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Claas Morgenroth: 1969
1969
(S. 193 – 203)

»und so sitze ich jetzt da und schreibe…«

Claas Morgenroth

1969
Oswald Wiener. »Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman«

PDF, 11 Seiten

Wie entsteht Kunst? Oswald Wieners Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman gehört zu den bekanntesten Texten der experimentellen Nachkriegsliteratur. Zwar taucht der Begriff der Improvisation im Buch nicht auf – im Gegensatz zu ›Einfall‹, ›Idee‹, ›Moment‹ oder ›Prozess‹ – aber Wieners ›improvisierende‹ Schreibpraxis hält einige überraschende Einsichten bereit. Für Wiener bezeichnet ›Improvisation‹ ein Verfahren, Unvorhergesehenes als Vorhersehbares zu begreifen. Improvisation ist demnach eine Praxis, die Konventionen, Routinen, Klischees, Etabliertes sichtbar macht, also all das, das sonst durch den Kraftakt der Überarbeitung verdeckt werden soll (und womöglich, im Falle des Misslingens, vernichtet wird). Sie bringt damit auf radikale Weise die Produktionsbedingungen des Hervorgebrachten zum Ausdruck und bildet damit das Vorspiel jeder Kunst, die versucht, im Sinne des Werkes oder der ›Kunst‹ die eigenen Entstehungsbedingungen und Limitationen unsichtbar zu machen.

1969
Oswald Wiener
Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman

»und so sitze ich jetzt da und schreibe, wundere mich was für sonderbare änderungen mit mir passiert sind in den letzten paar jahren seit den ersten zeilen, von denen ich kein wort mehr verstehe. […] tja. hertha sagte sie habe kopfschmerzen und möchte weggehen, nach haus am besten und mir fiel nichts gescheiteres ein als tschüs du und dachte wenn ich das schreibe na, und dann schrieb ich das unbekümmert um wahrheit und wirklichkeit und das übereinstimmen und widerspiegeln und ethos und logos na ihr werdet das schon hinkriegen und originell wars ohnehin, wenn man das so bedenkt.« (Wiener 1969, CXVIIf.)

Oswald Wieners Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman gehört wohl zu den bekanntesten Texten der experimentellen Nachkriegsliteratur, lässt sich aber schlecht kategorisieren oder thematisch einordnen. Reduziert man ihn auf einige Philosopheme, dann liest er sich wie eine Abrechnung mit den theoretischen Grundpfeilern der Wiener Gruppe: Ludwig Wittgensteins Tractatus und Philosophische Untersuchungen, dem Kommunikationsdogma der zeitgenössischen Sprachphilosophie, mit dem linguistic turn allgemein (→ Wiener 1967, 1970 und 1987; zusammenfassend → Eder 2000). Die viel diskutierten »Notizen zum Konzept des Bio-Adapters, Essay«, die sich am Schluss der Verbesserung befinden, weisen schließlich über die sprachkritische Dimension des Buches hinaus, indem sie sich an der Vision eines »›glücks-anzug[s]‹« versuchen, der »m.e. erste[n] diskutable[n] skizze einer vollständigen lösung aller welt-probleme.« (Wiener 1969, CLXXV) Der Adapter soll ermöglichen, den Menschen nach und nach zu seiner eigenen Umwelt zu machen, um ihn auf diese Weise zu einem von äußerlichen Reizen unabhängigen System zu formen. ›Sprache‹ bildet dann kein Problem mehr.

Der Begriff der Improvisation selbst taucht im Buch nicht auf, im Gegensatz zu ›Einfall‹, ›Idee‹, ›Moment‹ oder ›Prozess‹, die auf zum Teil idiosynkratische Weise gebraucht werden. Dagegen steht die Poetik der Verbesserung im Zeichen einer ›improvisierenden‹ Schreibpraxis. Mit der aphoristisch anmutenden Ordnung des sich über einen Großteil des Buches erstreckenden »Vorworts«, abgehörten Zitaten – »das reden war so geworden als ob ich nur in zitaten redete, aber es klang gut« (Wiener 1969, CXX) –, situativen Überlegungen, Stegreifreden, einer Kleinschreibung ohne Punkt und Komma, gedanklichen Sackgassen, Satzabbrüchen und Auslassungen dokumentiert bzw. inszeniert Wieners rhetorisches Arsenal einen Gedankenstrom, der sich selbst und seinen Einfällen überlassen scheint. Dazu treten in scharfem Kontrast wissenschaftlich anmutende Reflexionen:

»wenn es wahr ist dass die sprache der verständigung dienen soll na hörn sie nein nein. […] oswald sitzt da, sieht sich an wie ein gelehriger Pudel und … versteht kein wort. […] aufpassen:! oswals stellt sich als mit der schreibmaschine geschrieben heraus. es will einen schlick: ›moang da hea … no eia. wiaschdln. baunansubbm …‹ versteh kein wort. schilling. kein wort. ›m. no … und gibds füleichd a restaurau do … inda nä …‹ einen schlick. aum sundog?« (Wiener 1969, CXXVI)

Wiener kann sich hier auch auf Erfahrungen der Wiener Gruppe stützen, zu deren Prinzipien gehörte, unvorhergesehene Situationen zu schaffen, die Improvisationen erzwingen (Wiener 1967). Er steht damit einerseits in der Tradition der Situationisten, der Konzeptkunst und performance art, andererseits in der des Surrealismus und der Automaten- oder Maschinenpoesie: »was geschieht, stösst mir zu« (Wiener 1969, LXXIX). Zu dieser Stellung gehört auch, Selbstgeschriebenes nicht mehr zu verstehen: »den Sinn dieser Passage verstehe ich heute (1968) nicht mehr ganz« (Wiener 1969, CXX). Nur verharrt Wiener nicht in dieser Position, sondern gebraucht das aus concept und (improvisierter) performance gewonnene Material für eine an der Kybernetik ausgerichtete Bewusstseinsforschung. Was in der Verbesserung noch als Problem formuliert wird, die Unhintergehbarkeit der Sprache und die Metaphysik des Verstehens, entwickelt sich zu jener automatentheoretischen Position, für die Wiener heute bekannt ist:

»ich bin heute der meinung, daß man ›mentale‹ und physiologische repräsentationen ohne speziellen bezug auf Sprache untersuchen kann und sollte; ich glaube, daß sprache in den kognitiven mechanismen eine große rolle spielen kann, nicht aber, daß sie, (als das, was linguisten untersuchen) einen entscheidenden teil davon bildet.« (Wiener 1987, 56)

Wieners Verbesserung liefert den Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von Überlegungen zur kognitiven Psychologie, die sich schließlich sehr weit von den Fragestellungen der Verbesserung entfernen, zumal Wieners spätere Erkenntnistheorie nur bedingt eine ästhetische Theorie entwirft bzw. sich eher vorsichtig zur Möglichkeit von Kunst äußert (→ Wiener 1980) und stattdessen eine eigene Position innerhalb der Kognitionswissenschaften vorträgt. So versucht Wiener, die Turingmaschine als basales Erklärungsmodell des menschlichen Bewusstseins aufzufassen (→ Wiener, Bonik, Hödicke 1998) und den Modus der Selbstbeobachtung gegen den (zumindest in den 60er und 70er Jahren) dominierenden Behaviorismus zu rehabilitieren. In Auseinandersetzung mit einer anderen Größe der experimentellen Literatur, Arno Schmidts Zettel’s Traum, kommt Wiener auf die Frage zu sprechen, welchen Platz ›die Literatur‹ innerhalb dieser Problemstellung einnimmt. Erst skelettiert er Schmidts Opus magnum auf unnachahmliche Weise, dann wirft er ihm eine Gelehrsamkeit vor, die nichts über sich selbst weiß und wissen will:

»SCHMIDT sieht, denkt, träumt, wünscht und erklärt als PAGENSTECHER drauflos, dass es eine art hat; aber was er sieht, sieht er ohne das sehen zu sehen, was er denkt, denkt er, ohne über gedanken nachzudenken, träume sind ihm einfach und fraglos träume, die nach dem traumbuch psychoanalysiert werden […]. würde SCHMIDT detaillierter, wirklich detaillierter, so näherte er sich der grenze, welche die gegenwartsliteratur von JOYCE trennt: die hinwendung auf die bedingungen des sinns vernichtet den sinn. die moderne literatur entsteht aus dem scheitern des versuchs, das detail zu erfassen.« (Wiener 1979, 28)


Mit dem Hinweis auf das ›Detail‹ stößt man auf den bereits für die Verbesserung gewichtigen Aspekt der ›Genauigkeit‹. Dort folgt auf eine Kritik am Surrealismus der berühmt gewordene, fünf Seiten andauernde Versuch, einen Bleistift zu beschreiben (→ Wiener 1969, XLIII–XLVIII). Die Arbeit am Detail stellt dabei auf zunehmend dramatische Weise deren notwendiges, aber keinesfalls überflüssiges Scheitern dar. Denn wie die prozessorientierte oder wahlweise produktionsästhetisch orientierte Literatur und Wissenschaft interessiert sich Wiener für die spezifische Logik des Vorgangs der genauen Beschreibung. Wie können Ideen, Lösungen, Irrtümer gefunden und geordnet werden, wie systematisch lassen sich Einfälle generieren, und lassen sie sich überhaupt generieren? Aufgabe der Literatur sei, für Fragestellungen dieser Art das geeignete Material zu liefern. In ferner Erinnerung an Heinrich von Kleists Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden fügt Wiener seiner Kritik an Zettel’s Traum eine »Plauderei über Höhere Literatur« hinzu – die Transkription eines Gesprächs zwischen »A.: zitate«, »I: weiblich« und »O.: Österreicher«, das trotz der typischen Abbrüche, Redundanzen und gedanklichen Suchbewegungen das Feld der experimentellen Literatur umreißt und zentrale Fragestellungen und Begriffe der modernen Ästhetik aufruft und problematisiert: Individualität und Form, Stil und Klischee, Mechanismus, Konvention und Gefühl, Analogie und Inhalt. Wie die Verbesserung mischt die »Plauderei« Theorie und Praxis, um für die ›literarische‹ Erarbeitung spontaner (Selbst-)Beobachtungen die geeignete Grundlage zu schaffen. Das Denken muss gedacht werden; das Improvisierte muss improvisiert werden.

Welche ästhetischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind, hat Wiener musikalisch und literarisch ausgearbeitet, u.a. mit der Reihe »Selten gehörte Musik«:

»Wir haben uns zusammengefunden, eine Art Ästhetik des Scheiterns auszuprobieren, das heißt eine Ästhetik des Nichtkönnens, des Möchtens, des Wollens. Und dies ist eine sehr schmerzhafte Ästhetik, es ist eine Ästhetik der Peinlichkeiten, der Blamage, des Verzichts. Da es aber eigentlich darum geht, zu ergreifen, emotional auf einen Hörer einzuwirken, gibt es natürlich dieses Blamiertsein und die Peinlichkeit als eine Art Ergriffenheit und als ein Spiel damit.« (Wiener 2005)

Improvisation bedeutet hier, etwas ungeschützt zu tun, indem zum Beispiel jeder ein Instrument zu spielen bekommt, das er nicht beherrscht. Die Beteiligten setzen sich gezielt einer unmöglichen Situation aus, in der sie haltlos auf die ihnen verfügbaren Möglichkeiten zurückgeworfen werden. Dieser Versuch muss ›scheitern‹, eröffnet dadurch aber den Blick auf den Einsatz, den ›Wunsch‹ sowie auf all die Wege und Techniken, die unter regulären, konventionalisierten Umständen beschritten bzw. genutzt werden. Die zu erwartende ›Blamage‹ ist insofern ›ergreifend‹ (dazu Wiener 1980), als sie die Persönlichkeit und Individualität der Mitwirkenden decouvriert und damit gleichsam auf die Hörer übergreift, die entweder von der abgelieferten musikalischen Katastrophe peinlich berührt sind und/oder sich selbst in dem Bemühen der Musik(er) wieder erkennen. In diesem Sinne verteilt sich Wieners Kritik am herkömmlichen Verständnis der Improvisation im Jazz (→ Bailey 1993 und Wilson 1999, aufgeführt in Wiener 2003/2004) zugespitzt auf zwei Punkte: 1. ›Gute‹ Improvisation reproduziert eine Sozialisation, ohne deren Qualität wiedergeben zu können, d.h. sie versucht etwas spontan hervorzubringen, das vorher mühevoll antrainiert worden ist, beraubt sich aber der Möglichkeit, das Hervorgebrachte zu prüfen, zu überarbeiten oder zu verwerfen. Übrig bleibt ein Abklatsch des Möglichen. 2. Das fragwürdige Ergebnis dieser Form von Improvisation wird verdeckt durch einen erklärenden Überbau, der Selbstverwirklichung, Ganzheitlichkeit, flow und andere vergleichbare Konzepte sakralisiert und damit den Blick auf die Komplexität der Improvisation verstellt.

Die Blamage führt den Begriff der Improvisation gezielt auf die Frage zurück, unter welchen Bedingungen respektive nach welchen idealen, materialen, physiologischen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen etwas entsteht (Kunst etwa). Insofern bezeichnet ›Improvisation‹ ein Verfahren, Unvorhergesehenes als Vorhersehbares zu begreifen. Improvisation wäre demnach eine Praxis, die Konventionen, Routinen, Klischees, Etabliertes sichtbar macht, also all das, das sonst durch den Kraftakt der künstlerischen Überarbeitung, Formung, Harmonisierung oder Spektakularisierung verdeckt werden soll (und womöglich, im Falle des Misslingens, vernichtet wird). Wenn im Zuge der Improvisation entdeckt wird, dass sie misslingt (also nichts Neues oder Überraschendes gelingen will), dann springt der Zwang des Einfalls hervor (zu einer solchen Verbindung von Zwang, Kalkül und Improvisation → Rakusa 2003), das Misslungene zu wiederholen, um dadurch dem unvorhergesehenen Fehler (der nur ein ›Fehler‹ sein kann, weil er als solcher nicht in das zurechtgelegte Schema passt) eine innovative Wendung zu geben. Improvisation bringt also – womöglich – auf radikale Weise die Produktionsbedingungen des Hervorgebrachten zum Ausdruck und entsteht dort, wo sie auf jene Grenzen stößt, zwischen denen sie sich bewegt. Sie bildet damit das Vorspiel jeder Kunst, die versucht, im Sinne des Werkes oder der ›Kunst‹ die eigenen Entstehungsbedingungen und Limitationen unsichtbar zu machen.

Eine literarische Ausarbeitung dieser These bietet Wieners unter Pseudonym veröffentlichter »Schundroman« (Wiener zitiert nach Herken 1996, VIII) Nicht schon wieder …! Eine auf einer Floppy gefundene Datei, der das in der analytischen Philosophie diskutierte (und von Wiener im »Bio-Adapter« unter anderen Vorzeichen antizipierte) Gedankenexperiment eines brain in a vat aufgreift (zur philosophischen Debatte → Putnam 1999). Im ›Tank‹ liegt das Gehirn Zdenko Puterwecks, das am Leben erhalten wird, um ihm ein Staatsgeheimnis zu »entlocken«. Auf sich selbst und die lebenserhaltenden Apparate angewiesen, liefert das Romangehirn eine geschlossene Reihe von Selbstbeobachtungen, die u.a. um die Frage kreisen, wie eigentlich der unaufhörliche Reigen an Einfällen, Gedanken und Assoziationen zu verstehen und zu erklären sei. Dabei wechseln sich Beobachtungen und wissenschaftliche Erklärungsversuche ab. Improvisiert wird im Wortsinn ständig, da die Gehirnbewegungen pausenlos Bilder produzieren, die nicht ›bewusst‹, sondern ›automatisch‹ hervorgebracht werden. Kunst und Ästhetik haben hier ihren Anfang: »mit Warhol zB: sonnenklar daß d. ästh. Prozeß pausenlos u. automat. arbeitet bei jedermann, u. daß also ästh. Erlebnisse auch auf Langeweile u. Lebensekel operieren. […] Kunst als Verstehen des menschlichen Verstehens! oder auch: Verstehen als Kunst!« (Präkogler alias Wiener 1990a, 41) Die Aufgabe der Kunst ist, Material hervorzubringen und bereitzustellen, an und mit dem die Praxis des Denkens aus der Perspektive der Kognitionswissenschaften untersucht werden kann. Man sollte das Konzept allerdings nicht so missverstehen, dass der Kunst damit eine allein dienende Funktion zukommt. Wiener formuliert vielmehr eine allgemeine Produktionsregel künstlerischer und wissenschaftlicher Praxis, die in der Formel ›Verstehen des Verstehens‹ das Feedbackprinzip selbstreflexiven Handelns auf den Punkt bringt, zu dem auch die Improvisation gehören soll.

In einem begriffsgeschichtlichen Kontext stellen Wieners Überlegungen zur ›Improvisation‹ demnach eine Provokation dar. Improvisationen sind nicht Ausdruck von Spontaneität und Kreativität. Im Gegenteil: Gerade weil sie nicht wohlüberlegt, geplant, überarbeitet, differenziert und damit das Gegenteil von Kompositionen sind, beruhen sie auf einem relativ schmalen Set von konventionalisierten Handlungen, eingeübten Denkweisen und festen Abläufen. Das Überraschende der Improvisation liegt darin, wenn überhaupt, unvorhersehbare und ›fehlerhafte‹ Kombinationen eingeschliffener Handlungen zu provozieren sowie allgemein Geläufiges sichtbar und erfahrbar zu machen.

Wieners Kritik an der improvisatorischen Praxis und Mystifizierung gehört allerdings – ohne dass Wiener dies eigens thematisiert – zur Geschichte der Improvisation dazu. Quintilian etwa begrenzt die Kraft der Improvisation auf einen engen Bereich der organisierten Rede und begreift sie so als elaboriertes Produkt eines an sich spezialisierten Trainings (→ Quintilianus 1974; zu Quintilian → Wiener in: Tabbert 2005, 126). Und die Zeitgenossen der romantischen Improvisatoren lehnten das Extemporieren als letztlich künstlerisch fragwürdiges Kombinieren einstudierter poetischer Phrasen ab (→ Esterhammer 2005 und 2008). Rückt man die Verpflichtung zur Automatisierung (oder wahlweise: Mechanisierung) und deren Kritik an den (post)modernen Subjektdiskurs heran, wird deutlich, dass die aufgeworfene Frage nach der Gestalt des Einfalls an einen spezifischen Begriff des »Kreativsubjekts« (Reckwitz 2006, 441f.) gebunden ist, der von der improvisatorischen Praxis Mitte des 18. Jahrhunderts zur Geniepoetik und zum Innovations- und Subjektivierungsdispositiv der Kunst reicht (→ Moser 2006). Wiener wendet sich nun nicht nur gegen diese Form des genialen und/oder unerklärten Einfalls, sondern versucht zugleich ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, wie solche (vermeintlichen) Einfälle zustande kommen und vor allem beschrieben werden können. So trainiert er bestimmte Fähigkeiten (etwa des Hörens oder Vorstellens) und beschreibt zugleich, welche Widerstände auftreten im Hinblick sowohl auf die Umsetzung als auch auf die Beschreibung der Schwierigkeiten und Leistungen dieser Versuche. Die Entdeckung der Entstehungsbedingungen, des Rahmens und der produktionsästhetischen Elemente der Improvisation bedarf der »Selbstbeobachtung« (→ Wiener 1990b) schon deshalb, weil sie jene Schleife bezeichnet, die zwischen der Beobachtung der Improvisation und der Improvisation ›selbst‹ entsteht. Erst durch die Introspektion, d.h. durch die Suche nach einer kreativen Lücke im Fortgang der ›Improvisation‹ genannten Wiederholung von Verhaltensmustern und mechanisierten Abläufen, die Aufdeckung von Zwängen, Grenzen und Fehlern sowie die Introspektion der Introspektion können die Strukturen des Denkens, des ›Bewusstseins‹, ›des Ich‹ usf. aufgetan werden (was nicht heißt, dass sie dann quasi objektiv vorliegen, im Gegenteil: Sichtbar wird dabei vor allem die Verwicklung der Versuchsanordnung). So ist die Frage der Improvisation für Wiener eine evident körperliche Frage. Musikalische Improvisationen, gerade im freien Jazz, dechiffriert er darum nicht als geistige Höhenflüge, die sich über die Materialität des Mediums/des Instruments und die körperliche Dimension der ausführenden Organe oder Glieder hinwegsetzen, sondern als de facto rein körperlich ablaufende, gewissermaßen maschinell oder automatisch durchgeführte Aneinanderreihungen von antrainierten Bewegungen und Schemata (→ Wiener 2003/2004). Was bleibt, ist nicht das flüchtige Ereignis spontanen, kreativen Spiels, sondern der monochrome Charakter der Wiederholungen, des Patternspiels.

Nun problematisiert Wiener den Begriff der Improvisation stets indirekt (eine Ausnahme bildet Wiener 2003/2004), weshalb die bis zu dieser Stelle vorgetragene Rekonstruktion einiger poetischer Grundzüge der Literatur und Theorie Oswald Wieners den Begriff der Improvisation vereinfachend als Platzhalter oder Chiffre einer ganz anders operierenden Terminologie gebraucht hat. Bezeichnend für Wieners indirekte ›Strategie‹ ist ein Beitrag über das »›Klischee‹ als Bedingung intellektueller und ästhetischer Kreativität«, der, publiziert in der von Walter Fähndrich herausgegebenen Schriftenreihe Improvisation IV, den Begriff der Improvisation gar nicht erwähnt. An dessen Stelle tritt, verkürzt gesagt, das ›Klischee‹, das »nichts anderes [ist], als ein wohlausgebildetes, ›automatisch‹ gewordenes Schema« (Wiener 1998a, 97). Um die Reichweite dieser Formulierung zu begreifen, bedarf es einer grundlegenden Umwälzung der tradierten kulturwissenschaftlichen Beschreibungsformen von Kreativität und Produktivität, die nolens volens den Begriff der Improvisation (zumindest in seiner rhetorischen und handlungstheoretischen Dimension) überflüssig macht. Wiener beruft sich vor allem auf Jean Piaget und wiederum auf Alan Turing, um darzustellen, in welcher Hinsicht Kunst – wenn sie überhaupt noch von Belang sein möchte – die Aufgabe hat, das menschliche Denken in seiner Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit beobachtbar zu machen (→ dazu besonders Schiewer 2004). Dafür bedarf es, wie Wiener am Beispiel Franz Josef Czernins und Gerhard Rühms zusammenfasst, einer Poetik, die einerseits »immer noch auf dem hausbackenen Funktionieren der Klischees« basiert, andererseits aber »ein neues Niveau [erreicht], da die Klischees über ihr Funktionieren hinaus selbst als Material verwendet werden« (Wiener 1998a, 101). Wer sich diese Überlegung zu eigen macht, wird unter Improvisation die mehr oder weniger bewusste Provokation der vorhandenen Klischees qua Anwendung verstehen – womit Wiener auf verwickelte Weise die Ambivalenz des altgriechischen Wortes für improvisieren: autoscediazw (aus dem Stegreif etwas notwendig oder unüberlegt tun) aufnimmt. Die umfasst nun nicht nur die künstlerische Praxis, sondern den Begriff der Kreativität allgemein. Dafür ein Beispiel: Wem partout nichts einfällt, wird in seiner Not einfach anfangen (zu schreiben, zu spielen, zu denken), unter der Auflage, den Anfang als das zu betrachten, was er unter den gegebenen Umständen ist: eine mehr oder weniger planlose, unüberlegte, aus dem Stegreif vorgenommene Aktualisierung eigentlich unerwünschter (es fällt einem ja nichts ein) und vorhersehbarer Phrasen oder Hülsen. Bei diesem Vorgehen führt die Hand (im Falle des Schreibens) ›automatisch‹ oder auch schematisch aus, was durch die Selbstbeobachtung als gegenläufiges Schema kritisch begleitet wird.

»In der Tat kommt es, wie jeder Selbstbeobachter weiß, nicht selten zu intellektuellen, sehr oft aber zu ästhetischen Entdeckungen, wenn man sich zwingt oder aus irgendeinem Grund gezwungen ist, eine gegebene Auffassung trotz offenbarer Widersprüche zwischen Schema und Zeichenfolge durchzusetzen.« (Wiener 1998b, 97)

Die gezielt hervorgerufene Konkurrenz zwischen zwei Schemata dient der Kontrolle und Korrektur, um zu einem anderen, erwünschten, aber zuvor unbekannten Ergebnis zu gelangen, das zuweilen nachträglich zum numinosen Produkt der Kreativität erklärt wird. Vor diesem Hintergrund zeigt Die Verbesserung, dass ›Improvisation‹ womöglich jene »Spannung« (Wiener 1998b, 99) bezeichnet, die aus der Überforderung und Überdehnung verfügbarer Schemata hervorgeht.


Literatur

— Bailey, Derek: Improvisation. Its Nature and Practise in Music (1980), London 1993.

— Eder, Thomas: »Erkenntnis in Dichtung und Naturwissenschaft. Zu Oswald Wiener und Reinhard Priessnitz«, in: Kurt Bartsch (Hg.): Avantgarde und Traditionalismus. Kein Widerspruch in der Moderne?, Innsbruck u.a. 2000, S. 81–95.

— Esterhammer, Angela: »The Cosmopolitan Improvvisatore. Spontaneity and Performance in Romantic Poetics«, in: European Romantic Review 16/2 (2005), S. 153–165.

— Esterhammer, Angela: Romanticism and Improvisation. 17501850, Cambridge 2008.

— Herken, Rolf: »Geleitwort des Herausgebers«, in: Oswald Wiener: Schriften zur Erkenntnistheorie, Wien, New York 1996, S. V–X.

— Moser, Christian: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tübingen 2006.

— Putnam, Hilary: »Brains in a Vat« (1981), in: Keith DeRose und Ted A. Warfield (Hg.): Skepticism. A Contemporary Reader, Oxford u.a. 1999, S. 27–42.

— Quintilianus, M. Fabius: Institutio oratoria X. Lehrbuch der Redekunst. 10. Buch, Lateinisch und Deutsch, übers. und hg. von Franz Loretto, Stuttgart 1974.

— Rakusa, Ilma: »Zwischen Zufall und Kalkül. Reflexionen zur ›Improvisation‹ in der Literatur«, in: Walter Fähndrich (Hg.): Improvisation V, Winterthur 2003, S. 99–105.

— Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.

— Schiewer, Gesine Lenore: Poetische Gestaltkonzepte und Automatentheorie. Arno Holz – Robert Musil – Oswald Wiener, Würzburg 2004.

— Tabbert, Thomas T.: »Interview mit Oswald Wiener (Herbst 2005)«, in: ders.: Verschmolzen mit der absoluten Realitätsmaschine. Oswald Wieners »Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman«. Mit einem Interview mit Oswald Wiener, Hamburg 2005, S. 122–138.

— Wiener, Oswald: »das ›literarische cabaret‹ der wiener gruppe«, in: Gerhard Rühm (Hg.): Die Wiener Gruppe. Texte. Gemeinschaftsarbeiten. Aktionen, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 401–418.

— Wiener, Oswald: Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman, Reinbek bei Hamburg 1969.

— Wiener, Oswald: »subjekt, semantik, abbildungsbeziehungen. ein pro-memoria«, in: manuskripte 29/30 (1970), S. 45–50.

— Wiener, Oswald: Wir möchten auch vom Arno-Schmidt-Jahr profitieren, München 1979.

— Wiener, Oswald: »Wozu überhaupt Kunst?«, in: Günter Brus und Oswald Wiener: gedanken, Berlin 2.4.1980; ND Oswald Wiener: Literarische Aufsätze, Wien 1998, S. 21–41.

— Wiener, Oswald: »Wittgensteins Einfluß auf die ›Wiener Gruppe‹«, in: Walter-Buchebner-Gesellschaft (Hg.): die wiener gruppe, Wien, Köln 1987, S. 46–59.

— Wiener, Oswald: Nicht schon wieder …! Eine auf einer Floppy gefundene Datei, hg. von Evo Präkogler, München 1990[a].

— Wiener, Oswald: Probleme der künstlichen Intelligenz, Berlin 1990[b].

— Wiener, Oswald: Schriften zur Erkenntnistheorie, Wien, New York 1996.

— Wiener, Oswald: »›Klischee‹ als Bedingung intellektueller und ästhetischer Kreativität«, in: Walter Fähndrich (Hg.): Improvisation III. 13 Beiträge, Winterthur 1998, S. 85–101, zgl. in Wiener: Literarische Aufsätze, Wien 1998[a], S. 113–138.

— Wiener, Oswald: Literarische Aufsätze, Wien 1998[b].

— Wiener, Oswald: »Literaturliste zum Seminar ›Improvisation‹«, Kunstakademie Düsseldorf, Wintersemester 2003/2004.

— Wiener, Oswald: »Ankündigung eines Konzertes der Reihe ›Selten gehörte Musik‹ in Zürich am 17. Oktober 2005«, Mitwirkende: Walter Fähndrich, Gerhard Rühm und Oswald Wiener, http://www.ignm-zuerich.ch/notes/archiv/2005-10-17~selten_geh%F6rte_musik.pdf (aufgerufen: 3.8.2011).

— Wiener, Oswald, Manuel Bonik und Robert Hödicke: Eine elementare Einführung in die Theorie der Turing-Maschinen, Wien, New York 1998.

— Wilson, Peter Niklas: Hear and Now. Gedanken zur improvisierten Musik, Hofheim 1999.

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Sandro Zanetti (Hg.): Improvisation und Invention

Wenn eine Kultur etwas als Erfindung akzeptiert, dann hat dieses Etwas bereits den Status einer Tatsache erhalten, die vorhanden ist und auf ihren Nutzen oder auf ihre Funktion hin befragt werden kann. Was aber geschieht davor? Wie gewinnt das Erfundene Wirklichkeit? Wie in der Kunst, wie im Theater, wie in der Literatur und Musik, wie in der Wissenschaft? Und mit welchen Folgen? Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich alle mit einem Moment oder einem bestimmten Modell der Invention. Ausgehend von den jeweils involvierten Medien wird der Versuch unternommen, diese Momente und Modelle zu rekonstruieren. Um etwas über die entsprechenden Inventionen in Erfahrung bringen zu können, werden diese als Ergebnisse oder Effekte von Improvisationsprozessen begriffen: Improvisationen in dem Sinne, dass von einem grundsätzlich offenen Zukunftsspielraum ausgegangen wird, gleichzeitig aber auch davon, dass es ein Umgebungs- und Verfahrenswissen gibt, das im Einzelfall beschrieben werden kann.

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