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Plädoyer für eine Slow Science

Isabelle Stengers

Plädoyer für eine Slow Science

Übersetzt von Marion Schotsch und Susanne Stemmler

PDF, 17 Seiten

Die neuen Management-Instrumente, mittels derer die so genannte Exzellenz unserer Hochschulen heute evaluiert werden, führt zu einer Redefinition dessen, was als Wissen gilt. Isabelle Stengers Eintreten für eine »langsame« Wissenschaft richtet sich in erster Linie an die Spezialisten der »schnellen«, das heißt experimentellen Wissenschaften und deren symbiotische Verflechtung mit Wirtschaft und Industrie. Die Begründung, mit der eine Wissenschaftlerin nach ihrer Teilnahme an öffentlichen Protestaktionen gegen Feldversuche mit genmanipulierten Pflanzen entlassen wurde, ist für Isabelle Stengers Beispiel eines ohnmächtigen, kontextlosen und von ethischen Fragen losgelösten Wissens. Ihr philosophiehistorisch hergeleitetes Plädoyer für ein demokratisches Verhältnis zum Wissen als dringlichste Aufgabe der Universitäten führt uns die Notwendigkeit einer neuen Bedächtigkeit im Umgang mit der Bewertung wissenschaftlichen Wissens vor.

Auf dem stolzen Wappen der Université Libre de Bruxelles, an der ich unterrichte, ist ein Engel zu sehen, der einen Drachen besiegt, dazu das Motto Scientia Vincere Tenebras.2 Das ist ein edler, aber auch äußerst anspruchsvoller Wahlspruch. Verlangt er doch, oder sollte es zumindest, dass sich seine Verfechter fragen, was »Wissenschaft« und »Dunkelheit«, aber auch was »besiegen« hier und heute bedeuten.


Der Engel trägt Harnisch und Lanze. Es gibt hier keine Mehrdeutigkeit, keine sinnliche Übereinkunft, keine Gemeinsamkeit zwischen der bloßen, abstrakten Waffe und dem gekrümmten Körper des Ungeheuers, der von ihr durchbohrt wird. Das ist übrigens auch der Grund, warum man die Kreationisten an meiner Universität so ›schätzt‹: Sie sind die perfekte Verkörperung des Feindes, mit dem ein Kompromiss undenkbar ist. Und bei der Vorstellung, in unseren Schulen oder gar unter unseren Studenten könnte jemand offen – welche Freude, einen Lehrer ins Stottern zu bringen – oder heimlich – mit perfekten Antworten auf die obligatorischen Fragen beweisen, dass man ›verstanden‹ hat – für diesen Feind Partei ergreifen, werden diejenigen, die dabei ihren jugendlichen Elan wiederfinden, von blankem Entsetzen gepackt. Der Kampf ist nicht vorbei, wir sind immer noch die Herolde des Lichts! Null Toleranz! Keine Chance dem Relativismus!


Doch die polemische Doppelbedeutung von »Licht« und »Dunkelheit« reicht weit zurück (ebenso weit wie die Anklage gegen die Sophisten im Namen der damals gerade frisch aus der Taufe gehobenen »Vernunft«). Das aktuelle Hohngelächter könnte die uralte Mobilisierung der Vernunft gegen die Verfechter der Dunkelheit in ein Spektakel für Einfaltspinsel verwandeln, während der glorreiche Engel sich nunmehr damit beschäftigt, seinen h-Index zu verbessern, seine Forschungen auf Themen auszurichten, die eine Publikation in einer renommierten Fachzeitschrift versprechen, oder einen ›Partner‹ aus der freien Wirtschaft zu gewinnen, nunmehr unabdingbar für eine exzellente Forschung, die wohl zu einer ›nachhaltigen‹ Entwicklung, vor allem aber zu einem Wettbewerbsvorteil führt.


»Die Uhren lassen sich nicht anhalten« – diese unvergessliche Formel des Sozialisten Pascal Lamy, damals europäischer Handelskommissar und mittlerweile folgerichtig zum Generaldirektor der Welthandelsorganisation befördert, scheint unsere Situation treffend zu beschreiben. Jeder weiß, dass die neuen Management-Instrumente, mittels derer die Exzellenz des Engels evaluiert wird, unweigerlich zu einer Neudefinition dessen führen, was als Wissen gilt. Die meisten tun aber so, als ob es sich auf die eine oder andere Art nur darum handele, sich neuen Zwängen anzupassen. In diesem Fall scheint die Rolle der Kassandra zwecklos, denn das ›Als ob‹ verweist nicht auf irgendeine Art von Blindheit. Wir wissen alles, was es zu wissen gibt, aber es...

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Isabelle Stengers

ist Wissenschaftsphilosophin und lehrt an der Université libre de Bruxelles. Ihre Forschung befasst sich u.a. mit Physik, Chemie, Ethnopsychiatrie, Whitehead und Deleuze.

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Susanne Stemmler (Hg.): Wahrnehmung, Erfahrung, Experiment, Wissen

Wissenschaftsnahe Arbeitsweisen von Künstlerinnen und Künstlern – oft als »künstlerische Forschung« bezeichnet – werfen Fragen der Produktion, des Teilens, des Dekonstruierens und der Wiederaneignung von Wissen auf. Verhältnisse von Objektivität und Subjektivität sind dabei stets untergründiges oder auch explizit angesprochenes Thema: Während von »den Wissenschaften« oft noch eine »objektive« Herangehensweise erwartet wird, reklamieren die Künste die Freiheit und das Recht auf »Subjektivität«. Es ist aber genau der schmale Grat zwischen diesen beiden Extremen, auf dem Definitionen künstlerischer und wissenschaftlicher Praktiken ausgehandelt werden. Der Band versammelt Positionen von Expertinnen und Experten aus Wissenschaften und Künsten sowie von Künstlerinnen und Künstlern zu diesem Thema.

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