, ein Schriftstück, das noch weit mehr als die verhackstückte Tier- und Menschenmaterie das absolute Grauen symbolisiert, den namenlosen Schrecken und das Unsägliche, zu dem der Mensch fähig ist.

Mit dieser geradezu als Fetisch verehrten, 12 Meter langen, aus winzigen Zetteln zusammengeklebten Rolle, in der Sade 600 menschliche Perversionen auflistete und die er vor Gefängniswärtern der Bastille in einem Dildo verbarg, der ab und zu unter »hohen spitzen Schreien« aus seinem Hintern auftauchte, mit diesem »Anuskript« wollte Georges Bataille seine Theorie des »Unförmigen« illustrieren, sie war gleichsam der Mikrokosmos des Makrokosmos der ganzen Zeitschrift: Rinderfüße und Schriftrolle nämlich sind sämtlich Elemente, die aus dem Chaos der sogenannten »niederen Materie« auftauchen, aus jenen Niederungen, die keinen Sinn machen, die sich nicht durch Vernunft erklären und beherrschen lassen, die dem systematischen Zwang zum Homogenen als das Heterogene gegenüberstehen und als das ewig unzähmbare Andere, als zerfetzte Glieder des zerstückelten Dionysos andeuten, aus welchem Abgrund von Weh und Trauer der schöne Schein unseres »normalen« Lebens auftaucht.

Und so tauchten Bruchstücke von Batailles Wissen/Nicht-Wissen in den Texten und Bildern dieser Zeitschrift auf. Jede Nummer eine Art Meta-Collage der »bizarrsten« und »wissenschaftlich am wenigsten untersuchten Phänomene«, wie Bataille in einer Absichtserklärung schrieb. Eine Collage, die Nietzsches dionysische Ahnungen mit dem Stand der Wissenschaft der 1920er-Jahre begegnen, oder, da Bataille jegliche dialektische Versöhnung im Sinne Hegels fremd war, kollidieren ließ.

So gesehen war die Zeitschrift ein Rictus, der krächzende Todesschrei des gallischen Hahns, der Bataille an den Schrei der Sonne erinnerte, wenn sie über den Opferaltären der Azteken oder über der von 1000 Martern zerrissenen Brust eines Chinesen auftauchte, vor dessen Fotografie Bataille meditierte1 und sich aus seinem Ich hinausreißen ließ, mitten hinein in die »innere Erfahrung«, die man immer dann macht, wenn nächtens die Angstlust durch unser Hirn spukt und den Kerker des Schädels zu zerbrechen sucht, damit wir aus dem Riss im Hirnkasten flüchten können wie all jene Verbrecher, die nach Erdbeben aus ihren Gefängnissen zurück ins Freie flüchteten – wie eine Fotografie in »Documents« zeigte, die mit dem Bild eines Schimpansen kombiniert war, den man ins lächerliche Kostüm eines Menschen gesteckt hatte.

Das anti-akademische Steckenpferd

Die Zeitschrift war Batailles Schlachtross nicht nur im Kampf gegen die Vernunft der Aufklärung, welche seit Platon das Schöne, Gute und Wahre im sonnenhaften Augenblick am Himmel der Ideen suchte, sondern etwa auch gegen die akademischen Darstellungen des Pferdes selbst. In seinem ersten »Documents«-Aufsatz »Le cheval académique«, dieser kühnen Eröffnung im Schach- und Schlachtspiel gegen die idealisierende Bildwelt auch der Surrealisten, beschreibt er, wie die Münzen der barbarischen Gallier das Pferd in ihren unbeholfenen Kopien als das eigentlich monströse Wesen darstellen. Ein Wesen, das letztlich nicht zu bezähmen ist, irrheidnisch verzerrt zur Figur des »Pferde-Affen«.2

Der Mensch, der seine Triebe genauso gezähmt hatte wie die wilde Urkraft des Pferdes, wird nun aus dem Sattel geworfen und landet im Dreck, im Schmutz, im Sumpf der niederen Materie. Die akademische Form löst sich im Unförmigen auf, der platonische Dialog im Wiehern des Pferdes, im Schrei des Menschen, der verzweifelt versucht, in der dionysischen Ekstase sein Ich hinter sich zu lassen.Und so sprengen die Collagen von Bildern in »Documents« das Form-Gefüge einer akademisch anmutenden Zeitschrift, setzen die zerfetzten Glieder des abendländischen Subjekts in Szene, ins Ob-szöne.

Auch als Georges Bataille von der sechsten Nummer an die Zeitschrift »Documents« immer mehr in eine anti-surrealistische, d.h. anti-sur-idealistische Position steuerte, blieb die Spannung zwischen ihm und dem Gegenpol Carl Einstein fruchtbar. Schon in der zweiten Nummer antworteten sie sich auf ihre ersten Beiträge übers Kreuz: Einstein entwarf mit Blick auf den Maler André Masson eine Theorie der menschlichen Animalität, die Batailles »Le cheval académique« aufnahm, während Bataille im Beitrag »Architecture«, reagierend auf Einsteins Text über Statik und Formenspiel bei Picasso, die Statik der Architektur als Machtmonstrum analysierte.

Bataille – und auch Michel Leiris – ging es um »L’informe«,3 das Formlose und Unförmige als Inbegriff des Heterogenen, wie es sich am extremsten in der Erotik zeigt, wenn die Leiber zu unförmigen Gebilden verschmelzen und sich die starren Grenzen des Subjekts auflösen. Die Sprache gerät ins Stottern, Stöhnen und Schreien, verliert jegliche durch die Konsonanten garantierte Sinnstruktur und ist im Fluß der Vokale nur mehr eine unreine Ausscheidung zwischen Rotz und Speichel – schließlich gilt Bataille und Leiris der Speichel als schleimiges Sinnbild des Universums, das nicht die Form des Spinnennetzes der cartesianischen Vernunft, sondern die Unform eines Auswurfs aufweist.4

Sonnenanus

Die Handschrift der »120 Tage von Sodom« wurde, seit sie um 1900 in Berlin wiederaufgetaucht war, in endlosen Kommentaren wieder entrollt und als Nachtseite der optimistischen Aufklärung entdeckt. Sade hat ganze Bibliotheken aufklärerischer Traktate verschlungen und sich intensiv der Strahlkraft der »Lumières« ausgesetzt, doch statt dem Licht der Vernunft zu huldigen, umriss er die Konturen jenes schwarzen Flecks, den die Sonne auf der Retina hinterlässt, wenn man sie lange fixiert hat und die Augen schließt.

Es sind die Konturen jener Öffnung, die von der sogenannten Hochaufklärung so gewissenhaft verdrängt wurde, jenes »anus solaire« (Sonnenanus), durch den laut Georges Bataille das heterogene Wissen ausgeschieden wurde, welches für den »Fortschritt« des Menschen nicht weiter verwertbar ist. Es ist jener schwarze Punkt, wo die Vernunft in ihr unreines Anderes umschlägt: »Der Begriff (heterogener) Fremdkörper erlaubt es, die elementare, subjektive Identität von Exkrementen (Sperma, Menstrualblut, Urin, Fäkalien) und von alledem zu kennzeichnen, was als heilig, göttlich oder wunderbar angesehen werden konnte: eine halb zersetzte Leiche, die nachts in einem leuchtenden Leichentuch umherirrt, kann für diese Einheit als charakteristisch gelten.«5

Gerade als tabuisiertes Objekt, als eigentliches »Abjekt«, entzieht sich Sades Werk dem Zugriff und den Maßstäben der Vernunft, die über sein Werk lange das Leichentuch der Zensur breitete. Es gehört zu jenem Abfall, der bei allen Rechnungen der Ratio als unteilbarer Rest übrigbleibt. Diese Abfälle bannte Bataille nun dank dem blitzenden Licht der Fotografen Jacques-André Boiffard6und Eli Lotar7 in die gewaltige, sich über Jahre hinstreckende, immer weiter ausgreifende Bildstrecke von »Documents«. Die Zeitschrift wird zum langanhaltenden Vulkanausbruch einer entfesselten Fantasie, zu einem gewagten Würfelwurf, zu einem paradoxen Pro-jekt: Der Mensch hat sich durch Vernunft und Sprache von seiner Umgebung abgespalten, wurde zum stolzen, selbstbewussten Sub-jekt, das über die Ob-jekte herrschen kann. Damit wurde er aber auch unendlich einsam. Er verlernte, sich im sonnenhaften Augenblick des Jetzt zu verlieren, bleibt durch die Arbeit stets an die Zukunft gekettet, ist Sklave seiner jeweiligen Pro-jekte. Zuweilen aber überkommt ihn eine irrwitzige Lust, unvernünftig zu werden, sich selbst zu überschreiten und alles aufs Spiel zu setzen, was er erworben hat. In der E-jakulation will er wieder ganz ungebundenes Strömen werden, reiner »Jekt« der Triebe, des »Strömens« in der Lava der Lust.

Gleichsam ein Vulkan am Himmel ist für Bataille die Sonne: »Das fäkale Sonnenauge hat sich aus den vulkanischen Eingeweiden losgerissen, und der Schmerz eines Menschen, der sich mit seinen Fingern die Augen ausreißt, ist nicht absurder als die anale Geburt der Sonne.«8 In seinen Skizzen zu »L’œil pinéal« entfaltet er im Anschluss an das Abenteuer »Documents« seine obsessive Deutung der Sonne als eines gigantischen Kadavers, als Vulv-Anus am Himmelszelt: »Die Sonne, in der Tiefe des Himmels hängend wie ein Leichnam auf dem Grund eines Brunnens, antwortet auf diesen unmenschlichen Schrei mit dem spektralen Spektakel der Verwesung.«9

Niemand hat sich der ödipalen Blendung durch die Sonne, der Kastration durch deren Strahlen so intensiv ausgesetzt wie Vincent van Gogh, wenn er das Beben dieser wilden Kraft in seine Sonnenblumen bannte, über die die Krähen als exkrementale Punkte dahinziehen im Sturm seines Pinsels: »Alle Pflanzen der Erde ragen in den Himmel und schleudern beständig in Gestalt von Blüten leuchtende Auswurf-Myriaden zur Sonne, und unter den Verrückten ist nur ein van Gogh obszön genug, gegen eben diese Sonne den phallischen Auswurf seiner Augen zu schleudern. Die anderen menschlichen Wesen schleppen sich erbärmlich wie große impotente und korrekte Phalli dahin, die Augen auf eine langweilige Umgebung gerichtet.«10

Denn nur er, van Gogh, und nur er, Bataille, verstanden die wahre »Sprache der Blumen«, wie ein Aufsatz betitelt ist.11 Denn anstatt die Liebe und Schönheit der Frauen zu symbolisieren, lauern in der Mitte der Blüten die sexuellen Staubgefäße, ein »haariger Schandfleck«, der sich bisweilen, vor allem bei den Orchideen, zur teuflischen Eleganz des Bösen entwickelt und sich sonnenwärts richtet, bis die Blütenpracht durch die Hitze der Sonne verdorrt, verfault und sich der Gestank des Aases aus dem Sonnenblumen-
anus erhebt, bevor die Blume zuletzt wieder auf den Misthaufen der Materie zurücksinkt, dem sie sich kurz in elegantem Schwung zu entziehen vermochte. Sie erinnerte nun nur noch an überschminkte alte Dirnen, und so sei es auch kein Zufall gewesen, dass van Gogh sein abgeschnittenes Ohr in einem Bordell hinterlegte. So endet Batailles Denken immer in Sades Boudoir.

Erotik des Auges

Das Paradigma für die Widerspenstigkeit der Materie und die Unbeherrschbarkeit des Lebens ist bei Bataille die Sexualität oder genauer: die Erotik.

In der fiebrigen Atmosphäre von Batailles Roman »Le Bleu du Ciel«, in dem er seine nekrophilen Ausschweifungen mit Simone Weil (alias Lazare) schildert, liegen die fragmentierten Körper der Protagonisten als Fleischberge alptraumhaft herum wie abgehackte Rinderfüße. Kaum ist noch auszumachen, wer gerade redet bzw. zu reden versucht; ihr Stottern, Schreien und Stöhnen spricht aus einem Bereich der Ekstase, wo der Einzelne nichts mehr zählt.

In der »Histoire de l’œil«12 spielen die Menschen ohnehin nur noch eine Nebenrolle im metonymischen Gleiten vom ovalen Weiß der Augen (»œil«) zu den erotischen Spielen mit Eiern (»œuf«) und Stierhoden, welche die Heldin in einer ovalen Arena verzehrt, während der Torero vom Stier getötet wird, dessen Horn ihm durch das Auge in den Kopf fährt. Die kleine Simone setzt sich im Roman nackt auf einen Teller voll Milch, mischt die Milch mit ihrem Urin und kippt dann das Ganze über den Kopf der Mutter; dann zerbricht sie mit ihrem nackten Hintern rohe Eier oder schiebt sie sich in die Spalte, bis zuletzt aus ihrer Spalte ein anderes Ei blinzelt: das Auge von Marcelle. Es wird von Batailles Sprache zerschnitten; der ultimative Tabubruch wäre es, das Auge zu essen.13

Konsequent wird so das Auge als Mittel des »theorein« und der horizontalen Eroberung der Welt durch Technik und Ratio zugunsten eines mythischen »Sonnenauges« entmachtet, das als »œil pinéal« vertikal das Unmögliche anvisiert. Dabei bezeichnet »pinéal« nicht mehr wie bei Descartes die Zirbeldrüse als körperlichen Sitz der Seele, sondern ein drittes Auge unter der Stirn, das direkt in die blendende Sonne blicken kann und Bataille »in den bestirnten Himmel unter meinen Füßen« stürzen lässt.

Analog zu den beiden Augen-Punkten der Vernunft und Theorie, die stets auf ein drittes Auge, das Auge des Unmöglichen und der Un-Vernunft, verweisen, werden die beiden Punkte durch einen dritten zu »...« ergänzt, den drei Punkten, die auf französisch nicht von ungefähr »points de suspension« heißen: Es handelt sich, wie im Wörterbuch »Littré« steht, um eine »Suspension des Sinns«. Bataille lässt also den klassischen Diskurs ins Schweigen der »...« münden.

So wie sich die Erotik gegenüber der Sexualität dadurch auszeichnet, dass in ihr die Sexualität nicht mehr ein bloßes Mittel zur Fortpflanzung, sondern Selbstzweck ist, zeichnet sich die wahre Poesie vor der Alltagssprache dadurch aus, dass die Sprache nicht länger ein Mittel zur Mitteilung, sondern Selbstzweck, oder noch besser: im Scheitern lediglich die verstummende Spur des Schweigens jenseits aller Sprache ist. Rimbauds selbstauferlegtes Schweigen ist das Ziel: »Die Größe Rimbauds ist es, die Poesie bis zum Scheitern der Poesie getrieben zu haben.« In diesem Sinn war es Batailles Größe, die Zeitschrift bis zum Scheitern der Zeitschrift getrieben zu haben.

Schönheit des Scheiterns

Bataille hat zusammen mit Albert Skira, der mit seiner Zeitschrift »Minotaure« von 1933 bis 1939 den Impetus von »Documents« zähmte und ins Luxuriöse wandte, bevor er ihn am Ende des Krieges mit der monatlich erscheinenden Straßenzeitung »Labyrinthe« (1944–46) ins Alltägliche einfließen ließ, noch zweimal den Versuch unternommen, die Bildwelt von »Documents« in Buchform aufleben zu lassen: Zunächst in einem Werk über die Malereien in Lascaux, dann in seinem Vermächtnis »Les larmes d’Eros«: Dort illustrieren Höhlenzeichnungen aus Lascaux und griechische Vasenbilder von Satyrn, Bilder von Cranach und Füssli, Masson und Balthus in großer Fülle Batailles todesschwangere Erotik und seine Absicht, »das Bewusstsein für die Identität vom ›kleinen Tod‹ und dem endgültigen Tod zu öffnen«.Und doch erreichen die Bücher nie die Radikalität von »Documents«.

Warum? Vielleicht weil der unsägliche und unaussprechliche Skandal der innigen Verwandtschaft von Tod und Erotik, von Gewalt und Zärtlichkeit nicht durch das reguläre Denken in cartesianisch-
logischen Ketten (»chaînes«) abgewickelt, sondern nur in »entfesselten« (»déchaînés«) Text-Bild-Collagen, nein: nicht erreicht, sondern: gestreift werden kann. Der Ökonomie des Denkens (»la pensée«) steht die grenzenlose Verausgabung (»la dépense«) des poetischen Schweigens gegenüber. »Das Schweigen ist nichtig, solange es das Denken nicht wenigstens für einen Augenblick aussetzen lässt.«

In diesem Sinn ist »Documents« als Projekt des »Unmöglichen«, als Aussetzer des Denkens, als Hiatus zwischen den verschiedenen Sphären des Wissens vielleicht doch mit jenem Bogen des Schweigens verwandt, der in der Poesie seit Mallarmé und Kafka das Unmögliche als Tangente streift, um wieder im Nichts des Universums zu verschwinden.

»Wir wurden schließlich von unserem Verleger im Stich gelassen, den der Nonkonformismus der von ihm finanzierten Zeitschrift in gewissem Maße amüsierte (er schmeichelte ihm vielleicht ebenso, wie er ihn erschreckte), der sie sich aber nichtsdestoweniger gern rentabler gewünscht hätte«, erinnert sich Michel Leiris: »Diese Zeitschrift, deren wichtigste Mitarbeiter (Bataille und seine Anhänger mit ihren barocken und fast immer auf die eine oder andere Weise selbstherrlichen Schriften, Einstein mit seiner unzugänglichen und fast unübersetzbaren Sprache) fast alle dafür bezahlt zu sein schienen, ihr – jeder auf seine Weise – einen ›unmöglichen‹ Anstrich zu verleihen, bewies ihre Unmöglichkeit im eigentlichen Sinne, als sie ihr Erscheinen nach der 15. Nummer einstellte.«14

Damit tauchte die Zeitschrift wieder in jenes erhabene Reich des Schweigens ein, das typographisch mit jenen drei Pünktchen angezeigt wird, die im Französischen »points de suspension« heißen. Sie suspendieren den Sinn, heben ihn auf, und zwar nicht dialektisch auf eine neue Stufe, sondern indem sie ihn ent-sinnen und damit auf die sinnliche innere Erfahrung hin öffnen: Das war auch das abenteuerliche Herz, in das die Zeitschrift »Documents« vorstieß.

Am Ende blieben 15 Nummern, ein Stapel, so sinnlos wie der abgehackte Pferdekopf, den Bataille am 21. Januar 1936 beim Obelisken in Paris hinterlegen wollte, um gegen die führergläubige Gesellschaft zu protestieren und eine azephalische, kopf- und führerlose Gesellschaft15zu propagieren, die gegen den Zeitgeist die ewige Wiederkunft des Verdrängten feierte: »Das Prinzip des Kopfes als solches ist eine Reduktion auf die Einheit, eine Reduktion der Welt auf Gott.«

Für Bataille zeigte sich paradoxerweise gerade im Scheitern der Zeitschrift eine höhere Kraft: »der schockierende Bruch mit dem Herkömmlichen«.Dank der inneren Spannung zwischen Carl Einstein und Bataille spannte die Zeitschrift einen Bogen zwischen dem Wissen und Nicht-Wissen, einen Bilderbogen mit fragmentarischen Ausblicken auf jene Welt, die sich nicht darstellen, sondern nur erahnen lässt. Und gerade deshalb entblättert sie sich beim Blättern immer wieder in den Jetztaugenblick der Gegenwart.


1 Vgl. Bataille (1942). Alle Zitate aus Werken in französischer Sprache auf Deutsch übertragen vom Autor.

2 »… nach und nach verwandelte sich die Verstümmelung des klassischen Pferdes, von der Entfesselung aller Formen erfasst, in den Ausdruck der monströsen Mentalität jener Völker. Die abscheulichsten Pferde-Affen und Pferde-Gorillas der Gallier, Tiere mit unbeschreiblichen Sitten, Ausgeburten der Häßlichkeit – und doch grandiose Erscheinungen, wahre Wunder –, sie alle bilden eine endgültige, burleske und grauenvolle Antwort der menschlichen Nacht auf die Plattheiten und Überheblichkeiten der Idealisten.« Bataille in »Documents« (1929/1).

3 Vgl. Didi-Huberman (1995); Krauss / Bois (1996).

4 Vgl. Leiris in »Documents« (1929/7); vgl. zu diesem Zweigespann auch: Bataille/Leiris (1999).

5 Bataille (1994), S. 25.

6 Vgl. Boiffard (2014).

7 Vgl. Lotar (1993).

8 Bataille (1961), S. 28.

9 Bataille (1961), S. 27.

10 Bataille in »Documents« (1930/8).

11 Bataille in »Documents« (1929/3).

12 Leider wurde die erste Fassung des Romans von 1928, die um rund ein Drittel länger ist als die zweite von 1940, nie ins Deutsche übersetzt. So bleibt nur der Hinweis auf die Version in Bataille (1977).

13 »Buñuel musste nach dem Dreh des zerschnittenen Auges eine Woche lang krank das Bett hüten«, berichtet Bataille, Bezug nehmend auf »Un chien andalou«, in »Documents« (1929/3) und führt aus: »Ein Rasiermesser fährt durch das blendend schöne Auge einer jungen charmanten Frau – das hätte vielleicht jener junge Mann bis zur Raserei bewundert, den eine kleine liegende Katze anblickte, während er aus Zufall einen Kaffeelöffel in der Hand hielt und plötzlich Lust bekam, deren Auge auszulöffeln. In der Tat eine seltsame Lust für einen Weißen, dem doch die Augen jener Rinder, Lämmer und Schweine, die er isst, stets verborgen bleiben. Das Auge ist, gemäß des exquisiten Ausdrucks von Stevenson, ein kannibalischer Leckerbissen, und stellt für uns ein derart beunruhigendes Objekt dar, dass wir niemals in ein Auge beißen würden. Das Auge ist auch besonders stark mit Horror aufgeladen, weil es als das Auge des Gewissens gilt.«

14 Vgl. Leiris (1963).

15 Vgl. Bataille (1999).

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Stefan Zweifel

studierte Philosophie, Komparatistik und Ägyptologie an der Universität Zürich. Seine Doktorarbeit in Philosophie verfasste er gemeinsam mit Michael Pfister über Sade, Hegel und La Mettrie. Bekannt wurde er durch die ebenfalls mit Michael Pfister erarbeitete Neuübersetzung von Sades Hauptwerken Justine und Juliette. Darüber hinaus wirkte er federführend bei Ausstellungen über den Dadaismus und den Surrealismus mit. Bis 2004 betreute er die dreisprachige Kulturzeitschrift Gazzetta. Er schreibt unter anderem Beiträge für die Neue Zürcher Zeitung und die Zeitschrift »du« und übersetzt literarische Werke – zuletzt u.a. von Rousseau und Roussel aus dem Französischen.

Weitere Texte von Stefan Zweifel bei DIAPHANES
Michel Mettler (Hg.), Basil Rogger (Hg.), ...: Holy Shit

Im Jahr 1929 arbeitete Georges Bataille in Paris mit Michel Leiris, Carl Einstein und Georges-Henri Rivière am Konzept von »Documents«. Es entstand eine Zeitschrift, in der Bilder des Hohen und des Niederen in der Kultur miteinander kollidierten und kommunizierten. Die darin liegende Befragung des Kulturbegriffs war auch ein Anliegen des in Hamburg arbeitenden Aby Warburg. Carl Einstein nahm deshalb Kontakt mit Fritz Saxl und Erwin Panofsky von der Bibliothek Warburg auf, um letztere zu einer Mitarbeit an »Documents« einzuladen. Aus dem vertiefenden Studium dieses Briefwechsels ergibt sich, dass die Begegnung von Batailles »Documents« und Warburgs »Atlas Mnemosyne« innerhalb einer gemeinsamen Ausstellung als eine fast zwingende Konsequenz im Raum stand. Durch den Tod von Aby Warburg am 26. Oktober 1929 zerschlugen sich diese Pläne.
Die vorliegende Publikation rekonstruiert die verschollene Ausstellung und erweitert sie um vier auf die Gegenwart bezogene Räume (Theodrom, Kosmodrom, Technodrom, Soziodrom). Darin wird deutlich, dass ein zeitgemäßer Umgang mit globalisierter Kultur an der durch Warburg und Bataille angestoßenen Bild-Strategie eines radikalen Neu-Konstellierens von Fremdem und Eigenem, Primitivem und Avanciertem, Wissen und Unbewusstem – und somit eines Operierens im und am eigenen Auge – nicht vorbeikommt.

 

Mit Essays von Hartmut Böhme, Elisabeth Bronfen, Diedrich Diederichsen, Michel Mettler, Franziska Nyffenegger, Peter Weber, Sigrid Weigel und Stefan Zweifel.

Inhalt
  • 16–27

    Geschichte keiner Ausstellung OPEN
    ACCESS

    Michel Mettler, Basil Rogger, ...

  • 30–37

  • 38–49

    Aby Warburg. Zwischen kulturwissenschaftlichem Laboratorium und indianischer Reise

    Sigrid Weigel

  • 50–57

    »Die Ganze Skala der Kultur«. Aby Warburg und das Verhältnis zwischen Archaismus und Moderne

    Hartmut Böhme

  • 58–77

    Janus Quadrifrons / Exponate

  • 78–85

    Entzauberung-Verzauberung. Über Formlosigkeit, Unreinheit und Fan-Verehrung

    Diedrich Diederichsen

  • 86–109

    Theodrom / Exponate

  • 110–121

    Die MaschinenFrau. Ein monströs-astrales Denkbild und seine filmischen Ausformungen

    Elisabeth Bronfen

  • 122–151

    Technodrom / Exponate

  • 152–167

    Das Archaische. Eine projektive Figuration des Kulturellen

    Hartmut Böhme

  • 168–187

    Kosmodrom / Exponate

  • 188–197

    Premitivismus und Atavantgarde. Szenen einer Eingemeindung

    Jörg Scheller

  • 198–217

    Soziodrom / Exponate

  • 218–237

    Prosasammlung

  • 238–245

    Literaturverzeichnis

  • 249

    Autorenverzeichnis