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Barbara Hahn: Peer review
Peer review
(S. 257 – 261)

Publish or perish?

Barbara Hahn

Peer review

PDF, 5 Seiten

Vor nicht allzu langer Zeit fiel mir ein Buch in die Hände, verfasst vom Inhaber einer wohldotierten Professur an einer deutschen Universität. Ein erstaunliches Buch. Ich bin mir sicher, dass niemand es gelesen, geschweige denn korrigiert hat, bevor es in den Druck ging. Fast auf jeder Seite die unglaublichsten Fehler; jede Fußnote folgte einer anderen Zitierweise. Ein Buch, geschrieben im tapferen Kampf gegen die deutsche Sprache. Muss ich hinzufügen, dass der Verfasser/die Verfasserin Deutsche Literatur lehrt?

Deutsche Wissenschaftsverlage glauben nicht an peer reviews. Gedruckt wird, wofür ein Druckkostenzuschuss zur Verfügung steht. Auch angesehene Verlage haben längst kein Lektorat mehr. Oft wird nicht einmal mehr zusammen mit dem Autor Korrektur gelesen. Die Bücher, die bei diesem Prozess herauskommen, sehen entsprechend aus. Geschrieben wurden sie durchaus nicht für Leser; sie existieren nur, damit sie auf der Publikationsliste der Verfasser auftauchen (↑ Sammelband). Wobei sich die meisten der an Universitäten Lehrenden auf die üblichen zwei Bücher beschränken: Das erste ist die Dissertation, das zweite die Habilitationsschrift. Zwei Publikationen, die die Tür zur Professur öffnen. Beim dritten Buch beginnt die Freiheit. Es wird nicht begutachtet; niemand redet drein. Erstaunlich, wie wenige diese Freiheit brauchen.

»Amerika, du hast es besser.« Gilt das auch in diesem Fall? Jeder Zeitschriftenbeitrag, jedes Buch, das bei einer University Press erscheint, geht durch den Prozess der peer review. Ein Buch wie das, was mir unlängst ins Haus flatterte, würde hierzulande nicht erscheinen können. Was durchaus nicht zu bedauern ist. Das erspart vielen enorm viel Zeit.

Der akademische Buchmarkt in den USA sieht sich mit anderen Problemen konfrontiert. Die Kriterien dafür, dass eine Stelle entfristet wird, dass jemand Tenure bekommt, sind in den letzten Jahrzehnten standardisiert und hochgeschraubt worden. Immer mehr Universitäten, längst nicht mehr nur die Ivy League Universities sowie die hervorragenden großen Staatsuniversitäten, verlangen ein Buch von denen, die zum Associate Professor befördert werden wollen. Für die nächste Beförderung zum Full Professor ist ein zweites Buch nötig. Diese Bücher will aber niemand mehr drucken. Die Bibliotheken haben ihre Etats zur Anschaffung von Büchern drastisch reduziert, weil die Zeitschriftenabonnements den Großteil des Budgets schlucken.1 Daher sind die Auflagen der wenigen Bücher, die noch erscheinen, zum Weinen niedrig. Zwei-, dreihundert Exemplare. Was bedeutet, dass immer weniger Bibliotheken diese Bücher kaufen, von den Kollegen ganz zu schweigen. Die Leser dieser Bücher kann man Lindsay Waters, Executive Editor for the Humanities bei der Harvard University Press, zufolge an einer Hand abzählen. Vor ein paar Jahren veröffentlichte er eine scharfe Polemik gegen das akademische Publikationsunwesen, Enemies of Promise. Publishing, Perishing, and the Eclipse of Scholarship.2 Waters schreibt, dass akademische Bücher zwei Leser fänden: Die beiden Gutachter, die das Manuskript für den Verlag beurteilen. Aus vielen Indizien schließt er, dass nicht einmal das Komitee, das an der jeweiligen Universität über Stellenentfristungen von Assistant Professors oder über Beförderungen zum Full Professor entscheidet, die Arbeit der Kandidaten zur Kenntnis nehme. Entscheidend sei einzig und allein der Verlag, der das Buch veröffentlichte.3

Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass diese Blase platzt. Im Gegenteil. Alle scheinen der Devise »More is More« zu folgen; der Druck zu publizieren wächst stetig an. Vielen drängt sich der Verdacht auf, dass die Quantität längst mehr zählt als die Qualität (↑ Qualitätssicherung). Hauptsache, die Publikationsliste ist am Ende eines jeden Jahres ein bisschen länger geworden. Beim Durchsehen dieser Listen lässt sich der Verdacht nicht beiseite schieben, dass sie inzwischen zum fiktiven Genre avanciert sind. Bewerbungen werden Verzeichnisse von Publikationen beigelegt, die auf den ersten Blick eindrucksvoll lang sind. Beim zweiten Blick zeigt sich dann, dass die Bewerber gleich ein halbes Dutzend Aufsätze auflisten, die »submitted« wurden, also irgendwo zur Begutachtung liegen. Viele dieser Texte erblicken nie das Licht der Öffentlichkeit. Sie existieren nur auf der Publikationsliste.

2008 hat Lindsay Waters noch einmal versucht, diesen Zug zu stoppen. Sein Essay, »A Call For Slow Writing«, plädiert entschieden dagegen, dass die Universitäten ihre Professoren zwingen, Bücher zu schreiben, dass das Buch als einzig legitime Publikationsweise gilt: »We need to slow down, and remember that the essay has been the main form for humanistic discourse. The book is an outlier. Many of the writings that changed the direction a scholarly community was marching toward were essays.«4 Nicht nur leicht polemisch schlägt Waters vor, all denen Tenure zu verweigern, die nach sechsjähriger Tätigkeit als Assistant Professor an einer Uni bereits ein Buch veröffentlichen. Die Herausgeber der entsprechenden Buchreihen bei den großen Wissenschaftsverlage stimmten ihm zu, so Waters weiter. In den Universitäten dagegen stießen diese Überlegungen auf taube Ohren.5

Die Prozedur der peer review erfreut sich dagegen allgemeiner Zustimmung. Doch lässt sich gegen dieses Ritual einiges einwenden. Wissenschaftliche Bücher, die in den USA erscheinen, zeigen verblüffende Ähnlichkeiten: Dem Acknowledgment, in dem wir mit dem Freundes- und Bekanntenkreis des Verfassers sowie dessen Familie bekannt gemacht werden, folgt eine Einleitung, die genau erläutert, was wie in welchem Kapitel gezeigt werden wird. Dem schließen sich drei bis fünf Kapitel an, alle durchnummeriert, ob das der Struktur des Buches entspricht oder nicht. Am Beginn jedes einzelnen Kapitels erfahren wir, welches Argument uns erwartet. Die Conclusion wiederholt, was bereits in der Einleitung steht. Vor allem die ersten Bücher scheinen sich an wissenschaftliche Analphabeten zu wenden. Für wen sind diese Bücher geschrieben, fragt sich die erstaunte Leserin, der eine hochspezialisierte Arbeit mit endlosen Wiederholungen vorliegt.

Ähnlich die Zeitschriftenartikel. Sie erweitern den common sense des Faches so geringfügig, dass niemand etwas dagegen haben kann. Hier wird die Leserin den Verdacht nicht los, dass Übereinstimmung mit allem und jedem den Autor beseelte, als er sich an den Computer setzte. Anderen Aufsätzen sieht man an, dass ihnen im Prozess der peer review alle Ecken und Kanten abgeschliffen wurden. Polemische, spitzzüngige, originelle Artikel – die bekommen wir selten zu sehen. Ausgewogenheit – ein todsicheres Rezept für einen langweiligen Artikel.

Wann aber treibt der Universitätsbetrieb seinen Mitgliedern gutes Schreiben und den Mut zur Innovation aus? Das lässt sich recht genau datieren: An amerikanischen Colleges und Universitäten wird großer Wert darauf gelegt, dass die Studenten auf dem Weg zum Bachelor schreiben lernen. Da nur eine verschwindende Minderheit der Studenten das Schreiben nach diesem Abschluss zum Beruf macht, ist hier der Spielraum groß. Undergraduates produzieren die erstaunlichsten Arbeiten: Sie experimentieren mit Schreibweisen, mischen poetische und theoretische Sprachen. Mit dem Eintritt in die Graduate School – das gilt selbstverständlich nur für die Humanities – ist der Spaß vorbei. Irgendwann bemerkt einer der Professoren, dass man fürs Publizieren anders schreiben muss. Und dann lernen die Studenten, die Einwände aller möglichen peer reviewers von vornherein zu entkräften. Die Arbeiten sehen entsprechend aus.

Amerika – du hast es nicht wirklich besser. Oder vielleicht doch? Es gibt einen riesengroßen Unterschied zwischen deutschen und amerikanischen Universitäten: Die deutschen setzen ganz auf Konformität. In Amerika konkurrieren Universitäten – auch – um gute Professoren. Wer wagt, etwas ganz anderes zu machen als alle anderen – oder anders gesagt: Wer keine Wahl hat, als etwas anderes zu machen als alle anderen und wer das auch noch gut macht, der hat die Chance, genau deshalb von einer der vielen, vielen Universitäten angestellt zu werden. Needless to say: Das kann auch schief gehen.

Doch wo ist das anders?

1 Robert Darnton, Direktor der Harvard University Library, veröffentlichte im Dezember 2010 in der New York Review of Books einen Artikel, den er folgendermaßen betitelte: »The Library: Three Jeremiads«. Dort heißt es: »In 1998 I had my first encounter with a problem that now pervades the academic world. It can be described as a vicious circle: the escalation in the price of periodicals forces libraries to cut back on their purchase of monographs; the drop in the demand for monographs makes university presses reduce their publication of them; and the difficulty in getting them published creates barriers to careers among graduate students. Although librarians have lived with this problem for decades, faculty are only dimly aware of its existence – not surprisingly, because libraries pay for the journals, professors don’t. […] In 1974 the average cost of a subscription to a journal was $54.86. In 2009 it came to $2,031 for a US title and $4,753 for a non-US title, an increase greater than ten times that of inflation. Between 1986 and 2005, the prices for institutional subscriptions to journals rose 302 percent, while the consumer price index went up by 68 percent. Faced with this disparity, libraries have had to adjust the proportions of their acquisitions budgets. As a rule, they used to spend about half of their funds on serials and half on monographs. By 2000 many libraries were spending three quarters of their budget on serials. Some had nearly stopped buying monographs altogether or had eliminated them in certain fields.« http://www.nybooks.com/articles/archives/2010/dec/23/library-three-jeremiads/ (aufgerufen: 5. 5. 2012).

2 Lindsay Waters: Enemies of Promise. Publishing, Perishing, and the Eclipse of Scholarship, Chicago 2004. Während zu Beginn seiner Tätigkeit als Lektor ein Buch im Durchschnitt 1200 Mal verkauft wurde, setze sein Verlag heute weniger als 300 Exemplare ab.

3 Ebd., S. 36. Das stimmt so sicher nicht. Viele Kollegen machen sich unendliche Mühe bei der Evaluierung der Arbeiten der jeweiligen Kandidaten.

4 Lindsey Waters: »A Call For Slow Writing«, in: Inside Higher Ed, März 2008, http://www.insidehighered.com/views/2008/03/10/waters#ixzz1u83X9FzB, (aufgerufen: 6. 5. 2012).

5 Das erinnert an eine zweite inflationäre Entwicklung, für die sich ebenfalls die Universitäten verantwortlich zeichnen: Die entsprechenden Gremien für die Beförderung verlangen immer mehr Gutachten von Kollegen an anderen Institutionen. Davon können vor allem die Full Professors ein langes Lied singen: Wir schreiben viel zu viele »reports«, kommen daher immer weniger zu unserer eigenen Arbeit. Während des Semesters auch nur einen Vortrag zu schreiben, wird zum Problem.

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Barbara Hahn

ist Distinguished Professor of German an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

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»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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