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Julian Müller: Klausur
Klausur
(S. 133 – 135)

Klausurrelevanz vs. produktive Überforderung

Julian Müller

Klausur

PDF, 3 Seiten

Nach einigem Hin und Her, Reiseanträge werden ausgefüllt, Rückfragen zu den Reiseanträgen werden beantwortet, Reiseanträge müssen erneut ausgefüllt werden, ist es schließlich doch gelungen, einen vergleichsweise prominenten Gast in ein Seminar einzuladen. Es herrscht Aufregung, Vorfreude, Anspannung. Der Tag ist gekommen, der Seminarraum bis auf den letzten Platz besetzt, es gibt einen kurzen Vortrag und eine längere, sehr lebhafte Diskussion, vor allem zwischen den Studierenden und dem Gast. Die Studierenden können zum ersten Mal das, was sie in den bisherigen Seminarsitzungen gelesen und erarbeitet haben, an jemandem ausprobieren, dessen Namen sie bisher nur aus Zeitungen und Büchern kannten. Und sie tun das auch, ohne Berührungsängste und ohne Scheu. Man könnte also sagen, die Sitzung verläuft so, wie man sich eine gelungene Sitzung in einem Universitätsseminar vorstellt. Froh darüber, dass alles gut geklappt hat, verlässt der Dozent in Begleitung des Gastes das Seminar. Vor dem Seminarraum wird er von einer Gruppe Studierender abgefangen und mit der Bitte um eine kurze Auskunft zur Seite genommen. Ob denn diese heutige Sitzung auch klausurrelevant sei. Dieselbe Frage wird den Dozenten innerhalb dieser Woche per Mail noch dreimal erreichen.

Diese Geschichte soll also dazu dienen, Kritik an den Studierenden zu üben? Nein, das wäre nicht nur billig, es wäre vor allem auch falsch. Denn es waren ja dieselben Studierenden, die sich zuvor ganz selbstbewusst und selbstverständlich an der Diskussion beteiligt haben, die spontan auf einen schwierigen Vortrag reagiert und kluge Fragen gestellt haben. Die Geschichte richtet sich gegen eine bestimmte und in diesem Ausmaß neue Form der Relevanz- und Aufmerksamkeitsökonomie. Was sich in den letzten beiden Jahren, verschärft seit der Umstellung von Diplom- und Magisterstudiengängen auf Bachelorstudiengänge, beobachten lässt, ist ein veränderter studentischer Habitus (↑ Lebensführung, studentische). Die Studierenden arbeiten überaus konzentriert und aufmerksam, aber es gibt etwas Irritierendes an dieser Aufmerksamkeit. Bisweilen hat man als Dozent das Gefühl, alles, was man sagt, würde auf eine Metainformation hin untersucht, so als gäbe es hinter dem Gesagten noch versteckte Botschaften für das, worum es wirklich geht. Die Studierenden sind so sehr damit beschäftigt, den einen scheinbar klausurrelevanten Satz herauszufiltern, den sie in jeder Sitzung vermuten, dass die Seminare bisweilen an ihnen vorbeiziehen. Die Angst, diesen einen Satz zu verpassen, ist ebenso groß wie die Enttäuschung, wenn diese Sätze von den Lehrenden gar nicht erst geliefert werden. Dass Seminare aber ganz gut ohne diesen einen entscheidenden Satz auskommen können, dass es darum gehen kann, Argumente über einen längeren Zeitraum zu entwickeln, also Erwartungen aufzubauen, die, wenn überhaupt, erst zu einem späteren Zeitpunkt eingelöst werden, ist kaum noch nachvollziehbar. Langsicht und ein notwendiges Maß an Enttäuschungstoleranz, beides Grundvoraussetzung akademischer Arbeit, scheinen mehr und mehr abhanden zu kommen.

Es geht an dieser Stelle nicht um eine naive Non-scholae-sed-vitae-Romantik und auch nicht um ein Lamento über Kalkül und Verwertbarkeitsrationalität. Informationen auch auf ihre Verwertbarkeit hin zu untersuchen, ist sicherlich eine ganz entscheidende ↑ Kompetenz, die Universitäten vermitteln sollten. Was ich als Aufmerksamkeits- und Relevanzökonomie bezeichnet habe, verweist auf etwas anderes: auf das schwindende Bewusstsein dafür, dass wissenschaftliche Inhalte nicht schon bereits abschließend diskutiert sind (↑ Lektürekurs).

Daran trifft die Studierenden gar keine Schuld. Absichtlich habe ich von Habitus gesprochen, und es ist die soziologische Pointe des Habitusbegriffs, dass er im Grunde weniger über ein vermeintliches Subjekt verrät als über die Strukturen, in die dieses Subjekt eingelassen ist. Die Modularisierung der Studiengänge (↑ Modul), die zunehmende Beschränkung individueller Freiheiten der Studierenden (↑ Überschneidungsfreiheit) etwa in der Gestaltung von Stundenplänen (sic!), die alles begleitende Sorge der Universitäten und Institute, Vergleichbarkeiten zwischen Studienleistungen garantieren zu müssen, haben schon strukturell dazu geführt, Lehre immer stärker als Unterricht zu inszenieren.

Wenn es aber eine Minimalanforderung an qualitativ gute wissenschaftliche Lehre gibt, dann die, dass ihr immer auch ein gewisses Maß an Unbestimmtheit inhärent sein muss. Unbestimmtheit ist kein Mangel, sondern ein Qualitätskriterium wissenschaftlicher Lehre. Um nicht falsch verstanden zu werden, das soll kein Plädoyer für Unverständlichkeit oder Unklarheit sein. Seminare sind dazu da, Schwieriges verständlich zu machen, Fragen zu beantworten, Unklarheiten zu beseitigen. Aber darüber hinaus müssen sie noch etwas leisten. Sie müssen ein gewisses Maß an Unbestimmtheit virulent halten, also ein Gefühl vermitteln, dass sich hinter all dem Gesagten, Gelesenen, Diskutierten noch ein Raum an Verweisen, an weiteren Anschlussmöglichkeiten, an Kritik eröffnen könnte – und sei es nur als Unterstellung. Ohne diese Unterstellung aber kann weder wissenschaftliche Lehre noch Wissenschaft überhaupt funktionieren.

Wenn man sich anschaut, wie viele Fortbildungsangebote zur Verbesserung der Lehre es derzeit für das wissenschaftliche Personal gibt, erstaunt es doch, dass parallel dazu keine wirkliche Debatte darüber aufkommt, was »Verbesserung« eigentlich heißt. Ich kenne niemanden, der sich gegen Verbesserung und für Verschlechterung ausspricht, aber die Formulierung eindeutiger Lern- und Lehrziele allein scheint noch keine Verbesserung zu sein. Eher lässt sich daran ablesen, wie unplausibel die Idee von Überforderung mittlerweile geworden ist. Überforderung meint gegenwärtig ausschließlich Überforderung im Hinblick auf den Arbeitsaufwand der Studierenden (↑ Leistungspunkte/ECTS), inhaltliche Überforderung ist dagegen strikt zu vermeiden. Dabei ist Überforderung wohl der produktivste, durch nichts zu ersetzende Faktor innerhalb eines Studiums, und ↑ Vorlesungen und Seminare sahen sich stets damit konfrontiert, Überforderung in einem Maße aufzubauen, dass sie nicht in Frustration umschlägt. Aber Studienordnungen, die von Anbeginn des Studiums alle Aktivitäten in Leistungspunkte transformieren müssen, tun sich schon aus systematischen Gründen schwer mit Überforderung – sie ist schlichtweg nicht abprüfbar.

Vielleicht müsste vor dem Hintergrund stärker verkürzter Studienzeiten und stärker standardisierter Stundenpläne daher über Klausurtypen nachgedacht werden, in denen nicht nur Inhalte, sondern auch ein Verständnis für die Unbestimmtheit, mit der jede Form akademischer Beschäftigung zu tun hat, abgefragt werden. Und vielleicht stellt sich die Frage nach Klausurrelevanz dann auch gar nicht mehr in dieser Form.

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Julian Müller

studierte Soziologie und Philosophie in München und Tübingen. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Unbedingte Universitäten (Hg.): Bologna-Bestiarium

Unbedingte Universitäten (Hg.)

Bologna-Bestiarium

Broschur, 344 Seiten

PDF, 344 Seiten

»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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