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Das Bild eines Menschen, der vollauf vom öffentlichen Gesetz gesteuert ist

Jacqueline Burckhardt

Laurie Andersons ›Dal Vivo‹ oder die virtuelle Flucht aus dem Gefängnis

PDF, 7 Seiten

Im Mailänder Gefängnis San Vittore sitzt Santino Stefanini (*1952) seine Strafe ab. Stefanini, der Räuber, Drogenhändler, Entführer, Mörder, Mitglied der Vallanzasca-Bande, Ausbrecher, Autor von Gedichten und zwei Büchern. Die kriminelle Karriere begann früh und brachte ihm bereits ab dem Alter von sechzehn Jahren lange Aufenthalte in verschiedensten Jugendstrafanstalten Italiens ein. Unzähliger Delikte wegen wurde er 1987 erneut zu dreißig Jahren Haft verurteilt. Alle seine Verbrechen zusammengerechnet würden für über hundert Jahre Freiheitsentzug ausreichen.


Ihm verhalf Laurie Anderson im Juni/Juli 1998 in Mailand zu einer „virtuellen Flucht“ aus dem Gefängnis San Vittore hinaus in den Raum für Kunst der Fondazione Prada an der Via Spartaco 8. Dort, in der Installation mit dem Titel Dal Vivo (Direktübertragung), stand während der Dauer von einem Monat die Sitzfigur Stefaninis aus Gips, eins zu eins nach seinen Körpermaßen geformt. Deckungsgleich fiel auf die Skulptur die Projektion seines Bildes. Bewacht von Wärtern saß er für die Aufnahme frontal und in strenger Haltung, beide Hände flach auf die Oberschenkel gelegt, auf einem Stuhl vor laufender Kamera im Gefängnis. Die perfekte Korrespondenz von Projektion und Skulptur kontrollierte er in der Closed-circuit-Konstellation selbst: Nebst der Kamera war vor ihm ein Monitor mit der markierten Umrisslinie seines Bildes angeordnet. Innerhalb dieser Zeichnung hatte er sich bei der Selbstbetrachtung starr und stumm zu verhalten. Dreimal täglich für eine Viertelstunde fiel die Direktübertragung auf die Skulptur im Ausstellungsraum. Während der übrigen Zeit lief die Aufzeichnung dieser Aufnahme. Kleine Zuckungen im Gesicht, minimale Bewegungen und Stefaninis Atmen verrieten, dass es sich weder um ein Videostill noch um eine Diaprojektion handeln konnte. Den Wechsel von Aufzeichnung zu Direktübertragung kündigte eine Bildstörung an, bis mit einem Mal Stefanini live wieder auftauchte, manchmal anders gekleidet. Die Situation war verblüffend: Für einmal ermöglichten ihm dieselben Instrumente, die ihn allgegenwärtig rund um die Uhr überwachten, eine ebenso geplante wie sanktionierte Flucht. 


Im Ausstellungsraum war es dunkel. Nur so konnte sich im Licht der Projektion die elektronische „Transsubstantiation“ ereignen. Der Boden des Saals war mit schwarzem Schotter bedeckt. Leicht taumelnd ging man da auf unstabilem Grund. Die Schritte verursachten ein Knirschen, dem sich ein dumpfer, von Anderson komponierter Ambientsound beimischte. Wie kaum jemand weiß diese Künstlerin optische, taktile und akustische Mittel zu orchestrieren, um einen in den Zustand geschärfter tagträumerischer Wahrnehmung zu versetzen. 


Stefaninis Anwesenheit aus Licht auf Gips wirkte gespenstisch. Die Figur war alles andere als die bloße Repräsentation des Gefangenen. Er hätte in Fleisch und Blut kaum gegenwärtiger...

  • Porträt
  • Installation
  • Virtuelle Realität
  • Potentialität
  • Gefängnis
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Jacqueline Burckhardt

Jacqueline Burckhardt

ist eine Schweizer Kunsthistorikerin.  Während ihrer Ausbildung als Restauratorin am Istituto Centrale del Restauro in Rom erledigte sie im Auftrag des ICCROM (International Center for Conservation and Restauration, Rome) Missionen in Dublin, Segovia, Brașov (Rumänien), Venedig, Göreme (Türkei). Anschliessend studierte Burckhardt an der Universität Zürich Kunstgeschichte, Archäologie und außereuropäische Kunst. 1989 promovierte sie mit der Dissertation »Giulio Romano, Regisseur einer Verlebendigten Antike«.

Jacqueline Burckhardt ist gegenwärtig Mitherausgeberin und Redakteurin der Kunstzeitschrift Parkett.

Weitere Texte von Jacqueline Burckhardt bei DIAPHANES
  • Vorwort

    In: Nanni Baltzer (Hg.), Jacqueline Burckhardt (Hg.), Marie Theres Stauffer (Hg.), Philip Ursprung (Hg.), Art History on the Move

Nanni Baltzer (Hg.), Jacqueline Burckhardt (Hg.), ...: Art History on the Move

Das Thema »On the Move« ist in vielschichtiger Weise mit Kurt W. Forster verbunden, dem dieser Band gewidmet ist. Es charakterisiert die Geistes- und Lebenshaltung dieses Architektur- und Kunsthistorikers, der über epochale, mediale und disziplinäre Grenzen hinweg forscht: Mit Leichtigkeit bewegt er sich zwischen Pontormo und John Armleder, Giulio Romano und Frank Gehry, K. F. Schinkel und Mies van der Rohe, Aby Warburg und W. G. Sebald, W. H. Fox Talbot und Andreas Gursky. Er interessiert sich für den Zusammenhang von Musik und Architektur wie für den Schaffensprozess von Architekten. »On the Move« beschreibt ferner die biographische Situation Forsters, der an der Stanford University, dem MIT, der ETH Zürich oder der Bauhaus Universität Weimar unterrichtete und aktuell an der Yale School of Architecture tätig ist. Als Lehrer hat er Generationen von Studierenden für die uneingeschränkte curiositas begeistert, als Direktor des Schweizer Instituts in Rom, des Getty Research Center in Los Angeles oder des Canadian Centre for Architecture in Montreal den Austausch unter Forschenden gefördert. Zudem kuratierte er prägende Ausstellungen wie die Architekturbiennale 2004 in Venedig.

Die unterschiedlichen Beiträge des Bandes sind ein Spiegel von Forsters jahrzehntelanger Tätigkeit: Architekturthemen erstrecken sich von den Anfängen des Markusdoms in Venedig über Charles De Waillys Pariser Panthéon-Projekt, das Thomas Jefferson Memorial, den Barcelona-Pavillon Mies van der Rohes oder die Architekturfotografie im faschistischen Italien bis zu Achsen und ihren Brüchen in Paris und Berlin. Analysen im Bereich der Bildkünste behandeln Momente kollektiven Erinnerns in Fra Angelicos Fresken ebenso wie Pipilotti Rists elektronische Urhütte oder Laurie Andersons »Dal Vivo«. Literarische Auseinandersetzungen umfassen etwa Nietzsches Venedig-Gedichte, verschollene Briefe von Nabokov oder die Hauptstädte Walter Benjamins. Zudem enthält der Band zahlreiche persönliche Erinnerungen sowie architektonisch-künstlerische Interventionen.

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