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Till Breyer, Tillmann Severin: Leistungspunkte/ECTS
Leistungspunkte/ECTS
(S. 197 – 205)

Numerische Verhältnisse

Till Breyer, Tillmann Severin

Leistungspunkte/ECTS

PDF, 9 Seiten

Den ECTS-Punkten hängt seit ihrer Einführung eine gewisse Absurdität an. Ihren erklärten, an sich wünschenswerten Zielen »der Förderung größtmöglicher Mobilität der Studierenden«1 (↑ Globalisierung) und des ↑ lebenslangen Lernens zum Trotz, wurden sie vom Großteil der Studierenden und Lehrenden als problematischer Eingriff ins Studium empfunden. Emblematisch drückt sich das Unbehagen gegenüber den ECTS-Punkten, die eigentlich nur der europaweiten Anerkennung und Dokumentation von Studienleistungen dienen sollten, in ausgeschnittenen Pacman-Pappfiguren aus, die ECTS-Pillen fressen und auf diversen Demonstrationen plakativ in die Höhe gehalten wurden.

Der Anspruch des ECTS2 ist es sowohl, weit entfernte, in fremden Sprachen gehaltene Seminare und ↑ Vorlesungen ineinander übersetzbar zu machen als auch beruflich erworbene ↑ Kompetenzen in die neue Sprache der Hochschulen einzupassen. In ihnen schlägt sich die Vision einer universellen und praktikablen Bildungssprache nieder.3 Dass allerdings Auslandsaufenthalte und Anrechnungen im letzten Jahrzehnt nicht einfacher, sondern komplizierter geworden sind, die ECTS-Punkte sich also als Mobilitätshindernis erwiesen haben, hat sich längst herumgesprochen.4 Das mag mit der Spezialisierung von Studienprofilen zu tun haben oder einfach mit einem fachpolitischen Individualismus, für den ECTS nicht gleich ECTS sind. Dennoch ist zu erwarten, dass entsprechende Korrekturen vorgenommen werden. Unabhängig davon lässt sich die Frage stellen, was das Leistungspunktesystem überhaupt zu leisten verspricht und welche Überzeugungen und Erzählungen hinter seiner Konzeption stehen.

Arbeit soll sich wieder lohnen

Die ECTS-Punkte stehen im Verbund mit Darstellungsverfahren wie diploma supplement und transcript of records. Jeder spätere Arbeitgeber soll möglichst auf einen Blick übersehen können, mit was für einem Bildungssubjekt er es zu tun hat. Genauso dienen die laufenden Prüfungsergebnisse und Zeugnisse der Selbstanalyse: Der Lernende kann seinen »Leistungsspiegel jederzeit elektronisch abrufen und ausdrucken.«5

ECTS-Punkte bilden in diesen Darstellungsverfahren eine Art Minimalnenner: eine inner- und außerakademische Währung, die es nahelegt, über den eigenen Bildungsweg Buch zu führen. Dieser Währungscharakter könnte in der Namensgebung nicht deutlicher angezeigt werden: Es handelt sich um ein Kreditsystem, das es erlaubt, zu transferieren und zu akkumulieren (»European Credit Transfer and Accumulation System«). Nicht anders würde man das Kreditsystem des Geldes bezeichnen können, nur dass hier ökonomische Werte, nicht kognitive gehandelt werden. In diesem Aspekt des ↑ Bologna-Prozesses könnte man mit Georg Simmel jene »Erkenntnistendenz der modernen Wissenschaft überhaupt« vermuten, die in »der Reduktion qualitativer Bestimmungen auf quantitative« besteht.6 Der Bologna-Prozess wäre dann die Umsetzung einer epistemologischen Tendenz, die alles und jeden in ein numerisches Verhältnis zu bringen versucht.

Gleichzeitig ist das Leistungspunktesystem, so unschuldig und intuitiv es im Bologna-Textkorpus auch scheinen mag, voller Paradoxien: Im Glossary on the Bologna-process, das 2006 herausgegeben wurde, ist zu lesen, dass das ECTS Lernergebnisse und Lernstände abbilden soll. Man vermutet zunächst eine Art Wissensdokumentation. Statt sich aber der (wahrscheinlich unmöglichen) Aufgabe, tatsächlich eine Währung für Wissen zu schaffen, anzunehmen, greift das ECTS auf die Maßeinheit geleisteter Arbeit zurück: Wo man eine kognitive Währung (vielleicht eine »Denkmark«, einen »Franc-cerveau«, einen »Liroclaro«, einen »Europensi«?) erwartet hätte, die explizit die substanziellen geistigen Leistungen zählt und dokumentiert, dient als Einheit fortan die nackte Arbeitskraft selbst: gewissermaßen das dem Lernen stundenweise geopferte Leben.

Unabhängig davon, ob man diesem stillschweigenden Switch zustimmen will oder nicht, greift Bologna mit seinen Leistungspunkten eine altehrwürdige Tradition auf, eine Utopie, die zwar nicht mehr heutzutage, aber zu Zeiten von Adam Smith und Karl Marx die junge ökonomische Theorie umtrieb. Diese Utopie bestand darin, Werte in geleistete Arbeit als deren absolutes, eindeutiges Maß zurückrechnen zu können. In dem Wirrwarr und den Schwankungen der Preise und Kapitalwerte schien die Arbeit, die in einem Produkt steckt, das einzige theoretisch verlässliche Maß für den wahren Wert einer Sache zu sein. Und Arbeit misst man in Arbeitsstunden. Natürlich nicht mit der Stoppuhr, sondern als Durchschnittswert.

Später hat man diese so genannte Arbeitswerttheorie zugunsten von verfeinerten Versionen der Theorie von Angebot und Nachfrage verabschiedet. Die Bologna-Erklärung aber scheint diesen Schritt zurück zu gehen, wenn auch ohne ihren Meister ausdrücklich zu zitieren: »Die ECTS-Leistungspunkte belegen die quantitative Anforderung zum Erreichen der qualitativen Lernergebnisse, indem sie die Arbeitsbelastung definieren, die zum Erreichen der Lernergebnisse normalerweise erforderlich ist.«7 Es gibt also eine gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, eine »Arbeitsgallerte«, wie Marx es nannte, die den Wert der Bologna-Währung definiert.

Diese Währung wiederum bestimmt, welcher Umfang an Lernzielen im Studium und in einzelnen Kursen zu verfolgen ist. Die 25–30 Arbeitsstunden, die pro Leistungspunkt angesetzt werden, sind dabei natürlich rein imaginär. Kein Student, keine Dozentin wird sie zählen und mit der Vorgabe abgleichen. Die Funktion von ECTS scheint vielmehr zu sein, den Curricula und den elektronischen Vorlesungsverzeichnissen eine bestimmte Form von »Lernergebnissen« nahezulegen, nämlich solche, die sich in Kontingente von 25–30 Arbeitsstunden umrechnen lassen.

Akademisches Humankapital transparent machen

ECTS ist ein Währungssystem, dessen Akkreditierungsagenturen ganz im Stile der Rating Agenturen fortwährend die richtige Bewertung ökonomischer Potenziale zu finden versuchen: Aus dem Umstand, dass »zwischen dem für das Erreichen der Lernergebnisse vorgesehenen und dem tatsächlichen Arbeitsaufwand erhebliche Diskrepanzen« festgestellt wurden, folgern die Autoren des Bologna Glossary im Jahr 2006 »einen erheblichen Bedarf an Informations- und Erfahrungsaustausch.«8 Geleistete Stunden sollen also besser abgebildet werden, um eine Währungserosion zu vermeiden und zu verhindern, dass am Ende ECTS-zertifizierte Akademiker wie Falschgeld durch den europäischen Wirtschaftsraum zirkulieren.

Wie aber sähe dieser Erfahrungsaustausch in den Geisteswissenschaften aus? Soll genau belegt werden, wie lange es durchschnittlich dauert, bis man Kafkas »Prozess« verstanden hat? Bis man einen Eindruck vom Verschwinden des modernen Menschen bekommen hat, das Foucault beschreibt? Oder bis man in kritischer Weise mit dem Begriff der »Kontrollgesellschaft« umzugehen weiß? Die »Diskrepanz« zwischen bescheinigter und geleisteter Arbeitszeit, um die die Akteure des Bologna-Prozesses sich sorgen, scheint eine ganz andere Diskrepanz zu übersehen: die zwischen vorgegebenen Lernzielen auf der einen und kontinuierlicher Auseinandersetzung mit ihnen auf der anderen Seite (↑ Koordinator/in, gescheitert). Das Problem von ECTS besteht weniger im bloßen Dokumentieren des Studiums als vielmehr in der Art, wie dies auf die Studieninhalte zurückwirkt und sie prägt – auch, wenn man das wohlwollend »Informations- und Erfahrungsaustausch« nennt. Der Informationsaustausch zwischen Bologna-Akteuren und Hochschulverwaltung dient letztlich einer Standardisierung – oder mit Derrida: einer »clôture« – der Form, in der an Universitäten Wissen vermittelt und in Frage gestellt wird (↑ Bologna-Glossar).

Andererseits ist ECTS kein Währungssystem, jedenfalls keines, mit dem sich handeln ließe. Denn ECTS-Punkte sind immobil, wie Flugtickets nicht übertragbar. Um eine echte Währung zu sein, müssten sie Tauschmittel werden. Das, was ECTS-Punkte mobil macht, ist klarerweise weder die Arbeitsleistung noch irgendein Lernergebnis. Das liegt daran, dass es sich bei dem, was ECTS-Punkte messen, um »Humankapital« handelt, das heißt jene Arten von ökonomisch relevanten menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, die »nicht übertragen oder veräußert werden« können, »es sei denn, man ›verkauft‹ oder tauscht die Träger des Humankapitals wie im Fall von professionellen Sportlern.«9 Die Frage, ob das ehrwürdige Konzept des Wissens im Bologna-Prozess zunehmend zur Ware wird, verdeckt deshalb die naheliegendere Frage, ob nicht die Akademiker selbst zu Waren werden (↑ Korporatisierung).

Was die deutsche Version der Bologna-Erklärung etwas umständlich mit »arbeitsmarktbezogener Qualifizierung« (↑ Arbeitsmarkt) wiedergibt, heißt im englischen Original einfach »↑ employability«:10 eine gesteigerte ökonomische Disponibilität, die in Form des ECTS die Transparenz von Humankapital herstellen soll. Entlang eines Katalogs von »Lernergebnissen« oder »Lernzielen« (Einführungsmodul, Hauptmodul, Abschlussmodul) (↑ Modul) geben Instrumente wie diploma supplement und transcript of records die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit an, die sich in der Gallerte der akademischen Gehirne abgesetzt hat, und drängen darauf, diese Kenntnisse zu mobilisieren und auf effiziente Weise im europäischen Hochschul- und Wirtschaftsraum zu verteilen.

Lebenslanges Lernen in durchlässigen Institutionen

»Nehmen wir eine Gesellschaft an, in der jedes Wissen wesentlich an den Besitz eines Talismans geknüpft wäre, an ein wunderliches Buch, das dieses Wissen beinhaltet, sodass man letzteres nicht ohne ersteres besitzen könnte, und in der man anderen Menschen Wissen nur übermitteln könnte, indem man ihnen jenes Buch übergibt, dessen man im selben Moment verlustig ginge. In dieser hypothetischen Gesellschaft könnte man sich kein neues Wissen aneignen, ohne ein früheres zu opfern, selbst, wenn beide sich in nichts widersprächen.«11

Die Zeiten, in denen der Verlust des wunderlichen Studienbuches mit seinen Scheinen und Einträgen einen Verlust zumindest der nachweislichen universitären Kenntnisse bedeutet hat, sind mit computergestützten Campus-Content-Management-Systemen endgültig vorbei. Der Talisman des Scheins ist digital erfasst und, statt verlustgefährdet, permanent in der Cloud der Uni-Server präsent (↑ Netz). Er unterliegt nicht derselben natürlichen Knappheit wie die meisten anderen ökonomischen Güter. Die Grenze des Wissens ist daher nicht die Begrenztheit eines Rohstoffs (zum Beispiel der möglichen wahren Aussagen), sondern jene der subjektiven Aufnahmefähigkeit. Trotzdem suggeriert die Kreditmetaphorik des Anrechnungsverfahrens, um das es hier geht, nicht nur Knappheit, sondern auch Tauschbarkeit, durch die man sich auch außerhalb akademischer Kontexte einen universitären Status »erkaufen« könnte (↑ Austauschbarkeit).12 Die derzeitige, durch Bologna forcierte Wissensökonomie bezieht gewissermaßen die Tarde’sche Lektion auf die Erfordernisse des Bildungswettbewerbs: Es kommt ausschließlich darauf an, wieviele Informationen vom einzelnen Bildungssubjekt aufgenommen, miteinander kombiniert und als wunderliche Talismane des ECTS-Systems dokumentiert werden können; und wie wahrscheinlich es ist, dass sie im richtigen Moment als »Skill« ihre Wirkung zeigen werden (↑ Schlüsselqualifikationen).

Dementsprechend können Leistungspunkte sowohl an Hochschulen als auch »außerhalb der Hochschulen, beispielsweise durch lebenslanges Lernen«, wie es in der Bologna-Erklärung heißt, in unterschiedlichen Kontexten erworben, gesammelt und akkumuliert werden. ECTS-dokumentierte Arbeitsleistungen kennen weder ein Verfallsdatum noch ein dynamisches Gedächtnis, das Vergessen implizierte. In einem Pilot-Projekt könne, heißt es in einer Broschüre des HRK-Lobby-Projekts Nexus, »sich der Workload des Studiengangs für beruflich Qualifizierte erheblich – bis zur Hälfte der insgesamt 180 Kreditpunkte ECTS – verringern.«13 ECTS-Punkte sollen also keine bloße inneruniversitäre Währung sein, sondern das Mittel, mit dem außeruniversitäre Tätigkeiten in Studienleistungen gewechselt werden können. Welche Dimensionen dieses Vorhaben hat, wird in der Klage deutlich, dass die Zulassungsregeln »sich oft noch als unflexibel und restriktiv« erweisen, mit der Frage in Parenthese, »mit welcher Vorbildung […] man zum Studierenden der Philosophie oder Mathematik« werden könne.14 Der Wechselkurs ist also noch nicht geklärt.

Führte man die Idee in einem Gedankenspiel konsequent fort, ergäbe sich folgendes Szenario: Mit einer vollständigen Erfassung der Kompetenzen durch ECTS-Punkte außerhalb universitärer Kontexte ergäbe sich vielleicht die Situation, dass gelesene Bücher nebst Stapeln von abgerissenen Theater- und Museumsbilletts als Eintrittskarte zu einem weiterbildenden Hochschulstudium dienen. Ergänzt durch die Erkenntnis, dass gerade die Möglichkeit, sich Studienleistungen anerkennen zu lassen, häufig zu erhöhter Studiennachfrage führt,15 könnten online gekaufte Bücher und gebuchte Tickets mit dem Amazon-Hinweis versehen werden: »Andere, die diesen Artikel gekauft haben, haben sich auch für diese Studiengänge interessiert: …«. Bei dem Kauf von Sophies Welt würde einem ein Philosophiestudium vorgeschlagen, bei einem Auspuffrohr vielleicht eher Maschinenbau.

Welchen Bildungsroman schreibt das ECTS?

Die HRK-Broschüre zur Durchlässigkeit nennt ausgerechnet das »iPad« und »great books« als Beispiele für Innovationen, die dem größten Kapital einer Wirtschaft entspringen: der Fähigkeit zur Kreativität.16 Diese soll im Kontext einer gelungenen Bologna-Reform an den Universitäten gefördert werden. Paradoxerweise war der Erfinder des Gewährsproduktes, Steve Jobs, einer der prominentesten Hochschulabbrecher, und die erfolgreichste Autorin der Gegenwart (gemessen an der Auflagenstärke), Joanne K. Rowling, Besucherin hochspezifischer Kurse zu mythologischen Texten, die weder berufsqualifizierend waren noch zu einer entsprechenden Anstellung führten. Man braucht weder Harry-Potter-Leser noch Apple-User zu sein, um zu verstehen, dass Brüche, Abbrüche und Widerstände nicht nur fundamental zu Butlers, Derridas oder Schlegels (um nur wenige zu nennen) Idee von Universität gehören, sondern offenbar auch »zielführend« sind in dem Sinne, den die Bologna-Akteure selbst proklamieren (↑ Konzerte, Brandenburgische).

Auch wenn man den idealistischen Bildungsbegriff ohne sein idealistisches Fundament auf ein Bündel von Verfahren und Methoden reduziert, beinhalten diese – nach wie vor der Bologna-Reform17 – einen sinnvollen Zugang zum wissenschaftlichen Auftrag der Universitäten. Wenn man nun fragt, wie das ECTS sich zur Tradition des klassischen Bildungsromans verhält, in dem der idealistische Bildungsbegriff gewissermaßen exemplarisch vorgeführt wird, so ist das keine Nostalgie: Der Begriff des transcript of records legt selbst die Vermutung nahe, dass es hier tatsächlich um eine (Um-)Schrift geht, die ein modernisiertes Raster europäischer Bildungsgeschichten implementieren soll (↑ Bildung, kritische).

Der Bildungsroman, in dem das Subjekt »mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet«,18 wie Hegel formulierte, präfiguriert bereits die Idee von Bildungsinstitutionen, die zugleich flexibel und kohärent sein sollen. Auf das Universitätsstudium übertragen, zeigt sich das in dem Moment, etwa der Disputation, in dem ein Student, eine durch alle Unsicherheiten hindurch erarbeitete wissenschaftliche Erkenntnis öffentlich präsentiert, verteidigt und damit selbst Teil der (akademischen) Gesellschaft wird. Wird sie angenommen beziehungsweise gegen Widerstände verteidigt, passiert etwas Unvorhergesehenes: eine Innovation, die möglicherweise gleichzeitig die Gesellschaft verändert, in die der Student eintritt (↑ Korrektur). Der Weg dorthin ist erfahrungsgemäß und traditionell mit unkalkulierbaren Umwegen und verfehlten Versuchen verbunden (↑ Machen) und nicht prospektiv in eine Erzählung integrierbar (man denke noch einmal an Steve Jobs oder auch an Einsteins berüchtigte Abwesenheit in Vorlesungen [↑ Vorlesung2]).

Passend dazu war der klassische Bildungsroman retrospektiv. Deshalb kennt auch Wilhelm Meister seine eigene Bildungsgeschichte nicht, sondern bekommt sie am Ende von der Turmgesellschaft zum Abschluss seines Bildungsweges präsentiert. Die Agenten des Bologna-Prozesses treten als Figuration einer solchen Turmgesellschaft auf, die synchron zum Leben selbst die Lebensgeschichte mitschreibt, transkribiert, um im Idealfall jede Erfahrung des Bildungssubjekts, noch bevor sie angetreten wird, auf ihre mögliche Anrechnung hin zu überprüfen. Die permanente Akkumulation von ECTS-Punkten integriert jeden Schritt in den individuellen Studienverlauf und stellt somit einen sanften Zwang her, Entscheidungen prospektiv in einen auf »employability« zielenden Lebenslauf einzupassen. Das transcript wird zu einer Umschrift individueller Entscheidungen, die fortwährend an deren Homogenität appelliert. Es unterstreicht damit den Zug einer biografischen Kontinuität, die sich dem Konzept des Humankapitals zwanglos einfügen soll. Produktive Verfehlungen werden unwahrscheinlich, biografische Abbrüche und Neuanfänge prinzipiell reversibel und reaktivierbar (↑ Lebenslauf). Die symbolische Ordnung des ECTS legt nahe, vergangene lose Enden als unausgeschöpftes Potenzial zu begreifen, als ECTS-zertifizierte Fragmente, die jederzeit wieder aufgenommen und wie bei einer Rabatt-Kundenkarte innerhalb einer bestimmten Bildungskombinatorik Vergünstigungen verschaffen könnten.

Dass der Kalkül des ECTS, was Mobilität, Durchlässigkeit und employability angeht, in der Realität des europäischen Hochschulraums nicht aufgegangen ist, entschärft keineswegs das bildungspolitische Problem. Es scheint vielmehr gerade die Feststellung verschiedenster Korrekturbedürfnisse, suboptimaler Umsetzungen und »Diskrepanzen« zu sein, die den Bologna-Prozess als Dynamisierung der Universität so wirkungsvoll macht. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob schon nach zehn oder erst nach zwölf oder fünfzehn Jahren die Mobilität der Bachelor- und Masterstudierenden optimal sein wird, sondern dass überhaupt systemische Diskrepanzen erzeugt werden: eine Nichtidentität von ECTS und Realität, von Regelstudienzeit und Realstudienzeit, von Soll und Haben. Diese Inkongruenz von Studium und Anerkennung, diese institutionell erzeugte Aufregung führt letztlich zu einer Bindung des Bildungssubjekts an eine Studien- und Lebensplanung, die durch die Möglichkeiten der universitären Anerkennung von Tätigkeiten determiniert wird. Legitimationsfragen von Seiten der Studierenden werden dabei verständnisvoll und en passant durch Fragen der Machbarkeit ersetzt.

1 Europäische Bildungsminister: Der Europäische Hochschulraum, 1999, S. 3, http://www.bmbf.de/pubRD/bologna_deu.pdf (aufgerufen 9.6.2012); künftig zitiert unter der gängigen buchstäblichen Übersetzung des englischen Titels Bologna declaration. Ein offizielles Dokument namens »Bologna-Erklärung« existiert nicht.

2 In der Bologna-Declaration wird vom ECTS system (damit wird system verdoppelt) gesprochen, womit das Akronym gewissermaßen seiner buchstäblichen Bedeutung enthoben wird und eine Namensfunktion bekommt. In der deutschen Übersetzung der Bologna-Erklärung heißt es einfach ECTS.

3 »Damit bildet die Allgemeine Anrechnungsempfehlung gewissermaßen eine Übersetzung einer beruflichen (Fortbildungs-)Qualifikation in die Sprache der Hochschulen.« Anke Haft, Wolfgang Müskens: »Anrechnung außerhalb der Hochschule erworbener Kompetenzen. Das Oldenburger Modell.«, in: Hochschulrektorenkonferenz (Hg.): Diversität/Durchlässigkeit, S. 21–23, hier S. 23.

4 Vgl. etwa den Artikel von Johann Osel: Die Baustelle von Bologna, SZ Nr. 124 vom 31. 5. 2012, S. 13.

5 Hochschulrektorenkonferenz (Hg.): Glossary on the Bologna Process, Bonn 2006, S. 93.

6 Georg Simmel: Philosophie des Geldes, in: Gesamtausgabe, Bd. 6, hg. v. David P. Frisby u. Klaus Christian Köhnke, Frankfurt/Main, 1989, S. 366.

7 HRK, Glossary, a.a.O., S. 80.

8 HRK, Glossary, a.a.O., S. 81.

9 Nico Stehr: Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt/Main, 2001, S. 93.

10 Europäische Bildungsminister: Bologna-Erklärung, http://www.bologna-bergen2005.no/Docs/00Main_doc/990719BOLOGNA_DECLARATION.PDF (aufgerufen 13. 6. 2012), S. 2.

11 Gabriel Tarde: Psychologie économique, Paris 1902, S. 292 (Übersetzung Till Breyer).

12 Eine der großen Diskussionen, die unter dem Begriff der Durchlässigkeit und des lebenslangen Lernens diskutiert werden, ist die Möglichkeit, ohne eine allgemeine Hochschulreife und mithilfe von akademisch anerkannten, in ECTS-Punkte umgerechneten beruflichen Kompetenzen Zugang zur Universität zu erlangen. HRK: Diversität/Durchlässigkeit, S. 8.

13 Haft, Müskens: »Anrechnung außerhalb der Hochschule erworbener Kompetenzen«, a.a.O., S. 21.

14 Andrä Wolter: »Durchlässigkeit und Öffnung des Hochschulzugangs aus der Perspektive der Hochschulforschung«, in: HRK: Diversität/Durchlässigkeit, S. 8–14, hier S. 12.

15 Haft, Müskens: »Anrechnung außerhalb der Hochschule erworbener Kompetenzen«, a.a.O., S. 22.

16 Anna Bergsermann, Mina Chun: »Durchlässigkeit und Diversität. Chancen erkennen und gestalten«, in: HRK: Diversität/Durchlässigkeit. S. 40f., hier S. 41.

17 ›Nach‹ wäre hier als nach der Moderne, das heißt als Postmoderne im Sinne Lyotards zu verstehen; Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1994. Eine Debatte über die Folgen des skizzierten Wandels im Wissen wäre notwendiger als dessen oberflächliche Lösung durch technische Verfahren wie ECTS. Vgl. dazu Derridas Reflexionen zum Geist bei Heidegger; Jacques Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt/Main 1988.

18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, in: Werke, Bd. 14, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/Main, 1986, S. 220.

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Till Breyer

studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Regensburg und Wien. 2009/2010 war er Gastdozent an der Universität Oradea in Rumänien. Seit 2011 ist er Mitglied im PhD-Net »Das Wissen der Literatur« an der HU Berlin. Im Rahmen seines Dissertationsprojekts arbeitet er zur Literatur- und Wissensgeschichte des ökonomischen Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts.

Tillmann Severin

studierte Germanistik, Kunstgeschichte, Slavistik, Philosophie und Komparatistik in Regensburg, München und St. Petersburg.

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Unbedingte Universitäten (Hg.): Bologna-Bestiarium

Unbedingte Universitäten (Hg.)

Bologna-Bestiarium

Broschur, 344 Seiten

PDF, 344 Seiten

»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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