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Michael Bies: 1962
1962
(S. 205 – 215)

»Für die Syntax und gegen die Semantik.«

Michael Bies

1962
Claude Lévi-Strauss und das wilde Basteln

PDF, 11 Seiten

Der Beitrag befasst sich mit den berühmten Ausführungen zum bricoleur und zur bricolage, die Lévi-Strauss in Das wilde Denken entwickelt. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von ›wildem‹ und ›domestiziertem‹ Denken wird dabei zum einen das spezifische Verhältnis des bricoleurs zu Improvisation und Invention untersucht. Zum anderen werden Lévi-Strauss’ Darlegungen im Blick auf ethnographische Texte des 19. Jahrhunderts, die die ›Wilden‹ ebenfalls als begabte Bastler und Handwerker schildern, sowie auf ästhetische und anthropologische Debatten (zum Homo faber) des 20. Jahrhunderts perspektiviert.

1962
Claude Lévi-Strauss und das wilde Basteln

Nachdem Claude Lévi-Strauss bereits mit Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft und Traurige Tropen zu großer Bekanntheit gelangt war, wurde er vor allem mit der 1962 erschienenen Monographie Das wilde Denken zu einem »Ereignis« (Désveaux 2008, 140), das in den intellektuellen Zirkeln im Paris der Jahre vor dem Mai 1968 kaum ignoriert werden konnte. Deutlich wird das schon an der Aufmerksamkeit, die Autoren wie Roland Barthes, Paul Ricœur, Gérard Genette, Jacques Derrida und Michel Foucault dem Wilden Denken schenkten. Sie ließen das Werk zu einem zentralen Bezugspunkt in den Debatten über die Möglichkeiten und Grenzen des Strukturalismus werden, indem sie es entweder, wie Barthes, als Wegbereiter einer allgemeinen »Soziologie der Zeichen« (Barthes 1988, 175) oder, wie Ricœur, als Ausdruck einer zunehmend radikalen, für die eigenen Voraussetzungen blinden Positionierung »für die Syntax und gegen die Semantik« auffassten (Ricœur 1973, 54).

Doch worum geht es Lévi-Strauss in diesem ebenso aufregenden wie spröden Werk? Einen ersten, häufig übersehenen Hinweis hierauf gibt der Umschlag der Originalausgabe des Buchs, auf dessen Vorderseite sich neben dem französischen Titel La pensée sauvage eine von Pierre-Joseph Redouté stammende Abbildung einer Viola tricolor findet, einer Pflanze, die im deutschsprachigen Raum als Wildes Stiefmütterchen bekannt ist und im Französischen ebenfalls Pensée sauvage heißt. Auch wenn diese Abbildung im Verlauf des Werks kein einziges Mal erwähnt wird, sind die Hinweise, die sie zur Bestimmung des ›wilden Denkens‹ liefert, leicht zu entschlüsseln (→ Kauppert, Funcke 2008, 22–27). Nicht nur lässt sie sich als Ausdruck der vom Konkreten ausgehenden Methode des wilden Denkens verstehen, die Lévi-Strauss als eine Arbeit »unter der Voraussetzung der Organisation und der spekulativen Ausbeutung der sinnlich wahrnehmbaren Welt in Begriffen des sinnlich Wahrnehmbaren« charakterisiert (Lévi-Strauss 1968, 29). Darüber hinaus verweist die Abbildung darauf, dass Lévi-Strauss mit dem wilden Denken nicht einfach ein »Denken der Wilden« bezeichnet, wie es von einem Ethnologen erwartet werden könnte, sondern ein »Denken im wilden Zustand«, das sich auch, aber eben nicht nur bei ›Wilden‹ findet und das zu einem »kultivierten oder domestizierten Denken« im gleichen Verhältnis steht wie das Wilde Stiefmütterchen zum Garten-Stiefmütterchen, zur Viola wittrockiana (253). In diesem Sinne erklärt Lévi-Strauss, dass wildes und domestiziertes Denken »nebeneinander existieren und einander durchdringen können«,

»wie auch natürliche Arten, wilde und solche, die die Landwirtschaft oder die Viehzucht umgemodelt hat[,] (zumindest theoretisch) nebeneinander existieren und sich kreuzen können, obwohl die Existenz der letzteren […] jene andere mit Ausrottung bedroht. Doch ob man es bedauert oder sich darüber freut, es gibt noch immer Zonen, in denen das wilde Denken, so wie die wilden Arten, relativ geschützt ist: das ist der Fall in der Kunst, der unsere Zivilisation den Status eines Naturschutzparks zubilligt […]; und das ist besonders auf vielen Sektoren des sozialen Lebens der Fall, die noch nicht gerodet sind und in denen […] das spontane, wilde Denken auch weiterhin gedeiht.« (ebd.)

Ohne darauf einzugehen, dass er auch die eigene strukturalistische Methode als Ausdruck einer pensée sauvage begreift – darauf verweist bereits das berühmte Bekenntnis aus den Traurigen Tropen, einen »neolithischen Verstand« zu besitzen (Lévi-Strauss 1978, 46) –, stellt Lévi-Strauss im ersten Kapitel seines Werks gleich drei Zonen vor, in denen sich ein wildes Denken auch im Hoheitsgebiet des domestizierten Intellekts erhalten habe: Neben dem Reservat der Kunst (→ Beitrag zum Jahr 1941 in diesem Band) sind das die Tätigkeit des Bastlers, der hier als wilder Zwilling des Ingenieurs erscheint, und der Ritus, der in Abgrenzung vom Spiel bestimmt wird. Für die Frage, wie das wilde Denken sich zu den Verfahren der Invention und Improvisation verhält, von denen das eine eher auf eine planvolle Verminderung, das andere eher auf eine nicht minder planvolle Erzeugung und produktive Ausnutzung von Kontingenz zielt, sind davon besonders die Ausführungen zum Bastler und zum Basteln aufschlussreich. So gibt Lévi-Strauss hier einen präzisen Einblick in die Methoden und Techniken, die im Rahmen seiner Epistemologie des (Noch-)Nicht-Domestizierten die Gewinnung und Stabilisierung von Wissen ermöglichen; dass er der Improvisation dabei eine Schlüsselrolle zukommen lässt, legt schon der Hinweis auf die ›Spontaneität‹ des wilden Denkens im obigen Zitat nahe.

Auf die damit benannte Situationalität und Reaktionsschnelligkeit der pensée sauvage verweist Lévi-Strauss auch im ersten Kapitel des Werks, in dem er das Basteln ausführlicher in den Blick nimmt. Dabei begreift er es als eine Tätigkeit, in der sich ein wildes Denken innerhalb des Bereichs eines bereits weitgehend domestizierten Denkens manifestiert, beschreibt es zugleich aber als ein Phänomen, das »auf technischem Gebiet« zeige, wie die mit Mythen arbeitende Wissenschaft, die das Denken der ›Wilden‹ kennzeichnet, »auf dem Gebiet der Spekulation« funktioniert (Lévi-Strauss 1968, 29). Jedoch beginnt Lévi-Strauss seine Ausführungen damit, dass er das Basteln, die bricolage, etymologisch im Rekurs auf das Verb bricoler erklärt. Dieses sei im »ursprünglichen Sinn« genutzt worden,

»um eine nicht vorgezeichnete Bewegung zu betonen: die des Balles, der zurückspringt, des Hundes, der Umwege macht, des Pferdes, das von einer geraden Bahn abweicht, um einem Hindernis aus dem Weg zu gehen. Heutzutage ist der Bastler jener Mensch, der mit den Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind.« (ebd.)

Auch wenn diese Beispiele zunächst nur die Etymologie von bricoler veranschaulichen sollen, sind sie im hier behandelten Kontext bemerkenswert. Nicht nur können sie als Mikroerzählungen über die Situationalität wie auch die Um- und Abwegigkeit des wilden Denkens verstanden werden, die sie entweder durch eine physikalische Gesetzmäßigkeit (wie beim Ball), durch eine Reaktion auf eine Störung (wie beim Pferd) oder gar nicht, und das kann auch heißen: durch fehlenden domestizierten Intellekt, begründen (wie beim Hund und dann beim Bastler). Außerdem verdeutlichen die Beispiele auch die Annahme, dass das wilde Denken keineswegs auf vernunftbegabte Menschen beschränkt ist, sondern dass es, wie Lévi-Strauss in einem anderen Zusammenhang erklärt, weit »vor den Menschen beginnt« (Lévi-Strauss 1980, 101).

Im Anschluss an diese Erläuterungen profiliert Lévi-Strauss den Bastler in Absetzung vom Fachmann, dem Ingenieur. In den Vordergrund dieser Bestimmungen, die zu den bekanntesten Ausführungen von Das wilde Denken gehören, rückt er das unterschiedliche Verhältnis von Mittel und Zweck, das ihre Tätigkeiten kennzeichnet. Lévi-Strauss erklärt, dass die Arbeit des Ingenieurs davon abhänge, ob er über genau die Materialien und Werkzeuge verfügen könne, die zur Realisierung seines Projekts nötig seien. Während hier also allein der Zweck die Mittel bestimme, sei für das Vorgehen des bricoleurs zudem von Bedeutung, inwiefern die von ihm verwendeten Mittel den Zweck determinieren. Aus zeichentheoretischer Perspektive könne seine Tätigkeit deshalb durch die »Definition«: »[D]ie Signifikate werden zu Signifikanten und umgekehrt«, beschrieben werden (Lévi-Strauss 1968, 34).

Das damit verbundene Vorgehen, das sich durch einen tastenden, versuchenden Charakter wie auch durch eine hohe Anfälligkeit für Rückschläge, Digressionen und unerwartete Entdeckungen auszeichnet, liegt auch in der Art der Mittel begründet, derer der Bastler sich bedient. Anders als der Ingenieur arbeitet er nämlich nicht mit Werkzeugen und Materialien, die im Blick auf das zusammengestellt worden sind, was mit ihnen hergestellt werden soll. Stattdessen greift er auf einen überlieferten und beschränkten Vorrat von ganz heterogenen Mitteln zurück, der sich aus Werkzeugen, Materialien, Resten, altem Kram und Abfall zusammensetzt und zunächst in keinem Bezug zu dem, was mit ihm produziert werden soll, steht. Zu diesen Mitteln, die »nach dem Prinzip ›das kann man immer noch brauchen‹ gesammelt und aufgehoben« (30) worden seien, trete der Bastler nun »in eine Art Dialog« (31), in dem er erkundet, welche Möglichkeiten diese zufällig zusammengekommenen Dinge ihm bieten, um herzustellen, was er herstellen möchte, und in dem er das, was er herstellen möchte, zugleich so modifiziert, dass er es mit ihnen auch herstellen kann. Im Unterschied zum Ingenieur sei für ihn daher bestimmend, dass er letztlich nie genau produziert haben wird, was er produzieren wollte, dass das Ergebnis seiner Tätigkeit also einen »Kompromiß zwischen der Struktur des instrumentalen Ganzen und der des Projekts« darstellen und »unvermeidlich gegenüber der ursprünglichen Absicht verschoben sein« wird (34).

Analog hierzu versteht Lévi-Strauss nun auch die Logik der mit Mythen arbeitenden Wissenschaft, die das Denken der ›Wilden‹ bestimme. Diese Wissenschaft, die der domestizierten abendländischen Wissenschaft genauso entgegengesetzt sei wie der Bastler dem Ingenieur, beginne ebenfalls damit, dass sie auf »Abfälle und Bruchstücke« (50) zurückgreife, die in ihrer Anzahl beschränkt und in ihrem Inhalt heterogen sind. So beziehe sie sich auf mythische Bilder, die in anderen Zusammenhängen schon einmal Bedeutung gehabt haben, aber auch im Rahmen neuer Bedeutungsgefüge verwendet werden können. In einer doppelten Bewegung der Analyse und Synthese seien diese Bilder von dem mythischen Denken, das die Wissenschaft der ›Wilden‹ konstituiert, zunächst aus ihren ursprünglichen Ordnungen gelöst und so zerlegt worden, »wie ein Bastler einen alten Wecker demontiert« (49). Danach habe man sie in neue, »strukturale Arrangements« gebracht, die nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern ästhetischen »Ähnlichkeiten« wie »Größe, Farbenfreudigkeit und Transparenz« erstellt wurden und ihre Bedeutung aus dem Verhältnis beziehen, in dem die in ihnen zusammengebrachten Elemente zueinander stehen. Lévi-Strauss erklärt deshalb, dass »Zeichen« im mythischen Denken immer auch »den Rang bezeichneter Dinge einnehmen« (50).


Mit dieser Theorie des Bastelns, die ebenso der Erkundung einer aktuellen Praktik des wilden Denkens dient, die sich innerhalb des Bereichs des domestizierten Denkens erhalten hat, wie auch der Veranschaulichung des mythischen Denkens der ›Wilden‹, schließt Lévi-Strauss in mehrerlei Hinsicht an anthropologische und ethnologische Diskurse des 19. und 20. Jahrhunderts an. Nicht nur kritisiert er hiermit Forscher, die ein ›primitives Denken‹ gegenüber einem modernen, wissenschaftlichen Denken abwerteten und es, wie Lucien Lévy-Bruhl, als Ausdruck einer prälogischen Mentalität auffassten oder es, wie Bronisław Malinowski, als ein Denken begriffen, das allein auf die Befriedigung elementarer Bedürfnisse ausgerichtet sei. Darüber hinaus lässt sich die Theorie des Bastelns auch als Anknüpfung an einen Topos verstehen, der immer wieder auf ›primitive Gesellschaften‹ angewandt worden ist: Gemeint ist die Vorstellung, dass die Mitglieder dieser Gesellschaften – wenn sie schon über kein modernes, abendländisches Denken verfügen – sich durch besondere handwerkliche Fertigkeiten und praktische Kenntnisse auszeichnen. In der Geschichte der anthropologischen Erforschung Brasiliens etwa, in die sich bekanntlich auch Lévi-Strauss an vorderer Stelle eingeschrieben hat, zeigt sich das im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert daran, dass geradezu stereotyp betont wird, welch »gute Handwerker« (Spix, Martius 1980, 574) die brasilianischen Ureinwohner seien oder zumindest sein könnten, welch »ausserordentlich saubere und gefällige Arbeit« (von den Steinen 1894, 229) sie zu verrichten wüssten, vor allem wenn es um die Herstellung von Waffen ginge, oder aber welch »kunstvolle Flechterei und Töpferei« (Koch-Grünberg 1910, 231) sich bei ihnen finde.

Dabei wird auch beobachtet, dass diese handwerklichen Tätigkeiten nicht nur mechanisch vollzogen, sondern oft auch durch Hindernisse und Digressionen aufgelockert und angereichert werden. In diesem Sinne erläutert Karl von den Steinen, ein von Lévi-Strauss geschätzter ›Vorgänger‹ in der Erforschung der Bororo, in seiner umfangreichen Monographie Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens von 1894, die von ihm beobachteten Ureinwohner würden ihre handwerklichen Tätigkeiten nicht zuletzt nach dem Grad der hierbei nötigen Auseinandersetzung mit den jeweils verwendeten Mitteln bewerten und seien mit einem »Einfall« besonders zufrieden, »wenn er trotz der Schwierigkeiten des Materials gelingt« (von den Steinen 1894, 244–245). Theodor Koch-Grünberg hingegen beschreibt in seinem 1909 und 1910 publizierten Bericht Zwei Jahre unter den Indianern, dass die Bewohner Nordwestbrasiliens auch imaginative Abwege aufsuchen würden, um durch die Rekombination bekannter Elemente Neues zu erzeugen. Wie er erklärt, geben »Zeichnungen« hier häufig »zu erkennen, wie während des Malens die Phantasie des Indianers Seitensprünge macht, so daß aus demselben Motiv durch Hinzufügen einzelner charakteristischer Teile die verschiedensten Figuren entstehen können« (Koch-Grünberg 1910, 233).

Diese stereotype Herausstellung der handwerklichen Fertigkeiten der ›Wilden‹ ist bereits deshalb interessant, weil sie sich vor der Kulisse eines weithin konstatierten ›Verfalls des Handwerks‹, den vor Karl Marx schon Autoren wie Justus Möser beschrieben und auf die Einführung arbeitsteiliger Produktionsmethoden zurückgeführt haben (→ Möser 1780), auch als Erneuerung des romantischen Bildes einer noch nicht entfremdeten Arbeit lesen lässt. Allerdings wird diese Utopie der Arbeit in den anthropologischen und ethnologischen Reiseberichten und Monographien nun auf eine ›primitive Gesellschaft‹ projiziert und nicht mehr auf eine ständisch organisierte mittelalterliche Gemeinschaft – auch das ist ein Beispiel dafür, wie die Moderne sich ›im Spiegel des Primitiven‹ formiert (→ Schüttpelz 2005). Im hier behandelten Zusammenhang ist die Darstellung der ›Wilden‹ als Handwerker aber außerdem bemerkenswert, weil es Lévi-Strauss im Rückgriff auf diesen Topos gelingt, einen Typus menschlichen Tätigseins zu entfalten, der von der einflussreichen philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts bis dahin wenig erfasst worden war – einen Typus, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich intensiv mit dem Eigensinn der ihm zuhandenen Werkzeuge und Materialien auseinandersetzt und diesen auch in das, was er mit eben diesen Mitteln produziert, eingehen lässt.

Offenkundig wird dieser Ansatz, den Lévi-Strauss in der Betrachtung des Bastlers etabliert, besonders im Blick auf die Figur des Homo faber, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts etwa von Henri Bergson, Max Scheler, Simone de Beauvoir und Hannah Arendt philosophisch beschrieben und von Max Frisch auch literarisch auf die Probe gestellt worden ist. Von diesen Autoren unterscheidet sich Lévi-Strauss bereits dadurch, dass es ihm weniger um die Ausarbeitung eines anthropologischen Typus als um die Erfassung einer Form der Herstellung geht: Mehr als die Figur des Bastlers, die selbst oft mythisch überhöht worden ist (→ etwa Foege 2013), scheint ihn die Tätigkeit des Bastelns zu interessieren, die Verhältnisse von Strukturen und Ereignissen und nicht Bilder vom Menschen erzeugt und daher auch als Baustein im strukturalistischen Großprojekt der »Auflösung des Menschlichen in Nichtmenschliches« (Lévi-Strauss 1968, 284) zu dienen vermag. Allerdings können trotz der verschiedenen Ansätze auch Ähnlichkeiten zwischen Homo faber und Bastler beobachtet werden, die in ihrer handwerklichen Einstellung zur Welt und in der Identifikation mit den von ihnen ausgeübten Tätigkeiten begründet liegen; insofern sind beide von dem arbeitenden Wesen, dem Animal laborans, abzugrenzen, das Hannah Arendt so prominent als Widerpart des herstellenden Wesens beschrieben hat (→ Arendt 2002).

Insgesamt jedoch lässt dieser gemeinsame Hintergrund die Differenzen beider Figuren nur umso deutlicher hervortreten – vor allem, wenn man die Kategorien der Invention und Improvisation berücksichtigt. Denn anders als der Bastler stellt der Homo faber eher den souveränen »Erfinder« dar, der »seinen Zugriff auf die Welt« beständig »vergrößert«, um sich eine »Zukunft« zu eröffnen, in der er genau das herstellen kann und hergestellt haben wird, was er ursprünglich herstellen wollte (de Beauvoir 2000, 89). Während dieser sich im Extremfall also allein als kühl kalkulierender und rücksichtslos agierender Innovator präsentiert, dessen handwerklicher Zugang zur Welt ihn im 20. Jahrhundert letztlich zu dem Menschen werden lassen hat, der »einen Staudamm, einen Wolkenkratzer oder einen Atommeiler« (ebd.) baut, ist der Bastler ungleich materialorientierter, überlieferungsverhafteter und offener, in seinem »Zugriff auf die Welt« aber auch beschränkter angelegt. Schließlich ist er nicht der Mensch, der bloß »seine vorgefaßten Zwecke« kennt, »zu deren Realisierung er alle Dinge zu Mitteln degradiert« (Arendt 2002, 186) – diese Rolle erfüllt bei Lévi-Strauss der Ingenieur –, sondern derjenige, der seine Pläne zugleich an die Möglichkeiten anpasst, die ein überkommenes Arsenal an Werkzeugen und Materialien ihm eröffnet. Er ist zunächst vor allem ein Finder, der gleichsam auf Abwegen zum Erfinder wird, wenn er nicht allein »seine vorgefaßten Zwecke« berücksichtigen und nicht allein seinem Kalkül folgen kann, sondern gezwungen ist, sich auf Zufälle einzulassen – wenn er also die Einschränkungen und Hindernisse, vor die ihn die zuhandenen Mittel stellen, als Gelegenheiten zum Improvisieren, zum Ausweichen und Experimentieren mit unerwarteten Möglichkeiten zu nutzen vermag.


Die schon mehrfach benannten Wechselwirkungen, die das Basteln kennzeichnen – Wechselwirkungen von Zweck und Mittel, Signifikat und Signifikant, Struktur und Ereignis wie auch von Kalkül und Kontingenz, Invention und Improvisation –, legen es bereits nahe, dass Lévi-Strauss mit dieser Form der Herstellung nicht bloß auf den Topos des handwerklich versierten ›Wilden‹ rekurriert, den er nun in der Gestalt des zivilisierten Bastlers wiederkehren lässt. Vielmehr greift er hiermit auch auf Überlegungen zur Kunst und Ästhetik vor allem des 19. und 20. Jahrhunderts zurück, die sich intensiv mit der Logik von Zeichen und Zufällen auseinandergesetzt haben (→ Wiseman 2007, 100–118). Deutlich wird das vor allem, wenn Lévi-Strauss die das Basteln charakterisierende Verschiebung zwischen der ersten Absicht und dem letztlich realisierten Ergebnis mit dem »Effekt« vergleicht, »den die Surrealisten zutreffend ›objektiven Zufall‹ genannt haben« (Lévi-Strauss 1968, 34). Damit bezieht er sich auf das berühmte Konzept, mit dem André Breton »das Zusammentreffen einer äußeren Kausalität mit einer inneren Finalität« bezeichnet und das er in einer der Definitionen, die er 1937 in L’Amour fou gibt, durch »Vorkommnisse« erklärt, »bei denen das Naturnotwendige mit dem menschlich Notwendigen auf sehr außergewöhnliche und aufregende Weise derart übereinstimmt, daß die beiden Determinationen sich als ununterscheidbar erweisen« (Breton 1975, 18).

Wie sehr Lévi-Strauss sich mit seinen Ausführungen an kunsttheoretische Überlegungen anlehnt, vermag schließlich auch eine Überlegung von Paul Valéry zu erhellen, die in der Gegenüberstellung eines bedrohten und allmählich verschwindenden und eines zukünftig erwarteten Künstlertypus genau die Differenzierung vorbereitet, die in Das wilde Denken dann zwischen Bastler und Ingenieur entfaltet wird (→ Wiseman 2007, 48–49, Anmerkung). »Bisweilen kommt mir der Gedanke«, so erklärt Valéry in Tanz, Zeichnung und Degas:

»die Arbeit des Künstlers sei eine Arbeit noch ganz urtümlicher Art; der Künstler selbst etwas Überlebtes, zu einer im Aussterben begriffenen Spezies von Arbeitern oder Handwerkern gehörig, die unter Anwendung höchst persönlicher Methoden und Erfahrungen Heimarbeit verrichtet, im vertrauten Durcheinander ihrer Werkzeuge lebt, blind für ihre Umgebung, nur das sieht, was sie sehen will, die zerbrochenen Töpfe, häuslichen Eisenkram, als unbrauchbar ausrangierte Gegenstände … Vielleicht wird sich dieser Zustand ändern. Und man wird eines Tages anstelle des wunderlichen Wesens, das mit so weitgehend vom Zufall abhängigem Werkzeug sich behilft, dereinst einen peinlich in Weiß gekleideten, mit Gummihandschuhen versehenen Herrn in seinem Mal-Laboratorium antreffen, der sich an einen strikten Stundenplan hält, über streng spezialisierte Apparate und ausgesuchte Instrumente verfügt: jedes an seinem Platz, jedes einer bestimmten Verwendung vorbehalten? … Bis jetzt freilich ist der Zufall aus unserem Tun noch nicht ausgeschaltet, sowenig wie das Geheimnis aus den Verfahrensweisen, die Berauschtheit aus dem Stundenplan; aber ich möchte mich für nichts verbürgen.« (Valéry 1996, 21–22)

In dem Maße, wie Valéry es hier vermutet, hat sich der skizzierte Zustand des Künstlers bekanntlich nicht geändert. Statt dass »streng spezialisierte Apparate und ausgesuchte Instrumente« das »wunderliche Wesen« beseitigt haben, das Valéry und Lévi-Strauss im Künstler und Bastler bewundern, haben Wissenschaftler wie Hans-Jörg Rheinberger herausgestellt, wie sehr sie selbst in ihrer Forschung »von Merkmalen« abhängen, »die Lévi-Strauss der Bastelei zuschrieb« (Rheinberger 2006, 287), wie sehr sie selbst in ihren Laboratorien mit dem Zufall und dem Eigensinn der ihnen zuhandenen Mittel arbeiten. Damit haben sie auch gezeigt, dass das domestizierte Denken in der pensée sauvage nicht nur ein Gegenbild findet. Wie 1966 bereits Derrida betont hat, vermag es sich letztlich auch nur als ein bastelndes, wildes und improvisierendes Denken zu begründen (→ Derrida 1976, 431–432) und für ›Einfälle‹ und ›Erfindungen‹ offenzuhalten.

Literatur

— Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), München, Zürich 2002.

— Barthes, Roland: »Soziologie und Sozio-Logik. Zu zwei neueren Werken von Claude Lévi-Strauss« (frz. 1962), in: ders.: Das semiologische Abenteuer, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1988, S. 168–180.

— Breton, André: L’Amour fou (frz. 1937), übers. von Friedhelm Kemp, Frankfurt am Main 1975.

— de Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (frz. 1949), übers. von Uli Aumüller und Grete Osterwald, Reinbek bei Hamburg 2000.

— Derrida, Jacques: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen« (frz. 1966), in: ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt am Main 1976, S. 422–442.

— Désveaux, Emmanuel: »Lévi-Strauss und das Schicksal der Anthropologie«, in: Michael Kauppert und Dorett Funcke (Hg.): Wirkungen des wilden Denkens. Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt am Main 2008, S. 139–157.

— Foege, Alec: The Tinkerers. The Amateurs, DIYers, and Inventors who Make America Great, New York 2013.

— Kauppert, Michael und Dorett Funcke: »Zwischen Bild und Begriff. Wildes Denken nach Lévi-Strauss«, in: dies. (Hg.): Wirkungen des wilden Denkens. Zur strukturalen Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, Frankfurt am Main 2008, S. 9–33.

— Koch-Grünberg, Theodor: Zwei Jahre unter den Indianern. Reisen in Nordwest-Brasilien 1903/1905, Bd. 2, Berlin 1910.

— Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen (frz. 1955), übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1978.

— Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken (frz. 1962), übers. von Hans Naumann, Frankfurt am Main 1968.

— Lévi-Strauss, Claude: »Das wilde Denken. Zur wissenschaftlichen Methode des Strukturalismus« (frz. 1963), in: ders.: Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Gespräche mit Claude Lévi-Strauss, hg. von Adelbert Reif, Frankfurt am Main 1980, S. 71–112.

— Möser, Justus: »Von dem Verfall des Handwerks in kleinen Städten«, in: ders.: Patriotische Phantasien. Erster Theil, hg. von J.W.J. von Voigt, Frankfurt, Berlin 1780, S. 181–209.

— Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt am Main 2006.

— Ricœur, Paul: »Struktur und Hermeneutik« (frz. 1963), in: ders.: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, übers. von Johannes Rütsche, München 1973, S. 37–79.

— Schüttpelz, Erhard: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (18701960), München 2005.

— Spix, Johann Baptist von und Carl Friedrich Philipp von Martius: Reise in Brasilien in den Jahren 18171820. Unveränderter Neudruck des 18231831 in München in drei Textbänden und einem Tafelband erschienenen Werkes, hg. von Karl Mägdefrau, Stuttgart 1980.

— von den Steinen, Karl: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Reiseschilderung und Ergebnisse der Zweiten Schingú-Expedition 18871888, Berlin 1894.

— Valéry, Paul: Tanz, Zeichnung und Degas (frz. 1936), übers. von Werner Zemp, Frankfurt am Main 1996.

— Wiseman, Boris: Lévi-Strauss, Anthropology and Aesthetics, Cambridge 2007.

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Michael Bies

Michael Bies

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Wissensgeschichte seit dem 18. Jahrhundert; Darstellungsformen von Wissen; Literatur und Ethnologie; Poetiken des Einfallens, Herstellens und Erfindens.

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Sandro Zanetti (Hg.): Improvisation und Invention

Wenn eine Kultur etwas als Erfindung akzeptiert, dann hat dieses Etwas bereits den Status einer Tatsache erhalten, die vorhanden ist und auf ihren Nutzen oder auf ihre Funktion hin befragt werden kann. Was aber geschieht davor? Wie gewinnt das Erfundene Wirklichkeit? Wie in der Kunst, wie im Theater, wie in der Literatur und Musik, wie in der Wissenschaft? Und mit welchen Folgen? Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich alle mit einem Moment oder einem bestimmten Modell der Invention. Ausgehend von den jeweils involvierten Medien wird der Versuch unternommen, diese Momente und Modelle zu rekonstruieren. Um etwas über die entsprechenden Inventionen in Erfahrung bringen zu können, werden diese als Ergebnisse oder Effekte von Improvisationsprozessen begriffen: Improvisationen in dem Sinne, dass von einem grundsätzlich offenen Zukunftsspielraum ausgegangen wird, gleichzeitig aber auch davon, dass es ein Umgebungs- und Verfahrenswissen gibt, das im Einzelfall beschrieben werden kann.

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