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Vera Kaulbarsch: Überschneidungsfreiheit
Überschneidungsfreiheit
(S. 299 – 302)

Zur gleichen Zeit am gleichen Ort

Vera Kaulbarsch

Überschneidungsfreiheit

PDF, 4 Seiten

Das Problem der Überschneidungsfreiheit ist in dem Sinne vielleicht paradigmatisch für den ↑ Bologna-Prozess, als dass diese eine Schwierigkeit darstellt, die vor der Implementierung der Reformen schlichtweg nicht existiert hat. Die Forderung nach einem »überschneidungsfreien Studieren« unterscheidet sich also von anderen Forderungen von Bologna-Befürwortern, da es hier nicht um eine angestrebte Verbesserung der alten Verhältnisse geht, sondern um einen Problemkomplex, der sich im Kontext der alten Magisterstudiengänge gar nicht hätte stellen können.

Das Wort Überschneidungsfreiheit bezieht sich auf eine Kombination von Haupt- und Nebenfach in einem Bachelor- oder Masterstudiengang, in welcher möglichst gesichert sein soll, dass sich Veranstaltungen nicht überschneiden. Der Begriff ist eine direkte Folge aus der Modularisierung dieser Studiengänge, die mit sich bringt, dass bestimmte ↑ Module zu bestimmten Zeitpunkten belegt werden müssen. Man sieht bereits, dass die Vorstellung, dass sich Veranstaltungen überschneiden könnten, in einem Magisterstudium absurd erscheinen muss. Es ist recht eindeutig, warum: Es geht hier um eine Vertauschung von Form und Inhalt (↑ Koordinator/in, gescheitert). In einem System, in dem der Inhalt eines Studiengangs (der Stoff, das »worum es geht« – wie auch immer man diese phantastische Substanz beschreiben möchte, von der das Modularisierungssystem vorgibt zu wissen, woraus sie besteht) nur unter minimalen formalen Rahmenbedingungen – wie die Unterscheidung zwischen Proseminar und Hauptseminar – betrachtet wurde, ergeben sich Überschneidungen nur aus der individuellen Perspektive eines bestimmten Interesses. In einem Studium, dessen Inhalte in bestimmte vorgegebene Kategorien eingepasst werden müssen, treten jedoch diese formalen Kriterien in den Vordergrund und ersetzen die individuellen Themenschwerpunkte durch kollektive formale Kriterien, wie Modulbezeichnungen und Uhrzeiten.

Es ist vielleicht übertrieben, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen. Aber es hat dennoch eine relativ eindeutige Verschiebung stattgefunden, auch wenn es natürlich unterschiedliche Ansichten dazu gibt, wie tragisch man diese Verschiebung finden soll. Oliver Jahraus beschreibt das Problem beispielsweise wie folgt:

»War es im Magisterstudium nicht möglich, eine bestimmte Veranstaltung zu besuchen, war dies für das Studium kein Problem, weil die einzelne Veranstaltung als solche für den Studienplan irrelevant war. Die Studierenden hätten eine solche Veranstaltung ein Semester später besuchen können. Von Bedeutung für das Studium waren nur der Studienabschluss, und von diesem aus zurückgerechnet all jene Scheine, die als Voraussetzung für die Anmeldung zur Prüfung galten. Und das war überschaubar.«1

Dies ist, wie ich meine, eine recht eigene Interpretation der Logik des Magisterstudiengangs. Denn statt zu behaupten, die einzelne Veranstaltung sei für das Magisterstudium irrelevant gewesen, ließe sich doch auch umgekehrt sagen, sie war ganz im Gegenteil unersetzbar für den jeweiligen Studenten. Gerade weil die Anzahl der benötigten Scheine so »überschaubar« war, konnte jeder Student meistens frei nach Interesse, also nach inhaltlichen Kriterien, den Stundenplan zusammenstellen. Dabei waren die Veranstaltungen inhaltlich gesehen absolut nicht austauschbar, sondern wurden vielleicht nur ein einziges Mal angeboten. Sicherlich ließe sich eine »solche Veranstaltung ein Semester später besuchen«, wenn man unter »solche Veranstaltung« eine so allgemeine Bestimmung wie »↑ Vorlesung« oder »Hauptseminar« meint. Aber genau unter diesem formalen Gesichtspunkt mussten die Veranstaltungen ja gerade nicht ausgewählt werden; die Veranstaltungen waren also tatsächlich nur auf formaler Ebene irrelevant für das Studium. Dass in der Analyse von Jahraus die inhaltliche Ebene ausgeblendet wird, ist vielleicht symptomatisch dafür, dass von den Reformbefürwortern grundlegend verkannt wird, wie stark die individuelle Entscheidungsfreiheit in einem Modularisierungssystem beschnitten wird, oder schlimmer noch, sich diese Perspektive auf das eigene Studium gar nicht erst entwickeln kann. Dabei spielt die bereits angesprochene enorme Verkomplizierung der formalen Kriterien durch die Modularisierung eine große Rolle. Die Planung ihres Studiums besteht für die Studenten nun darin, eine Art Veranstaltungsparcours zu bewältigen, bei dem zuallererst verschiedenste formale Bedingungen erfüllt werden müssen (Art des Moduls, Anzahl der ↑ Leistungspunkte, Uhrzeit usw.), bevor in einem letzten Schritt der Inhalt der Veranstaltungen relevant wird.

Natürlich ist es übertrieben zu sagen, dass der Inhalt bei der Planung des Studiums keine Rolle mehr spielt. Die Studenten wählen immer noch Kurse, die ihnen inhaltlich zusagen und es wird ihnen auch nicht alles vorgegeben. Aber dennoch scheint es einen enormen Unterschied zu machen, ob ihnen in ihren ersten Semestern eine Orientierungsphase gegeben wird, in dem aus bloßem Interesse studiert werden kann, oder ob es eine Vielzahl an formalen Kriterien zu erfüllen gibt (darunter auch zu bestehende Prüfungen), und erst danach nach den möglichen Interessen der Studenten gefragt wird (↑ Korrektur). Es ist sicher ein gradueller Unterschied, aber ein entscheidender bei Studienanfängern. Studenten ab dem vierten oder fünften Semester, bei denen sich bereits Schwerpunkte und besondere Interessensgebiete herausgebildet haben, können die fehlende Konzentration der Studiengänge auf Inhalte besser verkraften, weil sie ja eben bereits ein gewisses inhaltliches Wissen – so wenig sich dieses vielleicht auch im Einzelnen auf Begrifflichkeiten bringen lassen mag – angesammelt haben. Studienanfänger, die frisch in ein Fach kommen, werden vor allem mit formalen Anforderungen konfrontiert, die inhaltlichen Fragen übergeordnet werden. Statt sich zunächst willkürlich an die möglichen Inhalte des Faches heranzutasten, indem aus einem Überangebot Veranstaltungen herausgegriffen werden, wird ihnen durch die Studienordnung suggeriert, es gäbe einen auf drei oder vier Wahlmöglichkeiten begrenzten Pool an Veranstaltungen. Dementsprechend kleiner ist die Anzahl der möglichen Interessensgebiete, die sich den Studenten auftun können. Dazu kommt dann noch die eingeschränkte Kombinationsvielfalt von Haupt- und Nebenfächern, und schon wird die Orientierungsphase, die ja zunächst einfach nur über die schiere Vielfalt des Faches informieren soll, darauf verengt, dass die Studenten die Wahl zwischen Seminar A, B oder C haben.

Ein sogenanntes »breites Nebenfach« wie zum Beispiel SLK (Sprache Literatur Kultur), das an einigen Universitäten als Ausgleich zu den durch die Modularisierung wegfallenden Nebenfächern gebildet wurde, verstärkt diese Problematik durch die Profillosigkeit des Faches. Auch hier wird die inhaltliche Orientierungslosigkeit der Studenten nur mit formalen Mitteln beantwortet. Das Fach ist so breit aufgestellt, dass Überschneidungsfreiheit kein Problem mehr darstellt, dafür ist es so wenig definiert, dass es nur mehr die »Fiktion« eines Faches darstellt.2 Den Studenten wird beispielsweise die Möglichkeit gegeben, eine oder zwei Sprachen zu lernen, aber in solch kurzen Zeiträumen (an der LMU München 24 beziehungsweise jeweils zwölf ECTS-Punkte, was vier Lehrveranstaltungen entspricht), dass es sich wohl eher um Schnupperkurse als um eine ernsthafte Beschäftigung handelt. Sie können Seminare belegen, die sie mit den ungleich spezialisierteren Hauptfächlern der in SLK zusammengefassten Fächern besuchen. Zusätzlich ergibt sich durch die Überbelegung oft die Situation, dass viele Studenten nicht ihre Wunschkurse besuchen können und stattdessen in Veranstaltungen sitzen, für die sie kein Interesse aufbringen wollen oder können, weil ihnen größtenteils die Grundlagen fehlen, die beispielsweise durch Einführungskurse der jeweiligen Fächer vermittelt wurden. Sicherlich ließe sich hier auch anmerken, dass man von Geisteswissenschaftlern auch verlangen kann, dass sie ein breiteres Interesse aufbringen und über ihren Tellerrand schauen sollten. Das wäre angesichts der eingeführten Modularisierung aber zynisch. Schließlich wurden die Studenten in ein System gepresst, das ihnen wenig bis gar keine eigene Gestaltungsfreiheit lässt. Wer mehr Offenheit von Studenten verlangt, die oft genug aus mehr oder weniger organisatorischen Gründen in Seminaren landen (und denen dieser Zusammenhang innerhalb des Systems auch als Normalfall suggeriert wird), verlangt von ihnen gewissermaßen, an diesem Punkt selbst aus der Logik des Systems zu treten und an genau der Stelle ein inhaltliches Interesse zu entwickeln, an der sie aus rein formal-pragmatischen Gründen platziert wurden. Dieses Interesse soll dann auch noch ohne die fachlichen Grundlagen entwickelt werden, die eine solche Offenheit erst erlauben würden. Denn gerade diese Grundlagen werden von der Anlage eines Faches wie SLK nicht ernst genommen. Es wird eher so getan, als könnten sich Theaterwissenschaftler, Ethnologen oder Komparatisten völlig austauschbar miteinander unterhalten, als müsste eine tatsächliche Gesprächsgrundlage nicht in der mühsamen Aushandlung der oft gleichlautenden, aber unterschiedlich definierten Begriffe bestehen. Die propagierte Überschneidungsfreiheit entpuppt sich in der Anlage der breiten Nebenfächer als eine Konzentration auf die formalen Rahmenverhältnisse, welche den Inhalt der nun besuchbaren Seminare auf geradezu absurde Weise ausblendet. Die Studenten sind zwar nun in der Lage, zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu sein, von einer ähnlichen Verortung im Raum des Wissens kann aber keine Rede sein.

1 Oliver Jahraus: »Bologna 2.0 an der LMU. Die Reform der Reform« in: Beiträge zur Hochschulforschung 34, 1/2012, S. 82.

2 Vgl. Jahraus: Bologna 2.0, a.a.O., S. 83.

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Vera Kaulbarsch

studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Anglistik an der Ludwig-Maximilians Universität München und in Seoul.

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»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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