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Maren Lehmann: Vorlesung2
Vorlesung2
(S. 311 – 333)

Die Vorlesung ist die wilde Version des Lesens

Maren Lehmann

Vorlesung2

PDF, 23 Seiten

Eine Schleiermacher-Lektüre

Das ↑ Bestiarium ist ein Ort der Dressur. Sei es im zoologischen Garten, auf einer touristischen Safari oder in einer zirzensischen Freakshow, im reich bebilderten Prachtband oder einem forensischen Museum, schließlich auch in jedem begrifflich durchregistrierten Text: Immer zeigt es gebändigte Wildheit – und es zeigt sie einem Betrachter, der, um dies betrachten zu können, das Bestiarium betreten muss und dort damit umzugehen lernt, selbst zum Gegenstand der Betrachtung durch jene zu werden, die er betrachtet. Auch er ist ein gebändigter Wilder, er vor allem. Denn ihn hat zwar seine Zivilisation (seine Bildung) so fest im Griff, dass er ohne jene Gitter und Ketten, Gräben und Mauern auskommt, die – abstrahiert zur Buchseite – die andere Seite im Zaum halten und sie dadurch zugleich bändigen und als wild vor Augen führen. Aber die Betrachtung dieser anderen Seite erinnert ihn auch an seine eigene Bändigung, und sie provoziert eine Solidarisierung der Betrachter (und sei es im Medium der lustvollen Angst oder der neugierigen Arroganz).

Das Bestiarium, könnte man daher sagen, ist die Geselligkeit der Dressierten. Man könnte außerdem sagen, dass diese Geselligkeit von einem Duell grundiert ist. Einerseits vom Duell im Kontext einer positiven Dressur, die Beobachter in einem Kontext von Gittern, Ketten, Gräben, Mauern arrangiert und dadurch Wildheit als Möglichkeit aller arrangierten Beobachter explizit präsentiert. Und andererseits vom Duell im Kontext einer negativen Dressur, die die zivilisatorische, gebildete Unmöglichkeit dieser Möglichkeit nicht minder explizit präsentiert, indem sie das positive Arrangement in die Fläche von Zeichnung, Fotografie, Film und Schrift legt (zivilisiert ist, wer bedruckte Flächen gegenüber ihrer nichtbedruckten und nichtflachen Umgebung zu privilegieren vermag; jeder andere ist wild).1 Positiv wie negativ geht es dabei um die Fähigkeit, sich im Medium einer Unterscheidung zu unterscheiden (und jede noch so »kleine Bestie kann […] unterscheiden«);2 diese Unterscheidung mag im ersten, positiven Fall archaisch erscheinen (innen/außen), im zweiten, negativen Fall modern (flach/nichtflach), wird aber erst wirklich »bestialisch«, wenn beide sich im selben Kontext (in einem Duell positiver und negativer Dressur, also in einer Art »Duell zweiter Ordnung«) wiederfinden. So lange diese Duelle, vor allem letzteres Duell zweiter Ordnung, unentschieden bleiben,3 so lange ist das Bestiarium ein geselliger Ort des Lebens und Lebenlassens. Ein Ort, an dem reflexive Wahrnehmung – also Interaktion: Kommunikation über Wahrnehmung – als Identitätsproblem begreiflich wird, ohne dass dazu Gespräch oder Handgemenge erforderlich wären. Ein Ort, der zum Ertragen gleichzeitiger Anwesenheit unverständlicher und womöglich unverträglicher Anderer erzieht (»Monstren« und »Bestien«, unter denen noch das Grimm’sche Wörterbuch nicht nur Thiere, sondern auch Thoren versteht). Ein Ort, an dem ein Beobachter Unverständlichkeit und Unverträglichkeit als andere Möglichkeiten seiner selbst nicht nur sieht, sondern auch anzuerkennen lernt.

Die folgenden Überlegungen wenden diesen Gedanken auf die akademische, genauer: die universitäre Vorlesung an. Sie folgen dabei fast ausschließlich den Gelegentlichen Gedanken Friedrich Schleiermachers, des Geselligkeitstheoretikers schlechthin. Der Text ist im Grunde jenes Bestiarium der Universität, nach dem wir hier suchen, und er kulminiert im Begriff der Vorlesung. Diese wird von Schleiermacher verstanden als Form der Geselligkeit unter einander unbegreiflichen Beobachtern, die ihr Duell4 im Medium offener Blicke (das heißt: im Medium des Lesens) austragen, indem sie diese Blicke beziehungsweise dieses Lesen in die Differenz von Sprechen und Hören übertragen und diese Differenz einer Rollenkomplementarität zuordnen. Die Vorlesung gelingt, wenn sie die Unterscheidungen innen/außen (positives Arrangement zum Beispiel von Körpern und Dingen), flach/nichtflach (negatives Arrangement zum Beispiel von Bildern und Schriften) und die Unterscheidung beider Arrangements unentschieden lässt. Das heißt: Sie gelingt nur von Moment zu Moment, sie ist ein dominant zeitliches Arrangement kommunikativer Ereignisse, das Körper, Räume und Bücher als Stabilitätsanker braucht, auf die sie aber im entscheidenden Moment nur im Sinne kontingenter Möglichkeiten rechnen kann – und auch nur so zu rechnen braucht. Aus dieser dominanten Zeitlichkeit resultiert die Fokussierung der Vorlesung auf das Hören, genauer: auf die Differenz von Sprechen und Hören. Die Kunst der Vorlesung besteht darin, zumindest diese eine Unterscheidung nicht unentschieden zu lassen.5 Das kann, weswegen die Vorlesung eine nach Möglichkeit kurze Episode ist, nicht lange gelingen und es kann überhaupt nicht gelingen, wenn nicht das Hören, sondern das Sprechen privilegiert wird.6 Im Kontext der Vorlesung ist die dominante Rolle immer die des Hörers. Zu den Hörern gehört, was keine zu vernachlässigende Implikation ist, auch der Sprecher; für Wilhelm von Humboldt – Zeitgenosse Schleiermachers – war das in seinen Berliner Plänen sogar die entscheidende Implikation.7 Und wie Friedrich Nietzsche in seinen Basler Vorträgen deutlich machte, ist dieses Hören kein passiver »Konsum« »keuchender Darbietungen« »von der Tiefe der Empirie aus bis hinauf zur Höhe der eigentlichen Kulturprobleme«, es impliziere vielmehr eine spezifische aktiv gepflegte Zurückhaltung, die dem Lesen nahe steht und auf den Habitus des Lesers vorbereitet: »Der Leser, von dem ich etwas erwarte, muss drei Eigenschaften haben: er muss ruhig sein und ohne Hast lesen, er muss nicht immer sich selbst und seine ›Bildung‹ dazwischen bringen, er darf endlich nicht, am Schlusse, etwa als Resultat, Tabellen erwarten« (↑ Lektürekurs).8 Tabellen haben Beschleunigung zum Zweck, sie bilden eine Art Kurzschluss von Wahrnehmung und Kommunikation; Hörer aber »haben«, weil sie Leser sind (und das heißt, wenn sie Leser sind), »Zeit«.9 Daher sind, Schleiermacher wird das deutlich machen, Vorlesungen das »Heiligtum« der Universität. Sie sind fähig, Hörer als Leser anzusprechen.

Das Sehen braucht dabei nicht ausgeschlossen zu bleiben, im Gegenteil; es wird vermutlich sogar als Joker eingebracht, der einerseits dem Duell der Beobachter die Schärfe nimmt, indem er ihre Aufmerksamkeit ablenkt10 (und sie zugleich in der räumlichen Enge des nie ganz geräuschlosen Seite-an-Seite-Sitzens auf unbequemen und ebenfalls nie geräuschlosen Möbeln orientiert); das mag durch Tafelbilder und Projektionsflächen aller Art (»Tabellen«) unterstützt werden. Und andererseits erinnert der Joker an dieses Duell, führt er doch mittels der räumlichen Situation nicht nur den Abstand, sondern vor allem die Asymmetrie der Beobachter vor Augen.11 Der Joker des Sehens erinnert den Sprecher daran, dass er, obwohl auch er hört, sprechen muss – er ist in dieser Situation (und nur hier) der Professor. Für diesen Joker spricht auch die Semantik des Lichts,12 die das Problem der Wahrheit an das Problem der Aufklärung und der (Druck-)Schrift geknüpft und den akademischen vom klerikalen Vortrag gelöst hat. Schließlich moderiert dieser Joker die Vorlesung auch, kühlt also die durch die Rollenasymmetrie und die Duellsituation entstandene Nervosität aus, weil er die Wahrnehmungsform des Lesens ist – er resymmetrisiert also die Differenz von Sprechen und Hören, die der Vorlesung ihre Form gibt (die Vorlesung verhindert demnach – erneut Humboldt –, dass Wissenschaftler »wenig oder gar nicht lesen«13). Eine gelungene Vorlesung ermöglicht einen »freieren Blick« für Sprecher und Hörer, die sich beide – gestellt auf sich selbst – in das Duell ihrer verschiedenen Varianten von »dem Nichtswissen und dem Wissen des Nichtswissens« wagen und dabei durch nichts gerüstet sind als durch eben diesen freien Blick.14 Ähnlich hat die Dostoevskij-Übersetzerin Svetlana Geier die Forderung »Natürlich – man muss lesen lernen« mit einer einzigen Regel verknüpft: »Nase hoch!«; und das heißt ganz einfach: Lesen impliziert nicht nur Sehen, sondern auch Hören.15

Das aber heißt eben auch, dass das Sehen und das Lesen in der Vorlesung selbst zugleich Joker und Konkurrent der Vorlesung sind, der es – wie bereits bezeichnet – darauf ankommen lassen muss, die Differenz von Sprechen und Hören zu asymmetrisieren und dabei immer zu pflegen. So unverzichtbar Sehen und Lesen also sind: Die Vorlesung selbst ist eine akustische Form, und sie ist dies, um das erneut zu betonen, weil sie ein zeitliches Arrangement kommunikativer Möglichkeiten ist. Sie exponiert den Professor im Moment: als aktuell mündlich hörbar Bekennenden,16 und sie bindet ihn an das Bekenntnis, indem sie ihn seinen Hörern in diesem Moment leibhaftig aussetzt. Insoweit hält sie die aufklärerische Differenz von Wahrheit und Glauben wach – und dies durch nichts als die Rückübertragung des in Form des Buches zur Sachfrage (zum Gegenstand) gezähmten Unverständlichen in ein interaktives Arrangement, durch nichts als die Rückübertragung der Verknüpfung von Sehen und Schrift (Lesen) in die Geselligkeit von Sprechen und Hören (Vorlesung). Die Vorlesung ist, so gesehen, die wilde (»bestialische«, »monströse«) Version des Lesens und der Hörsaal ist die wilde Version des Buches, der Bibliothek und des Studierzimmers. Aus der Gleichzeitigkeit (und das heißt im Folgenden: der Präsenz)17 einander unbegreiflicher Beobachter und für diese Beobachter unverständlicher Gegenstände wird in der Vorlesung eine Geselligkeit, in der jeder Beobachter und jeder Gegenstand des Anderen absonderlicher Nachbar sein kann: ein Bestiarium (↑ Sammelband).18

Wir kommen endlich zu unserem Exposé, zu Friedrich Schleiermachers Gelegentlichen Gedanken über Universitäten aus dem Jahr 1808.19

*

Ohne einen Blick auf die Lage Preußens in der ersten Dekade des neunzehnten Jahrhunderts und ohne einen Blick auf die persönlichen Umstände Schleiermachers ist die vorliegende Schrift nicht zu verstehen. Friedrich Schleiermacher, der Sohn eines Militärgeistlichen, war (infolge eines Unfalls, bei dem seine Schwester das Kleinkind fallen ließ) kleinwüchsig und verwachsen, zugleich aber von »enorme[r] geistige[r] und emotionale[r] Präsenz und […] geselligen Talente[n]«;20 wir notieren dies ausdrücklich auch in Bezug auf die modernen Sorgen, im Hörsaal wie in einem Bestiarium den observierenden Blicken ausgesetzt zu sein, und die ebenso moderne Hoffnung, gegen diese Observanz durch Intellektualität gewappnet zu sein. Die Gleichzeitigkeit von Kleinem und Großem, von Mangel und Begabung muss seine Persönlichkeit schon früh unter quälende Spannung gesetzt haben. So hat er beispielsweise selbst berichtet, dass er als Schüler zwar dem Unterricht immer mühelos folgen konnte, aber bei allem problemlos abrufbaren Splitterwissen niemals für sich selbst den Eindruck hatte, den Dingen auf den Grund gegangen zu sein; »was mich sehr beunruhigte«, schreibt er in seiner Selbstbiografie, und »so fing ich an, an der gepriesenen Größe meiner natürlichen Fähigkeiten gewaltig zu zweifeln und schwebte beständig in der Angst, daß Andere diese unvermuthete Entdeckung nun auch machen würden«.21 Er habe sich schon als Kind gefühlt wie ein »Hochstapler, der vor seiner Entdeckung zittert« – ganz deutlich war dies auch eine von auf abprüfbare Kleinteiligkeit kaprizierten Lehrern geschürte Angst, der Arroganz verdächtigt zu werden.22 Dabei ist es zeitlebens geblieben (für seinen Begriff der Erkenntnis als des genauen Gegenteils allen Spezialwissens in den Gelegentlichen Gedanken ist diese Erfahrung prägend und es ist sicher auch nicht belanglos, dass er die Selbstbiografie im Jahr seines Universitätsabschlusses 1794 schreibt). Schleiermacher reflektiert wie wenige die von nicht wenigen beschriebene Tatsache, dass die überall gesuchte Begabung (er selbst lebte noch im Jahrhundert des Genies) vor allem in einer Begabung zur Unruhe besteht, die von Schulen nicht goutiert wird, so dass gerade die Begabten vor der Schule »zittern« (und schließlich vielfach, wie Schleiermacher von sich selbst sagt, eine Oszillation zwischen »Phantasie« und »Kaltblütigkeit« kultivieren, die für die Zeitgenossen schwer erträglich und kaum verständlich ist – eine Art Rache für die immer latente Angst).23 Sein von allen Zeitgenossen teils bewundernd, teils herablassend anerkanntes pädagogisches Geschick jedenfalls wird ein wichtiges, vielleicht sein wichtigstes Movens in dem Versuch gehabt haben, seinen Studenten diese quälende Angst, inbegriffen die Angst vor Lehrern, zu ersparen. Die Gelegentlichen Gedanken verteidigen diesen Versuch mit Verve, wenn sie die Universität als Ort der Freiheit und die Vorlesung als Kommunikationsform dieser Freiheit skizzieren.

Schleiermacher muss wegen Schulden und wegen der von Akademikern überschwemmten Universitätsstädte – »Er blickte in den Abgrund der Zukunftslosigkeit«24 – das Studium abbrechen und zieht sich ins Haus seines Onkels in der Provinz zurück, einen Abgrund anderer Art, weil die ihm selbst lichtvoll erschienene Zeit des Studiums unerreichbar verloren war: »[…] einen Augenblick in die Sonne zu sehn und dann wieder in die schwärzeste dunkelste Nacht zurück zu müssen wo von allen Gegenständen welche da seyn mögen kein einziger Eindruk auf uns machen kann, das kann blind machen«.25 Für seine in den Gelegentlichen Gedanken dargelegte Überzeugung, eine Universität dürfe und könne nicht in der kulturellen Einöde residieren, ist diese Erfahrung prägend gewesen (auch wenn er sich verschiedentlich, auch im Anhang zu den Gedanken, skeptisch hinsichtlich der Zerstreuungen der Großstädte gezeigt hat – die er vermutlich als Einöde eigener Art verstanden hat). Die materielle Notlage erzwingt den Verzicht auf den Traum der Rückkehr an die Universität und die Anmeldung zum Examen, das er am Konsistorium Berlin ablegt; er besteht mit dem Attest, er predige mehr philosophisch als populär, und dem Auftrag, diese Attitüde abzulegen. (Dieses Attest wird später auch seinen Vorlesungen ausgestellt, von den Studenten jedoch gefeiert werden.) Er wird Hauslehrer und lernt »zu gehorchen«, das heißt: dass er »gut daran tat, seine geistige Überlegenheit nicht auszuspielen«26 und sich dennoch, oder gerade deshalb, intellektuelle Freiheit zu erarbeiten. Man kann die ironische Wendung von »gehorchen lernen« – wo man »sich eigentlich immer leidend verhält« – in »zuhören lernen« – »alles soll Wechselwirkung sein« – nicht nur in Schleiermachers Plädoyer für diskursive Vorlesungen in den Gelegentlichen Gedanken nachlesen, sondern auch bereits in Schleiermachers luzider Theorie des geselligen Betragens.27 Nicht zu vergessen ist, dass er, der Bürgerliche, sich als Subalterner in einem Adelshaus befand, als die Französische Revolution ausbrach, mit der er – die ihn wegen ihrer Gewaltexzesse schockierte – auch öffentlich sympathisierte; und »öffentlich« hieß für ihn zeitlebens: in Form der offenen Debatte, ohne festlegendes Bekenntnis, und immer gegründet auf Schriftlichkeit. Diese Präferenz bringt ihn schließlich auch vom Leben in einer Hauslehrer- oder einer Parochialpfarrstelle ab und zurück an die Universität.

Er ist achtundzwanzig Jahre alt, als er 1796 – nach zweitem Examen – als Seelsorger und Prediger an die Maison royale de charité (»die Charité«) nach Berlin geht, die sich seit den 1780er Jahren in einem erheblichen Umbau- und Erweiterungsprozess befand und zum wichtigsten Bestandteil der 1810 gegründeten Universität werden sollte (dass der Mediziner Hufeland, Direktor der Charité, in das Beratergremium zu dieser Gründung berufen wurde, nicht jedoch Schleiermacher, der seit 1804 Professor an der Fridericiana Halle war, ist der äußere Anlass – die »Gelegenheit« – zur Abfassung der Gelegentlichen Gedanken).28 Die Aufgabe bringt ihn unter das »Strandgut der Großstadt«, auch seinen Lebensumständen nach;29 die Stadt aber öffnet ihm den Kreis der Frühromantiker. Man liegt vermutlich nicht völlig falsch, wenn man die intellektuellen Reize dieses Kreises, für den die Form der Geselligkeit in der Gleichzeitigkeit von Kunst und Wissenschaft lag, die eine immer wieder neu sich gestaltende Beweglichkeit erlaubte und erforderte, als Vorbild für Schleiermachers Universitätsideal versteht. Er lernt den vier Jahre jüngeren Friedrich Schlegel kennen; Nowak schreibt: »der Blitz einer intellektuellen Empathie [schlug ein]«.30 Die beiden konkurrieren aber auch. Schleiermacher fühlt sich in dem exaltierten Milieu der Romantiker so wohl wie unsicher; vermutlich kommt er sich zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben unterlegen und überfordert vor (man darf dabei seine Kleinwüchsigkeit nicht vergessen; denn der Berliner Kreis war von so heftigen wie flüchtigen Amouren durchwebt (↑ Love), an denen Schleiermacher immer nur als Konversationsteilnehmer und Seelentröster Anteil hatte). Schlegel seinerseits betont, wie sehr er Schleiermachers philosophische Intelligenz schätze: Im Gebiet des dialektischen Witzes, den Schlegel unter dem Schlagwort der »symphilosophischen Paradoxie« und der »Unverständlichkeit« feiert,31 ist Schleiermacher brillant; er wird die Universität in den Gelegentlichen Gedanken selbst als Ort einer solchen »Symphilosophie«, als »›work in progress‹ mit verteilten Rollen« entwerfen.32 Schlegel zögert aber auch nicht, seinem Freund wiederum (Schleiermacher kennt das ja bereits) größere »Popularität« abzuverlangen und ihm überdies Untätigkeit vorzuwerfen: Denn Schleiermacher kommt im Zuge seiner Dienstpflichten in der Charité nicht zum Schreiben (pikant ist der Umstand, dass Schlegel von diesen Pflichten profitiert; er zieht nämlich in Schleiermachers Dienstwohnung ein, was diesem nicht unerheblichen Ärger mit dem Konsistorium beschert – auch wegen des »Lebenswandels«, den Schlegel mitschleppt und den Schleiermacher 1800 öffentlich verteidigt).33 Zu seinem 29. Geburtstag fällt der Kreis in seinem Arbeitszimmer ein, und Schlegel nötigt unter einem Spottgesang (»neun und zwanzig Jahr und noch nichts gemacht! damit konnte er gar nicht aufhören«, erinnert sich Schleiermacher) ihm – der am Schreibtisch saß, bis die »Posse« losbrach – das Versprechen ab, endlich produktiv zu werden (↑ Machen).34

Dem kommt Schleiermacher nach. Er profitiert von der prekären Freundschaft mit Schlegel von dem Moment an, da er sich aus ihr löst. Nach einer Reihe von Schriften (er übernimmt vor allem die verlegerische Kleinarbeit) für das neu gegründete Athenaeum und einigen dort sinnreich platzierten »kritischen Vernichtungen« in Form von Rezensionen35 (die bekannteste ist seine Erledigung von Fichtes Bestimmung des Menschen), die die scientific community ihm nicht vergessen hat, legt er 1799 mit den Reden Über die Religion seine wohl berühmteste Schrift vor.36 Riskant, und zwar riskant bis zum Äußersten, war auch dies. Denn mit den im Untertitel angesprochenen Gebildeten mussten sich Schleiermachers Vorgesetzte im bürokratischen Gerüst Berlins gemeint sehen, und sie mussten sich überdies in der Form einer demokratischen Rede nach dem Muster des französischen Konvents angesprochen und also in ihrer Loyalität für den Hof auf die Probe gestellt sehen – einer Loyalität, der durch Schleiermachers Auffassung der Religion als per definitionem unbeherrschbar freier (individueller) »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« ein Gegenbegriff kontrastiert wird und die wie eine fade Vorliebe (eine überflüssige Konfession) für »ein steifes und mageres Skelett« aussehen musste, das aus dem »Unendlichen« doch »bloß herausgeschnitten« ist.37 Dem König und seinen Kultusbeamten wird in Schleiermachers Geselligkeit religiösen Sinns der Herrschaftsbereich entzogen – und gerade darin ist ein genauer Erstentwurf der Unabhängigkeit der Universität als des »kosmischen«, unendlichen Zusammenhangs der Erkenntnis vom Staat als dessen bürokratischer Fessel zu sehen, wie sie Schleiermacher in den Gelegentlichen Gedanken entwickelt.

Schleiermacher kommt, was ihn nicht sonderlich überrascht haben kann, in Misskredit und muss, das allerdings hat ihn getroffen, Berlin verlassen; er gerät erneut in die bekannte »Finsternis« in der »Tiefe der Provinz«; wieder hat er »Angst […] zu vermodern«, auch wenn er sie mit einem Humor nimmt, der »das Gift der Verzweiflung in sich
[trägt]«.38 Diesmal aber nutzt er diese Lage. Einerseits für eine Sittenlehre (die Dialektik, Ethik und Physik verknüpfte und die die Rezeption für unzugänglich hielt: Man habe »nichts, durchaus nichts […] verstanden im Zusammenhange« dieser »unendlichen Abstrusität«, meinen sogar Freunde).39 Andererseits für eine Platon-Übersetzung, an der sich anfänglich noch Schlegel hatte beteiligen wollen, dem aber dann der Atem dafür ausging; dieses »überragende« Werk gilt bis heute als »die klassische deutsche Platonübersetzung«40 und bildet zugleich den Entwurf für Schleiermachers große Hermeneutik, die – wie die Ethik – erstmals 1805 öffentlich vorlag (und die unverzichtbar ist, wenn – was hier nicht geschehen kann – Schleiermachers Kommunikationstheorie auch in Hinblick auf die Verknüpfung von Wahrnehmung und Kommunikation dargelegt werden soll). Für diese beiden Werke erhält er einen Ruf an die bayerische Universität Würzburg, den er annimmt – zögernd, weil er weder das Predigtamt noch Preußen verlassen will, zugleich aber entschlossen, weil er dem »Grab« der Provinz würde entkommen können.41 Der preußische König jedoch »wünschte Ablehnung des Rufs«42 und bietet ihm eine Stelle als Universitätsprediger und Extraordinarius der Theologie und der Philosophie in Halle an. Schleiermacher geht im Oktober 1804 zurück an seinen Studienort, wo er schnell zu Ruhm auch weit in seinen Berliner Kreis hinein und darüber hinaus kommt und deshalb (erneut also: um gebunden zu werden) zwei Jahre später auch ein Ordinariat erhält.

Im selben Jahr »brach« mit dem Krieg Preußens gegen das napoleonische Frankreich »über Halle die Weltgeschichte herein«.43 Unmittelbar nach der katastrophalen Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt wird Halle von französischen Truppen besetzt; die Universität wird geschlossen, Gehaltszahlungen werden eingestellt, Schleiermachers Wohnhaus wird in Beschlag genommen und geplündert: Er »glaubte seine Wirksamkeit ›zertrümmert‹«.44 Als in dieser Situation erneut ein abwerbendes Angebot eintrifft, lehnt er jedoch selbst ab; er wolle »die Universität, an der ich mit so vieler Liebe gearbeitet, nicht verlassen, so lange noch Hoffnung für sie ist« (Nowak hält eine Kalkulation mit dem »Eventualfall des Märtyrertums« für möglich).45 Es ist diese Hoffnung angesichts allgemeiner »Zerstörung« (19 u.ö.),46 die ihn zunächst auf eine Wiedererrichtung des Verlorenen in Form einer Vereinigung der bestehenden preußischen Universitäten Halle und Frankfurt (Oder) setzen lässt (neben Königsberg den einzigen Preußen verbliebenen akademischen Lehranstalten). Als Preußen mit dem Tilsiter Frieden im Sommer 1807 Halle verliert, wird die Universität dort zwar im von Napoleon errichteten Herrschaftsgebiet Westfalen wiedereröffnet, jedoch in Hinblick auf eine zum Staatsdienst im engeren, beruflichen Sinne vorbereitende Ausbildung reorganisiert, die Schleiermacher zuwider sein musste – hatte er sich doch nicht zuletzt in den Reden gegen solche auch in Preußen diskutierte und weithin längst präferierte staatsdienliche Spezialisierung gewandt. Er geht, alles in allem wohl resigniert, nach Berlin, im Gepäck eine noch unveröffentlichte Schrift namens Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende.

Man muss sich seine oben erwähnte Oszillation von »Phantasie« und »Kaltblütigkeit«, Ironie und Demut vor Augen halten, wenn man verstehen will, auf eine wie harte politische und moralische Probe seine Intelligenz mit diesem Wechsel gestellt wird. Das Frankreich der Revolution musste ihm verloren scheinen, trat es ihm doch zuerst plündernd, dann in einem technokratischen Pragmatismus und einem ausgedachten Monarchismus gegenüber. Vom alten Preußen hatte er sich im Kreis der Frühromantiker abgewandt, wofür sich der Hof jetzt subtil rächte, indem er ihn zwar nach Berlin berief, ihn aus den programmatischen Überlegungen zur Neugründung jedoch heraushielt; nicht einmal zum Fachgutachter für die Theologie war er berufen worden. Nach wie vor wird er, so sagt er es selbst, für einen »›Schwärmer‹« gehalten, mit dem sich »›eigentlich nichts‹« anfangen lässt.47 Aus Sicht der Kultusbürokratie, die »einer Bündelung und Qualifizierung [von] praktisch orientierten ›Akademien‹ zu[neigte], ergänzt durch Fachschulen« und damit dem napoleonischen Frankreich mit seinen »Écoles« folgte, war der Neugründungsplan ein Rückschritt »auf die ältere Bahn«.48 Die französisch-westfälische Wiedereinsetzung der Halleschen Universität musste diesen Bestrebungen zupass kommen. Es kam deshalb darauf an, schnell zu sein, und es kam auf einen besonderen Mut zur Pointierung des Unzeitgemäßen an, den das berufene Gremium nicht aufbringen würde. Schleiermacher, der als junger Mann selbst revolutionstheoretische Überlegungen notiert hatte, weiß um das Potential des Augenblicks. Deshalb schreibt er die Gelegentlichen Gedanken.

Es überrascht insoweit nicht, dass das erste Kapitel der »kleinen Schrift« (19) dem »Verhältniß des wissenschaftlichen Vereins zum Staate« gewidmet ist. Er stellt eine Bestimmung der Wissenschaft im Allgemeinen und im Besonderen voran, die die Universität zum »symphilosophischen« Kreis macht und die Spezialisierung ohne Weiteres als unwissenschaftlich zurückweist: »Wie genau hängt doch alles zusammen und greifet in einander auf dem Gebiete des Wissens, so daß man sagen kann, je mehr etwas auf sich allein dargestellt wird, um desto mehr erscheine es unverständlich und verworren, indem streng genommen jedes Einzelne nur in der Verbindung mit allem übrigen ganz kann durchschaut werden, und daher auch die Ausbildung jedes Theiles von der aller übrigen abhängig ist […] Alle wissenschaftlichen Bemühungen ziehen einander an, und wollen in Eines zusammen gehen […]« (21). Das Mittel zu diesem »Zusammenhang« ist eben der »wissenschaftliche Verein«: die Geselligkeit, die »Mittheilung« (22), keineswegs die bürokratisch inszenierte Kontrolle einer simplen Versammlung des Verschiedenen unter einem Dach, die die Registratur des Verschiedenen als Verschiedenes implizieren, spezialisierte Absonderungen forcieren und deshalb jede »Erkenntniß« (31) verhindern würde. (Die Universität würde sonst zu einem Haufen von Büros, in jedem »irgend ein wissenschaftlicher Mensch abgeschlossen« [22] ↑ Koordinator). Dem Staat komme allenfalls die Garantie von Rechtssicherheit zu (Schleiermachers Hinweis, Eingriffsrechte des Staates in freie Vereine wie eben diejenigen der Wissenschaft seien allenfalls begründbar dadurch, dass dieser dem Einzelnen »etwas unbürgerliches, staatszerstörendes erweisen« [23] könne, hat sich an ihm selbst bitter bewahrheitet, als er zehn Jahre später – noch immer wegen »schwärmerischer« demokratischer Umtriebe – in die Mühlen des preußischen Polizeistaates geriet). Idealerweise sei »nicht mehr [zu] unterscheiden«, ob ein solcher Verein »frei für sich entstanden oder von der verwaltenden Macht gestiftet worden« ist (23): Gerade diese Unentscheidbarkeit werde dem Staat »eine Masse von Kenntnissen« erarbeiten können (24). Die Alternativen für den Staat, der darauf meint verzichten zu können, seien »entweder ein tumultuarischer anarchischer Zustand« oder »eine ärmliche Empirie, die sich streng und ängstlich an die Tradition anschließt« (28). Gleichwohl sei diese ganze »Masse« der Wissenschaft selbst herzlich gleichgültig, weil sie mit der Erkenntnis selbst nichts zu tun habe. Auf diese aber gehe Wissenschaft aus. Ob sich die wissenschaftliche Kommunikation (»Mitteilung«) dabei auf mehr festlegen lasse als auf die Sprache (vgl. 24f.), sei fraglich; jedenfalls müsste eine Einschränkung auf Regierungsbezirke und Staatsgebiete mehr als »lächerlich[…]« sein angesichts der Kleinteiligkeit dieser Gebiete. Es sei vollends »[nichts] wunderlicher«, als wenn ein »Staat sich mit seinen Bildungsanstalten einschließt«; die Universitäten seien nicht der Ort, um »kleinlichen Leidenschaften und Vorurtheile[n]« nachzuhängen (25). Zu diesen »Kleinlichkeiten« zählt Schleiermacher einerseits den Versuch, alles wissenschaftlich Mögliche im eigenen Land zu etablieren und dafür mit allen nur erdenklichen Lockstoffen um Gelehrte zu konkurrieren; das sei »überhaupt lächerlich oder krankhaft« (26). Andererseits fällt auch der Versuch darunter, die Grenzen der Staaten für den wissenschaftlichen Verkehr dicht zu machen; diese »Sperre« (26) werde gerne errichtet von einem »mäßige[n] Staat, der von größeren umgeben ist«, aber diese »angestrengte«, »niedrige Oeconomie« vergrößere dessen »Beschränktheit« nur (27). Nur der freie Wissenschaftler und nur der freie Verein der Wissenschaft lassen sich politisch integrieren; gelänge das, so sei schließlich auch die Universität aufs Schönste »in den Staat verflochten« (29).

Nach deren »vorzüglichste[m] Geschäfte« (30) fragt das zweite Kapitel, das sich in einem klassischen Dreischritt – Schleiermacher ist noch immer Redner – der Unterscheidung Von Schulen, Universitäten und Akademien widmet. Hier finden sich Schleiermachers eigene Erfahrungen mit der Schule (von seinen Oszillationen zwischen Angst und Rache, Phantasie und Kälte haben wir gehört) am deutlichsten wieder, eingeschlossen sein absoluter Unwille, sich dem Regime von Splitterwissen und Lernbürokratie zu unterwerfen, und eingeschlossen auch sein zeitlebens qualvolles Bemühen, diesem allerorten wiederauferstehenden Regime so lange taktvoll zu begegnen, wie es in Gestalt von personalem Gegenüber auftritt. Eine einfache Stufenlehre (»die Schule als das Zusammensein der Meister mit den Lehrburschen, die Universität mit den Gesellen, und die Akademie als Versammlung der Meister unter sich«) lehnt er deshalb ab; sie würde das Problem nicht lösen können, sondern wäre auch als Forcierung der Zersplitterung beziehungsweise »verderblicher Einseitigkeit« (32) denkbar, und die Universität wäre dann nicht frei, sondern bloß ein Durchgang vom Anfang der Spezialisierung zu deren Vollendung (die Schleiermacher ganz unverhohlen als »lächerlich« darstellt, als »wunderlichen Aus[wuchs]«) (31). Die Universität wäre im Grunde »ganz überflüssig« (34). Vielmehr soll die Schule Elementarwissen von Anfang an mit Zusammenhangswissen verbinden und letzteres in ihren höheren, gymnasialen Varianten auch präferieren; vermutlich käme es überhaupt nur darauf an, in den Schulen »Grammatik und Mathematik« zu lehren, weil dies »ich möchte sagen die einzigen [sind], die mit einem Anklang von Wissenschaftlichkeit können vorgetragen werden« (32). Auf der anderen Seite sei es Angelegenheit der Akademien, die »Meister der Wissenschaft« zu versammeln; doch werde niemand durch Spezialisierung zu einem solchen Meister, sondern gerade im Gegenteil dadurch, dass er die »Ergänzung« durch die Arbeiten anderer sucht (ebd.). Schleiermacher wählt hier Formulierungen – »sich Eins fühlen durch den lebendigen Sinn und Eifer für die Sache des Erkennens überhaupt« (ebd.) –, die an seine Religionsschrift erinnern. Die Universität aber müsse anerkennen, dass diese Fähigkeit, die Einheit der Wissenschaft »zu fühlen« – die »Erkenntniß« –, nicht »im Schlaf«, »aus dem Nichts« (35) über einen Schüler kommen könne. Er müsse zuvor Student sein, und Student sein heiße: wach sein; die Universität also müsse ihn »erwekken« (↑ Konzerte, Brandenburgische), ihn befähigen, die Fähigkeit zum Gefühl der Erkenntnis »allmählig in sich heraus[zu]arbeiten« (ebd.). Ganz genau »dies ist das Geschäft der Universität« (ebd.; Nowak nennt dies »hinreißend, aber zweischneidig«).49 Von »kleinteiliger Oeconomie« ist bei Schleiermacher, das ist »hinreißend«, keine Rede; nicht um wissenschaftliche Kleinstaaterei der Disziplinen, sondern um »gleichsam den Grundriß alles Wissens« geht es (ebd.). Es ist auffällig, dass Schleiermacher dafür buchstäblich alle Zeit der Welt einräumen will, gerade weil es für diese »Erweckung zur Erkenntnis« nicht Jahre braucht; man muss nur offen lassen können, wann es soweit ist. Nur »ein Moment« ist es, »nur ein Act« muss »vollbracht« werden, »daß nemlich die Idee des Erkennens, das höchste Bewusstsein der Vernunft, […] in dem Menschen aufwacht« (35f.). Auf diesen Moment warten zu können, das zeichnet die Universität aus, »hierauf weisen alle Eigenthümlichkeiten hin, welche die Universität von der Schule auf der einen, von der Akademie auf der anderen Seite unterscheiden« (36). Und eben dies ist auch der Grund für die »Zweischneidigkeit« der These; denn es »richtet[…] ein Ideal auf, das dem universitären Alltag nicht ausreichend Rechnung trug«.50 So richtig das ist: Es war nicht Schleiermachers Ziel, dem Alltag Rechnung zu tragen; im Gegenteil. Der Staat mag die jungen Studenten aus den Universitäten heraus ins Amt und in den Beruf locken, er mag »Vorsprung genug ha[ben] durch die vielen Vortheile die er allein bieten kann« (42), und die Hingabe an dieses Locken mag »die Hauptsache« der Universität »unter einer Menge von Nebendingen ersti[cken]« (ebd.). Aber allen werden Intelligenzen fehlen, »die Großes auffassen und durchführen, und mit scharfem Blikk die Wurzel und den Zusammenhang aller Irrthümer aufdekken können« (ebd.). Da haben wir den oben erwähnten ›freien Blick‹, der im Duell der Intelligenzen als Rüstung genügt.

Mit einer Näheren Betrachtung der Universität im Allgemeinen befasst sich das dritte – in unserem Kontext, der Frage nach der Möglichkeit der Vorlesung, entscheidende – Kapitel. Schleiermacher wendet sich zunächst gegen die Vorstellung, die Schule könne »über den Grad der wissenschaftlichen Fähigkeit […] zuverlässig und definitiv entscheiden« (43). Sie sieht Auffassungsgabe und Fleiß und sie hält beides, weil es sich so leicht benoten lässt, für »Geist und Talent« – obwohl dies allzu oft nichts als »eine taube Blüthe« ist, die ohne weiteres verduften wird, wenn die schulische Kleinteiligkeit von Aufgabe und Prüfung sie nicht mehr umgibt (44) (↑ Korrektur). Gerade deshalb sei es »furchtbar und schreklich«, der Möglichkeit aus dem Wege gehen zu wollen, dass »der größere[…] Haufen« der Universitätsstudenten »eigentlich untauglich« ist; »die treflicheren und die minderen Köpfe« könnten vielmehr ohne Weiteres »zusammen […] die entscheidenden Versuche durchgehen« (ebd.) – und die weniger »trefflichen«, muss man wohl ergänzen, könnten dann durchaus seriös für den Staatsdienst vorbereitet werden: »seriös« im Sinne eines immerhin geweckten Verständnisses für diejenigen, die im Feld der Erkenntnis weiter voranzudringen vermocht haben. »So weit ist also alles gut« (45). Unerträglich (»zerstörerisch«, vgl. ebd.) werde es nur – wir haben das bereits gesehen –, wenn sich letztere der Universität bemächtigen und diese zu einer Versammlung von »Spezialschulen« machen würden, die »den bloßen Mechanismus dem Leben vorzieh[en]« (ebd.) (↑ Korporatisierung). Als Mittel gegen diese »klägliche[…] Beschränktheit« (46) empfiehlt nun Schleiermacher nichts anderes, als dass die Universität nicht schlicht wissenschaftlicher »Verein«, sondern tatsächlich – also: handelnd – auch wissenschaftliche Geselligkeit, hörbare, wahrnehmbare »Mitteilung«, sein müsse. Er empfiehlt »die wissenschaftliche Darstellung«, den »Kathedervortrag[…]«, der »zum Wesen der Universität« schlechthin gehört (47). Denn »wie nun die ganze Universität ein solches wissenschaftliches Zusammenleben ist: so sind die Vorlesungen insbesondere das Heiligthum desselben« (48). Ganz sicher ist auch diese Emphase »hinreißend, aber zweischneidig«; denn auch Schleiermacher wird gewusst haben, wie selten auch seine eigene Begabung in diesem Gebiet war und ist. Dieses Wissen ist für ihn nur kein Grund, die Vorlesung aufzugeben, (auch hier:) im Gegenteil. Der Vorlesende sei ein »Mitunterredner« (ebd.), der das Recht zum Vortrag gleichwohl reklamieren müsse. Wir haben das oben bereits betont. Die Hörenden redeten im Modus des Hörens mit, einer »Tätigkeit der Vernunft«, in der sich das »Hervorbringen der Erkenntnis« beispielhaft erlernen lasse – solange die Vorlesenden sich bei eben diesem »Hervorbringen« auch beobachten lassen würden. Darin – »Nase hoch!« – bestünde ihre besondere Kunst; auch sie müssten auf bloßes Abhaspeln spezialisierter Kenntnisse verzichten.

»Zwei Elemente« eines gelungenen Kathedervortrags nennt Schleiermacher: erstens »die Kunst […] auf den lezten Grund alles Nichtigen im Nichtwissen« hinzuweisen, »je strenger dialektisch, desto populärer« (ebd.; man bemerkt, dass er über die Forderung, er möge »populärer« werden, nachgedacht hat); und neben dieser »nichtenden«, negativen Kunst dann zweitens die positive, »productive« Kunst, »sein eignes Erkennen, die That selbst« anschaulich werden zu lassen (ebd.). Er soll diesen Weg nicht nur einfach »in preiswürdiger Dünne und Dürre« »beschreib[en]«; er soll ihn »auch wirklich machen«, das heißt: er soll ihn »in Schriften […] niedergelegt« haben und über das Schreiben dieser Schriften sprechen können (49; in Berichten über seine Arbeitsbelastung als Professor hat Schleiermacher selbst die Nacharbeit von Vorlesungen, in denen ihm beim Sprechen Ideen gekommen seien, als vielleicht wichtigste und zugleich reizvollste Tätigkeit genannt; diesen Hinweis gibt auch Humboldt).51 Das bloße Vorlegen und Vorlesen gedruckter Schriften dagegen sei lachhaft, »nichts jämmerlicheres« als das (50). Dass er dann im Sprechen dabei »ertapp[t]« werde, »etwa Einzelnes […] nicht zu wissen«, sei kein Handicap, sondern gerade Sinn der Sache (49). Ansonsten gehe es, bei allem in der Universität, um freie gegenseitige Mitteilung und also um Begegnung ohne »steife Zurückgezogenheit« (50). »Man sage nicht, dass dies der Zahl wegen unmöglich sei« (ebd.). (Die preußische Polizei wird wenig später Studenten vorschicken, um Schleiermacher selbst auf Wanderungen und Abendgesellschaften zu observieren; jahrelang hat man sogar seine Trinksprüche notiert und ihm auf Verhören vorgehalten.)

Eine eigentümliche, dem symphilosophisch-romantisch-paradoxen Ideal entgegenkommende Wendung nimmt Schleiermachers Auffächerung der klassischen Ordnung der Universität im vierten Kapitel Von den Facultäten. Denn er nennt hier die klassischen berufs- beziehungsweise professionsbildenden Fakultäten – Theologie, Jus, Medizin – die »positiven« Fakultäten (53), schreibt aber zugleich der philosophischen Fakultät nicht nur einfach die Ablösung der theologischen Fakultät in ihrer Führungsrolle in der Universität zu, sondern sieht in ihr auch die Einheit der Wissenschaft selbst ohne disziplinäre Festlegung gewährleistet. Sie ist insoweit die »negative« Fakultät (er nennt es: »die lezte« »und doch die Erste« [56]) – beziehungsweise, hieße das: Die Einheit der Wissenschaften beziehungsweise die Universität selbst fände in der Philosophie als der Nicht-Theologie, der Nicht-Juristerei und der Nicht-Medizin zu sich selbst (ohne das sagbar wäre, was sie folglich »sein« oder was man an ihr studieren könne). Sie ist nicht-staatsbildend (vgl. 53), nicht-kirchenbildend (vgl. 54) und, im Sinne des medizinisch anwendbaren Wissens, auch nicht-praktisch (vgl. ebd.): eine Fakultät ohne »Rang« (56), aber mit eben deshalb »größte[r] Freiheit« (58). In ihr kommt die Universität zu sich selbst. Wegen ihrer Nichtigkeit sollten alle Wissenschaftler, gleich welcher Fakultät, in ihr »eingewurzelt« sein (57); einen besseren Schutz gegen die Übergriffe des Staates und seines Nützlichkeits- und Rangdenkens könne es schlechthin nicht geben (Schleiermacher denkt sogar, worin sich wiederum seine Präferenz für die Implikation der Vorlesung in allen akademischen Vollzügen zeigt, über die »Verpflichtung« nach, »von Zeit zu Zeit Vorträge« hier zu halten, »die in gar keiner unmittelbaren Beziehung auf seine Facultät ständen« [ebd.]). Dagegen sei es völlig widersinnig, die »Nominalprofessuren zu stark hervortreten« zu lassen (zum Beispiel jemanden zu zwingen, »daß er in einem bestimmten Zeitraume dasselbe wieder vortrage«), also auf der Festlegung auf das Fach herumzureiten, für das jemand berufen worden sei (59). Der Umgang miteinander in der Universität sei – auch dies ist symphilosophisch, romantisch, negativ – »so lose als möglich« (ebd.).

Diesen Gedanken arbeitet Schleiermacher nach einigen, das vierte Kapitel beschließenden Überlegungen zur Rekrutierung geeigneten – also: dem Staat und den Spezialköpfen vermutlich insgesamt eher missliebigen – Personals und zur Universitätsleitung (sei diese nicht ohne Weiteres stets ablösbar, sei dies ein Zeichen von »Schwächlichkeit« oder »Beschränktheit« [68]) im fünften Kapitel Von den Sitten und der Aufsicht aus. Es geht um die »Freiheit der Studenten« und die »bis zum Uebermuth muthige Jugend« (69) (↑ Lebensführung, studentische). Es geht um die Freiheit von den Zwängen der Schule einerseits (vgl. 69ff.) und den Zwängen des Berufs andererseits (vgl. 72ff.), also um die Freiheit vom Vorher und die Freiheit vom Nachher der Universität. Das heißt: »Niemand befiehlt ihnen [den Studenten, ML] diese oder jene Lehrstunden zu besuchen; niemand kann ihnen Vorwürfe machen, wenn sie es nachlässig thun oder unterlassen. Ueber all ihre Beschäftigungen giebt es keine Aufsicht […] Sie wissen, was von ihnen gefordert wird, wenn sie die Universität verlassen, und was für Prüfungen ihnen dann bevorstehen; aber mit welchem Eifer sie nun diesem Ziel entgegenarbeiten wollen […], das bleibt ganz ihnen selbst anheimgestellt« (69). Die Universität verlangt sich also äußerstes Vertrauen in ihre Studenten ab, weil dies zugleich äußerstes Vertrauen der Universität in sich selbst, das heißt in die soziale Kontextualisierung ihrer selbst ist – sie lässt ihnen wie sich selbst »Raum« (70; vgl. 71: »Würde«). Denn auch wenn man mutmaßen könnte, dass dabei kaum oder gar nichts gelernt werde: »das Lernen an und für sich, wie es auch sei, [ist] nicht der Zwekk der Universität, sondern das Erkennen […] Dieses aber gelingt nun einmal nicht im Zwang; sondern […] nur […] in der Temperatur einer völligen Freiheit des Geistes«, »durchaus auf keine mechanische Weise« (70) (↑ Klausur). Dass auch dies so »hinreißend wie zweischneidig« ist, reflektiert Schleiermacher durchaus (vgl. 71).52 Aber das Vertrauen in die Möglichkeit des »losen Umgangs« sei, als Inbegriff der Freiheit des Einzelnen wie der Institution, durch nichts aufzuwiegen, schon gar nicht durch diesen kleinlichen Zweifel. Auf der anderen Seite, und dies greife in die Freiheit vom Beruf aus, müssten den Studenten keinerlei Privilegien zur Rohheit (vgl. 68 und 73) oder zum »Cynismus« gegenüber der umgebenden Stadtbevölkerung (oft genug eingeschlossen ihren Eltern) zugestanden werden; auch hier gelte nur der Grundsatz des Lockerlassens dessen, »was sonst in der Gesellschaft Convenienz ist« (73). »Wenn sie sich nicht eine Zeitlang in einer Lage befänden, wo sie ganz ihrem sittlichen Gefühl überlassen sind, wo nichts bloß Aeußeres […] ihre Neigungen zurükhält, wo sie jede Weise und Ordnung des Lebens versuchen« können: Nur da könnten sie lernen, »wie mächtig jede Lust und Liebe in ihnen zu werden vermag« (ebd.). »Dadurch allein«, ergänzt Schleiermacher (und ist hier ganz der Autor der Vertrauten Briefe), »werden sie fähig in der Folge ihre Stellung und ihre Lebensweise richtig zu wählen« (ebd.). Wer, wenn nicht die, die auf der Universität die Freiheit der Erkenntnis erfahren hätten, könnten später in der Lage sein, die Freiheit der Sitten – und nicht einen Gang »von Gehorsam in Gehorsam« (75) – auch öffentlich zu gewährleisten?

Die im abschließenden sechsten Kapitel diskutierte Ertheilung der gelehrten Würden nennt Schleiermacher »die am meisten veraltete Parthie unserer Universitäten«, ein »leeres Spiegelgefecht«, dessen »Credit« längst »tief unter den Punkt der Satire herabgesunken« sei, so tief, dass selbst der Staat den Doktortitel nicht mehr als ausreichende Qualifikation für auch nur das lächerlichste Amt ansehe (79). »Es fehlt nur noch«, spottet er, »daß man es als Maaßstab der größten Schnelligkeit angäbe, wie ein Student sich in einen Doctor der Philosophie verwandelt« (ebd.) (↑ Exzellenz(en), velociferische). Im Grunde weiß Schleiermacher hier keinen Rat als den, dass »man sich an das bisher Gesagte hält« (80). Täte man das aber, das ist auch ihm klar, müsste es Gegenstand der Disputation sein, die »Nichtigkeit« oder genauer: die Fähigkeit des Kandidaten zu qualifizierter Negation nachzuweisen, denn diese und nur diese kann ja letztlich als Ausweis der erlangten Erkenntnis gelten. Aber prüfbar im engeren Sinne ist das nicht. Die einzige Möglichkeit, die Schleiermacher sieht, ist die Forderung, der Doktoratskandidat möge – und dies wiederum am besten in einer öffentlichen Vorlesung und nicht in einer geschlossenen Disputation (vgl. 82) – »etwas merkwürdiges« anzubieten haben; denn wer »nicht gleich bei seinem Eintritt in diese Würde eine Spur von seinem Dasein zeichnet welche allgemeine Aufmerksamkeit erregt«, der werde dazu auch später nicht kommen und sei »eigentlich seines Namens unwürdig« (81).53

*

Wir schließen nach all dem die Möglichkeit nicht aus, dass die Vorlesung eine Restform der alten europäischen Universität ist, deren quasi-sakrales Vorleser/Zuhörer-Arrangement es der modernen Universität erlaubt, Mengen und Massen an Publikum (die die alte Universität nicht zu bewältigen hatte) einem so exponierten wie verlorenen professoralen Sprecher zuzuordnen. Wir nehmen allerdings ernst, dass diese Möglichkeit die Interaktion unter Anwesenden im Kontext der funktional differenzierten Gesellschaft überfordert, sobald sie auf deren entscheidenden Dritten – die Organisation formaler Mitgliedschaft und die programmatische Ordnung von Kontingenz – verzichtet. Mitgliedschaft impliziert Anwesenheit und Abwesenheit, und programmatische Ordnung von Kontingenz impliziert Ordnung und Unordnung, also nicht nur die Änderbarkeit (die Vorläufigkeit) jedes Ordnungsversuchs, sondern auch die Selbstreferenz (den Eigensinn) des Geordneten. Das ist in allen universitätspolitischen Diskussionen der letzten Jahrhunderte klar gesehen und immer berücksichtigt worden, und es war dabei stets deutlich, dass Abwesenheit im Falle einer Mitgliedschaft qua Komplementärrolle (hier eben: als immatrikulierter Student bzw. als ordinierter Professor) auch Nichtidentifizierbarkeit (Anonymität seitens der Studenten, Unverständlichkeit seitens der Professoren) bedeuten konnte und dass programmatische Ordnung im Falle der Organisation komplexen Wissens nicht doktrinäre Feststellung, sondern Infragestellung (Problematisierung) bedeuten musste. Dem Unbekannten und Unverständlichen war deshalb im universitären Kontext stets eher zu trauen als dem Bekannten und Berechneten.

In den letzten Jahren ist allerdings (zuerst unter den Namen Hochschulpädagogik und Gruppenuniversität, dann unter dem Namen Bologna) übersehen worden, dass dieser Dritte lahmgelegt wird, wenn er erstens mit der Interaktion, die er kontextualisieren und formalisieren soll, verwechselt und die Implikation von An- und Abwesenheit aufgegeben wird und wenn zweitens die Ordnung jeden Zufall ausschließen will und deshalb der Änderbarkeit ihrer Programme vertraut und dem Eigensinn der Verhältnisse misstraut. Das gilt, wenn der Professor (oder, einmal sei es gesagt, die Professorin) den Muff unter seinem Talar gegen den pädagogischen Eros zu tauschen versucht; er tauscht dadurch generalisierte Inklusionsmöglichkeiten54 gegen individualisierte Zuwendungserwartungen (↑ Austauschbarkeit). Und es gilt auch, wenn die Universität sich als Lehrfabrik inszeniert (↑ Employability), die Lernen als Verarbeitungsanstrengung im Sinne der Verdauung von inputs (workload) versteht, die Verdaulichkeit der inputs dabei optimiert (also die Lehre unter Verdacht stellt), den Erfolg (output) daher fortgesetzt prüft (also das Lernen unter Verdacht stellt) und dadurch schließlich alle Beteiligten in Stress versetzt – so dass diese sich im Effekt allenthalben eher bedauern als fordern (↑ Leistungspunkte/ECTS). Im ersten Fall mag der Professor zwar versuchen, die Verlustrisiken seines Tauschs durch Ausdehnung der Kontaktzeiten und durch Personalisierung von Leistungserwartungen aufzufangen, wird aber von dem Moment an, da die dadurch forcierte Überforderung unerträglich wird, entweder vollkommen resignieren oder bürokratische Sanktionen fordern, also Abwesenheit pro forma und intellektuelle Leistungsfähigkeit de facto ausschließen und allen Beteiligten (auch, was vielleicht besonders fatal ist, sich selbst) die Satisfaktionsfähigkeit absprechen. Das oben angesprochene Duell findet dann nicht mehr statt. Im zweiten Fall mag die Universität ihre Überladung mit Kontrollanforderungen durch Selektionsprozesse camouflieren, die jene auszufiltern versuchen, deren Verarbeitungskapazität auch unverdaulicheren inputs oder zumindest auch exaltierenden Prüfverfahren und generalisiertem Verdacht standzuhalten verspricht. Mit Kommunikation unter Anwesenden rechnet diese Universität im Grunde gar nicht mehr, das heißt: auch nicht mit jenem sowohl offensiven als auch subversiven Kreuzen von Argumentationen, das die Interaktion der Universität von anderen Geselligkeiten unterscheiden würde (↑ Überschneidungsfreiheit).

Man muss vermutlich zur Kenntnis nehmen, dass die Universität sich in beiden Varianten – Intoleranz gegenüber Absenz und gegenüber Kontingenz – völlig auf sich selbst verlässt und gerade deshalb ihrer Umwelt völlig ausliefert; sie legt sich auf die Anstalts- und Ordnungsform ihrer selbst fest und diskreditiert die Gesprächs- und Unordnungsform ihrer selbst; kurz: Sie überfordert sich, und sie überfordert sich ohne Not. Beide Varianten diskreditieren die Universität als Organisationsform, weil beide die formale Mitgliedschaft in dieser Organisation und die programmatische Ordnung gesellschaftlicher Kontingenz durch diese Organisation ihrer produktiven Differenzen berauben.55 Als entscheidender Dritter der Differenz von Interaktion und Gesellschaft ist die Organisation damit im Kontext der Universität erledigt. Beide Varianten diskreditieren daher auch die Vorlesung als Interaktionsform, die unversehens nichts bezeichnet als eine Zwangsansammlung des Universitätsvolks im Medium eines lustlosen und misstrauischen Eros, der an seinem pädagogisch-bürokratischen Wissensdrang laboriert.

Wir haben folglich ernst zu nehmen, dass das Problem beziehungsweise die Bestie, die uns hier interessiert, durch die Verknüpfung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft kontextualisiert ist; deshalb haben wir Schleiermachers Gelegentliche Gedanken über Universitäten als Exposé dieses Problems vorgestellt. Die Vorlesung ist hier der Ort, an dem die genannte Verknüpfung residiert. Wir haben zwar nichts als eine Lektüre geboten; aber unsere These hinter dieser Lektüre ist, dass die Vorlesung als universitäre Kommunikationsform ein funktionales Äquivalent zur formalen Organisation darstellt – deren präzises Anderes. An das gedruckte Buch als primäres Verbreitungsmedium der formal organisierten, funktional differenzierten Gesellschaft ist sie folglich gebunden. Obwohl sie geselliges Sprechen und Hören inszeniert (Vorlesen), impliziert sie stilles, einsames Lesen (↑ Lektürekurs). Obwohl sie eine Interaktion unter Anwesenden ist, impliziert sie Absenzchancen, weil sie auf nichts vertraut als auf Kommunikation im Medium eines komplementären Rollenarrangements und diese Kommunikation durch reflexive Wahrnehmung, aber nicht durch Bürokratisierung kontrolliert. Das Arrangement komplementärer Rollen selbst genügt ihr für die Reproduktion der Mitgliedschaftsunterstellung. Und obwohl sie die Komplexität des gesellschaftlich Möglichen programmatisch ordnet, impliziert sie Unordnungschancen, weil sie damit rechnet, dass diese Ordnung entweder unverständlich eher wird als bleibt (als Komplexität) oder dass sie als Änderungschance verstanden wird (als Kontingenz). Dieser Implikation vor allem dient die Bindung an das gedruckte Buch. Verzichtet die Vorlesung auf das komplementäre Rollenarrangement oder diskreditiert sie die Nichtidentifizierbarkeit (die Absenzchance) der Hörer, macht sie sich unmöglich. Verzichtet sie auf den programmatischen Ordnungsversuch oder diskreditiert sie den Sinn des Lesens, die Unverständlichkeit des Gegenstandes und die Unruhe der Beteiligten, macht sich die Vorlesung ebenfalls unmöglich.

1 Vgl. zur Verknüpfung von »bestialischem Interesse« und Alphabetisierung (Lernen als soziale Norm) Thomas Macho: »Zoologiken. Tierpark, Zirkus und Freakshow«, in: Hartmut Fischer (Hg.): TheaterPeripherien, Tübingen 2001, S. 13–33.

2 Francisco J. Varela: »Erkenntnis und Leben«, in: Fritz B. Simon (Hg.): Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, Frankfurt/Main 1997, S. 52–68, hier S. 66.

3 Der Klassiker dieses Problems ist natürlich Fausts Begegnung mit dem »pudelnärrisch Tier«, das im Studierzimmer zum »Schatten« wird, sich in die vier Elemente wandelt, um schließlich Alter Ego bzw. »Geselle« zu werden. Siehe Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, in: Goethes Werke, hg. v. Eric Trunz, Bd. 3, München 199616, S. 42, 44 und 46.

4 Vgl. für das Recht auf »bedingungsloses Fechten« beiläufig Rudolf Stichweh: Universität nach Bologna. Zur sozialen Form der Massenuniversität, 2008, http://www.unilu.ch/files/Universitaet-nach-Bologna—Zur-sozialen-Form-der-Massenuniversitaet.pdf, (aufgerufen: 18. 6. 2012); dazu Maren Lehmann: »Pendeln. Oder: Variable Absenz als Form der Universität«, in: Soziale Systeme 16, 1/2010, S. 430–437 (expl. Fn. 2).

5 Es geht also um »Zeitkunst« und »Formkunst«. Vgl. zu ersterem Peter Fuchs: »Vom Zeitzauber der Musik. Eine Diskussionsanregung«, in: Dirk Baecker u.a. (Hg.): Theorie als Passion, Frankfurt am Main 1987, S. 214–237, und zu letzterem Dirk Baecker: »Wieviel Zeit verträgt das Sein? Eine Anmerkung zum Free Jazz«, in: Bernhard Dotzler und Helmar Schramm (Hg.): Cachaça: Fragmente zur Geschichte von Poesie und Imagination, Berlin 1996, S. 144–148.

6 Es geht um eine »Erlebenssphäre«, nicht um einen Handlungsspielraum, und es geht darum, dieses ›nicht‹ implizit mitzuführen, damit der Erlebende sich in der »Situation«, die auf diese Weise entsteht, als »Ich« halten kann; so Martin Heidegger: »Das Wesen der Universität und des akademischen Studiums« (in der Nachschrift von Oskar Becker aus dem Freiburger Sommersemester 1919), in: ders.: Zur Bestimmung der Philosophie (Gesamtausgabe, II. Abt., Bd. 56/57), 2. Aufl., Frankfurt am Main 1999, S. 205–214, hier S. 205 und S. 206 (vgl. S. 208).

7 Vgl. Wilhelm von Humboldt: »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin«, in: Unbedingte Universitäten (Hg.): Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee, Zürich 2010, S. 95–103, hier S. 100.

8 Friedrich Nietzsche: »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge«, in: Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. I (KSA I), München, Berlin, New York 1999, S. 641–752, hier S. 648.

9 Ebd., S. 649.

10 In Online-Vorlesungen (»presentations«) erweist sich dieses Ablenkungspotential des Sehens als Ablenkungsanfälligkeit, also als Handicap; vgl. Sibylle Peters: »Motivational Lectures. Vorträge im Internet«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1, 1/2009, S. 15–27.

11 Dass das ein Kerker (Karzer) und damit ein Bestiarium ist, zeigt eine Abbildung bei Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main 1994 (ohne Pag.).

12 Vgl. nur Jacques Derrida: Die unbedingte Universität, Frankfurt/Main 2001, S. 10.

13 Humboldt: Organisation der wissenschaftlichen Anstalten, a.a.O., S. 100.

14 Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, a.a.O., S. 648 und S. 650 (»Kampfplatz«).

15 Vgl. ihre Mitteilungen im Film Die Frau mit den 5 Elefanten von Vadim Jendreyko, 2010.

16 Vgl. Derrida: Die unbedingte Universität, a.a.O., passim, insbes. S. 9ff.

17 Es heißt aber nicht: Präsenzpflicht, weil Präsenz die Systemreferenz der Interaktion unter anwesenden und einander als anwesend wahrnehmenden Beobachtern aufruft, Pflicht dagegen die Systemreferenz der formalen, normative Mitgliedschaftsregeln durchsetzenden Organisation.

18 Aber auch, wenn man so will: ein Konzert, mithin auch hier: Musik (als die wilde Seite strenger Poesie). Vgl. mit der Bemerkung, die Vorlesungen seien der »basso continuo« des universitären Studiums, Wolfgang Eßbach: »Jenseits der Fassade: Die deutsche Bachelor-/Master-Reform«, in: Jürgen Kaube (Hg.): Die Illusion der Exzellenz. Lebenslügen der Wissenschaftspolitik, Berlin 2009, S. 14–25, hier S. 15. – Die Form der Nachbarschaft im Medium der Beobachtung beschreibt bekanntlich Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt/Main 1987, der auch den Begriff des Jokers forciert hat.

19 Friedrich Schleiermacher: »Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende«, in: Universitätsschriften; Herakleitos; Kurze Darstellung des theologischen Studiums. Kritische Gesamtausgabe Abt 1, Bd. 6, hg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998, S. 15–100 (Zitate aus dieser Schrift werden im Folgenden in Klammern im laufenden Text bezeichnet).

20 Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, S. 19.

21 Zit. Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 20.

22 Ebd. Als der Neunzehnjährige seinen Erziehern im Seminar in Barby gesteht: »Ich kann nicht glauben«, lassen diese ihn »Spießruten laufen« (Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 31). Das hat die preußische Kultusbürokratie mit dem Hochschullehrer und Ministerialbeamten Schleiermacher später vielfach wiederholt.

23 Selbstbiografie, zit. Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 23.

24 Nowak, Schleiermacher, a.a.O., S. 41.

25 Brief vom 27. Mai 1789, zit. nach Nowak, Schleiermacher, a.a.O., S. 42.

26 Nowak, Schleiermacher, a.a.O., S. 52.

27 Friedrich Schleiermacher: »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«, in: Schriften. Frankfurt/Main 1996, S. 65–91, hier S. 70 und S. 72.

28 Vgl. Dirk Schmid: »Einleitung/Historische Einführung«, in: Friedrich Schleiermacher, Universitätsschriften; Herakleitos; Kurze Darstellung des theologischen Studiums, a.a.O., S. IX–LXXX.

29 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 76.

30 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 83.

31 Friedrich Schlegel: »Über die Unverständlichkeit« [1800], in: Charakteristiken und Kritiken I [1796–1801], Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler u.a. 2. Bd., hg. von Hans Eichner, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 363–372.

32 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 87.

33 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, hg. v. Werner Hirschberg, Weimar 1920.

34 Zit. Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 88.

35 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 92.

36 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799], hg. v Günther Meckenstock, Berlin, New York 2001.

37 Schleiermacher: Über die Religion, a.a.O., S. 213 und S. 212.

38 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 124 und S. 138.

39 Zit. nach Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 129.

40 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 136 und S. 137.

41 Zit. nach Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 142.

42 Ebd., S. 144.

43 Ebd., S. 174.

44 Ebd., S. 176.

45 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 177 und S. 179.

46 Ziffern ohne Fußnotenverweis im Folgenden immer nach Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken, a.a.O.

47 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 182.

48 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 183.

49 Vgl. Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 185.

50 Nowak: Schleiermacher, a.a.O., S. 185.

51 Humboldt: Organisation der wissenschaftlichen Anstalten, a.a.O., S. 100 u.ö.

52 Sogar das Recht zum Duell gesteht er zu (vgl. 78), empfiehlt aber, es in den Sport umzulenken (vgl. 79).

53 Dass diese Hoffnung als durchaus normative Erwartung auch an die Universität selbst zu richten sei, wird im nachgestellten Anhang über eine neu zu errichtende Universität angesprochen.

54 Gesellschaftliche Inklusionsansprüche und organisationale Mitgliedschaftspflichten werden funktional (bzw. komplementär: Student/Professor bzw. Publikumsrolle/Leistungsrolle) geordnet und interaktiv – also unter Anwesenden – inszeniert. Vgl. im Anschluss an Talcott Parsons (und Erving Goffman) sehr klar, Rudolf Stichweh: »Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft«, in: Renate Mayntz u.a.: Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/Main 1988, S. 261–293.

55 Dass das universitäre Volk sich auf diese Formalisierung von Pflichten durch subversives Erobern von Rechten einstellt, hat seine vielleicht eindrücklichste Parallele in der säkularisierten Volkskirche als »Kirche des Volkes, das« (so Eberhard Jüngel) »nicht zur Kirche geht«, sich ihr aber zuordnet und die Gegebenheit des kirchlichen Arrangements im Sinne der latent pattern maintenance (Parsons) erwartet. Vgl. Eberhard Jüngel: »Die Bedeutung der Predigt angesichts unserer volkskirchlichen Existenz«, in: ders., Anfechtung und Gewißheit des Glaubens. Oder: Wie die Kirche wieder zu ihrer Sache kommt. Kaiser Traktate 23, München 1976, S. 47–71, hier S. 49. Für die »Zerstörung« ihrer selbst sei eine solche Struktur (hier: eine Kirche), so Jüngel weiter, »äußerst empfänglich« (S. 55) – will sagen: Sie würde es zu spät bemerken, wenn sich latent patterns verschoben haben, und würde mit demselben Muster darauf reagieren, also noch seltener hingehen bzw. sich im Nichthingehen bestätigt sehen.

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Maren Lehmann

ist Soziologin und externe Habilitandin an der Universität Witten/Herdecke.

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»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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