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Thomas Schestag: Lektürekurs
Lektürekurs
(S. 207 – 225)

Lesen lernen im Zeichen der Desokkupation

Thomas Schestag

Lektürekurs

PDF, 19 Seiten

Lektürekurse nehmen Rekurs aufs Lesen in der Regel so, dass der Lesevorgang als eine Technik oder Kunst der Inbesitznahme des Textes, seine Bedeutung freizusetzen, um ihrer habhaft zu werden und sie festzuhalten, vorausgesetzt erscheint. Wer liest, ist gehalten, auf bekannte und erprobte Zugriffstechniken zurückzugreifen, die zwischen Hermeneutik und Maieutik oszillieren: den Widerstand des sperrigen Textes zu brechen, den Widerspenstigen auf den Begriff zu bringen: dem Bedeutungstragenden und -trächtigen, aber -trägen, die Bedeutung, und läge die in Bedeutungslosigkeit, abzumerken, um die Verbindlichkeit der entbundenen Bedeutung gegen den materialen, maternalen Textleib, der ihr immer wieder zur Geburt verhelfen soll, an dem also als an einem mütterlichen, muttersprachlichen, an einer mater festgehalten werden muss, um ihn immer wieder loszuwerden, immer wieder beizuziehen, auszuspielen. Der generative Schattenriss des Lesevorgangs als fortwährende, fortwährend unterbrochene und wiederaufgenommene Entbindung eines Kindes (das nicht sprechen, sondern einzig die Bedeutung, die ihm zugesprochen wird, schweigend verkörpern soll) aus dem Text vergrößert allerdings nur einen Aspekt an der Ausrichtung des Lesens als Besetzung, der Leser als Besatzer. Okkupation ist der politische Inbegriff des Lesens im Wissenschaftsbetrieb wie in der vom Willen zum Wissen, das Erworbene zu horten (und zu mehren), getragenen Lebenswelt als Informationsgesellschaft, der paramilitärische Uniformität als Leseziel und Lebensziel vorschwebt.

Wer Rekurs aufs Lesen als Vorgang der Inbesitznahme eines Textes nimmt, die Schrift zur Preisgabe dessen, was sie schon enthält, aber noch vorenthält, zu ermuntern oder zu zwingen, sucht Lektürekurse nicht unter allen Umständen schon als Leser oder Leserin, vom Vorsatz besetzt, in Beschlag genommen oder gar besessen, den Text in Besitz zu nehmen auf, sondern unbeschäftigt, müßig (↑ Machen). Von der Aufgabe zu lesen noch nicht in Anspruch genommen: unbelehrt und unbelesen, anderswo. Wer dergestalt, fast ungestalt, am Ort der Schule und Hochschule umgeht, wird, ohne es zu wissen, heimgesucht von einer verschollenen Schicht im semantischen Untergrund des Wortes Schule, sucht also die Hochschule als ironische Verkörperung dieser Heimsuchung heim. In seiner am 8. November 1849 an der Akademie der Wissenschaften in Berlin gehaltenen Vorlesung Über Schule Universität Akademie streift Jacob Grimm diese Schicht im Anschluss an den Hinweis, Jacob Grimm nennt ihn Voraussetzung, »dasz jeder aus innerm trieb und für seine eigne ausbildung studiere, nicht um dadurch ein amt zu erwerben«: »[…] fast zwecklos sind die im lauf der studienzeit geforderten zeugnisse über besuch der ↑ vorlesungen; verderblich alle ertheilten vorschriften über den besuch unumgänglicher vorlesungen, wodurch die andern zu gleichgültigen oder unnöthigen herabgesetzt werden, denn nichts wissenschaftliches ist an seiner rechten stelle ohne innere nothwendigkeit, und die auswahl musz den studierenden, oder dem beispiel und einer sich von selbst einfindenden, nicht zu greifenden aber zu fühlenden autorität der lehrer in bezug auf die güte ihrer vorträge ruhig überlassen bleiben. Der mensch hat auch ein recht darauf mit unter faul zu sein oder zu scheinen, und sich, wie er will, gehen zu lassen, oder über die wahl eines lehrers oder seine eigne neigung gänzlich zu teuschen. Das alles ist seine sache, nicht die anderer, und soll ihm nicht nachgetragen werden«.1 In Wendungen wie sich von selbst einfinden, nicht zu greifen, faul zu sein oder zu scheinen, sich gehen zu lassen schwingt die Preisgabe des Anspruchs auf Erwerb und Amt und Arbeit mit. Mit einem andern Wort der semantische Fächer des griechischen Wortes scholé: »eig. das Anhalten; dah. Rast, Ruhe, Musse, Feier, Freiheit von Arbeit, geschäftsfreie Zeit, Geschäftslosigkeit, otium, zuw. auch für Gemächlichkeit, Bequemlichkeit, Saumseligkeit«; das entsprechende Verb, scholázein, bedeutet unter anderem »sich Zeit und Musse nehmen, zaudern, säumen, zögern […]; Musse, Zeit, Ruhe, Rast haben, feiern, keine Arbeit haben, sich ausruhen«. Tópos scholázon ist »ein leerer Ort, wo Jem. nicht mehr thätig ist«, kathédra scholázousa »ein leer stehender Sitz«.2 Der Ort der Schule und Hochschule ist, von der im Wortuntergrund spielenden Semantik des griechischen scholé her, Ort einer irritierenden Vakanz: Ort des Innehaltens einer zielgerichteten Bewegung – nicht zuletzt auch Ort der Aussetzung des Willens, die semantische Bestimmung dieses Ortes durchzusetzen –, Ort der Auszeit und Desokkupation. Die Schule wäre, ihrer unterschwelligen Heimsuchung durch die Semantik des griechischen scholázein nach oder nah, derjenige ausgezeichnete Ort, der die Zeit, Aus- und Un- und Zwischenzeit, nämlich Muße (↑ Konzerte, Brandenburgische) erlaubt, zum Ort, nicht zuletzt auch zum Ort des Textes, zum Text als Ort, in ein anderes Verhältnis als das der Besetzung (durch eine Besatzungsmacht) und Inbesitznahme, der Usurpation, Okkupation und Annexion zu finden. Was könnte es heißen, im Zeichen der Desokkupation zu lesen, lesen zu lernen? Was, aussetzendes Lesen am leeren, am vakanten Ort – scholé – zu lehren?


Im Jahr 1605 geht in Madrid ein Buch in Druck, dessen Titel vom Namen seines Protagonisten – eines Lesers – unscheidbar erscheint: EL INGENIOSO HIDALGO DON QUIXOTE DE LA MANCHA, Compuesto por Miguel de Cervantes Saavedra. Das Vorwort – Prólogo – zu diesem Buch setzt mit einer eigentümlichen Adresse an den Leser ein: Desocupado lector. Ludwig Tieck übersetzt diese Wendung in der Vorrede zu Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha (1799 in Berlin erschienen) so: Müßiger Leser. Prologe sind in der spanischen Romanliteratur um 1600 als Topos gang und gäbe. Der Ort des Vorworts ist, auf Autoren wie Leser gemünzt, von Erwartungshaltungen, Gewohnheiten und verfahrenstechnischen Schematismen längst in Beschlag, längst in Besitz genommen: präokkupiert. Autoren legen im ↑ Vorwort Zeugnis ihrer Belesenheit ab, die Leser des Vorworts fühlen sich ins Geheimnis gezogen, anobliert: als Glieder eines exklusiven Zirkels von Gelehrten ernstgenommen, denen offensichtlich auch El ingenioso, der scharfsinnige Don Quixote, der das Buch beim Namen nennt, den aber auch das Buch beim Namen nennt, zuzählt. Diesen festumrissenen, besetzten Ort, unter dem typisierten Titel Prólogo, sucht die Adresse – Desocupado lector – in einer unvertrauten Wendung heim. Sie löst Befremden aus und den Eindruck der Umrissenheit des Ortes auf. Einerseits zwar, der Form nach, erfüllt sie den Anspruch, den Leser anzusprechen, andererseits aber geht sie ins Leere, weil sie den Leser müßig – desocupado – nennt. Die captatio benevolentiae der vertrauten, vertrauensvollen Anrede wird in dem Wort desocupado zur inakzeptablen entstellt: captatio malevolens. Sie erregt leise Anstoß: stößt ab. Die Apostrophe streift den Leser, der die Seiten des Buches blätternd streift, als einen, der nicht liest, vom Lesen als Beschäftigung, Besetzung, Inbesitznahme und Anverwandlung der Bedeutung eines Textes distanziert. Die mit dem Leser angesprochene, im – losen – Leser angesprochene Desokkupation verläuft quer zur Erwartungshaltung, die der streifende säumende Blick – auf dem Sprung, zu lesen – ans Vorwort als an einen rhetorischen Gemeinplatz knüpft. Nicht nur im Leser, nicht nur anstelle des Lesers öffnet die Apostrophe einen unbesetzten, unbesetzt genannten Ort, sondern erklärt, ohne eine Erklärung abzugeben, auch den Prolog zum unbesetzten, vom Prolog selbst noch nicht in Anspruch genommenen Ort. Und nicht nur den müßigen Leser spricht die Apostrophe an, am müßigen Ort, sondern spricht selber müßig, von der Abwendung – Apo- –, hin zum Leser, der sie als Apostrophe Folge leisten müsste, halb abgewandt; dem Anspruch, den Leser anzusprechen, nur halb zugewandt: Desocupada apóstrofe. Die Apostrophe bricht mit der Vorannahme, der Ort des Prologs wie der Ort des Lesers wie der Ort der Apostrophe seien voreingenommen. Sie bringt, auf der Schwelle zum Prolog, ein Pro- zur Sprache, das für nichts und niemanden spricht: Unvoreingenommenheit. Die Apostrophe räumt (überraschend) ein, den Ort des Vorworts anderem als dem Prolog einzuräumen (der nicht einfach auf sich warten lässt, sondern dessen Selbstverhältnis offen – desocupado – bleibt): sie räumt den Ort des Vorworts seiner Unbesetztheit ein. In ihr greift eine eigentümliche Abzüglichkeit oder Evakuation des okkupierten, von Erwartungshaltungen beherrschten, heimgesuchten Ortes Raum. Am Ort der Vorrede, im Vorwort, bereitet sie einer befremdlichen Vakanz den Boden. Und streift im desokkupiert genannten Leser – im Leser, der nicht liest, nicht sich als Leser wahrnimmt – eine Leere, gegen die nicht unter allen Umständen der Affekt des horror vacui beschirmt, sondern die Entbundenheit von der Pflicht, so oder so zu lesen, lesen zu dürfen oder lesen zu müssen, nahelegt.

Dem Vorsatz aber, den die Apostrophe im angesprochen-unangesprochenen Leser, aus Abwehr, wecken mag, vor die zweischneidige Apostrophe wie vor die Vakanz, die sich im Angesprochenen aufzutun beginnt, zurück, den Ort ihrer Herkunft nicht nur ausfindig zu machen, sondern den Ort vom Autor der Apostrophe besetzt zu finden, kommt sie zuvor. Denn der Gesuchte stellt sich mit diesen Worten, wiederum in Tiecks Übersetzung, vor: »Müßiger Leser. – Ohne Schwur magst du mir glauben, daß ich wünsche, dieses Buch, das Kind meines Gehirns, wäre das schönste, lieblichste und verständigste, das man sich nur vorstellen kann. Ich habe aber unmöglich dem Gesetze der Natur zuwiderhandeln können, daß jedes Wesen sein Ähnliches hervorbringt. Was konnte also mein unfruchtbarer, ungebildeter Geist anderes erzeugen als die Geschichte eines dürren und welken Sohnes, der wunderlich und voll seltsamer Gedanken ist, die vorher noch niemand beigefallen sind: [Desocupado lector: sin juramento me podrás creer que quisiera que este libro, como hijo del entendimiento, fuera el más hermoso, el más gallardo y más discreto que pudiera imaginarse. Pero no he podido yo contravenir al orden de naturaleza, que en ella cada cosa engendra su semejante. Y, así, ¿qué podía engendrar el estéril y mal cultivado ingenio mío, sino la historia de un hijo seco, avellanado, antojadizo y lleno de pensiamentos varios y nunca imaginados de otro alguno […]]«3. Das erste Wort im Anschluss an das Kolon, das die Adresse (im spanischen Text) auf alles Folgende öffnet, setzt die Absetzungsbewegung, die in der Desokkupation am Werk ist, fort: sin: ohne: »Ohne Schwur magst Du mir glauben […]«. Die Zeilen greifen den Schwur, das Wort juramento nur auf, um Abstand vom Aufgegriffenen, Abstand von der Beschwörung – des Lesers durch den Autor – zu nehmen. Auf der Schwelle zur Parodie: Ich beschwöre dich, lass mich nicht schwören … Der Schwur beschwörte, als Inanspruchnahme – captatio und occupatio –, den Leser lediglich, Position zu beziehen oder Stellung zu nehmen, nämlich einzunehmen, und den Wunsch des Autors zu teilen. Gegenstand des Wunsches ist dies Buch – este libro –, das der Autor – indem er offenbar einen Gemeinplatz aufsucht und besetzt Kind seines Verstandes nennt. Zum Gemeinplatz wird der Vergleich von Buch und Kind nicht zuletzt auch dadurch, dass beide im Lateinischen als Homonyme ineinander übergehen und in Erscheinung treten, einander zum Verwechseln ähnlich, ein und denselben Wortort besetzen: liber. Einen Ort mithin, der weder von dem einen noch von dem andern Wort, weder von liber noch von liber, ganz in Anspruch, in Besitz genommen werden kann: vom Schattenriss der Desokkupation durchlaufen. Diesen Riss vergrößert die folgende Erklärung dafür, warum dies Buch, mein Kind, dem Übermaß an Schönheit, Liebreiz und Bescheidenheit, die ich ihm wünsche, nicht entsprechen kann. Unter Berufung auf Natur als Milieu der Zeugung von Ähnlichem durch Ähnliches, kann ein Unfruchtbarer, nämlich »mein unfruchtbarer – estéril –, ungebildeter Geist«, nur einen Unfruchtbaren zeugen: »die Geschichte eines dürren und welken Sohnes«; ein dürres, welkes Buch: bloß Blattwerk. Die Auskunft aber, die auf den ersten Blick die unumschränkte Wirkungsmächtigkeit oder Potenz jenes andern, ältern, ältesten lieu commun, des Gemein-, Allgemeinplatzes schlechthin, dass Natur nur Ähnlichkeiten zeugt (daß alles, was lebt, allem, was lebt, ähnlich sieht), bestätigt, öffnet im Herz des Gedränges alles, was am Leben ist, um eine Leere oder Stille, eine Leerstelle in ihm. Keine leere Stelle, sondern Stellenleere. Denn der Unfruchtbare, der nur Unfruchtbares zeugt, zeugt – per definitionem – nicht, und zeugt also, als ungezeugtes Kind – Kind eines Ungezeugten – ein ungezeugtes Kind. Von dem es, entsprechend, diesem wunderlichen, unerhörten, vielleicht unhörbaren Einfall nach heißt, dass es »wunderlich und voll seltsamer Gedanken ist, die vorher noch niemand beigefallen sind«. Die Bestätigung des Satzes über die Natur geht, zum Entsetzen des Lesers, der mit dem Buch – seinem Sohn – wie mit dem Autor – seinem Vater – als ein Leser, der am Leben ist, Fühlung zu nehmen und den Gemeinplatz zu teilen sucht, in Entstellungen über. Mein Buch, ein ungezeugtes Kind – hijo –, wirft, den Lettern seines Namens eingeprägt, ein Echo: Don Quhijote. Es wirft aber, Kind eines Ungezeugten, das Echo keiner Stimme. Denn alles, was durch diese Zeilen geht, geht unbeschworen, unbeschwert – desocupado –, unbezeugt und ungezeugt: vom Anspruch, am Leben, wie vom Anspruch, tot zu sein, unbehelligt. Geht, ohne fortzugehen. Geht, ohne anzukommen. Und ohne, wie es im Deutschen von Geschriebenem heißt, geschrieben zu stehen. Ohne die Rede von der Ungezeugtheit beider, von Buch und Autor, Sohn und Vater, zu verwerfen, geht auch die Entstellung des ironisch beschworenen Naturgesetzes in Entstellungen über. Denn der ungezeugte Vater ist, so die ab- und ausweichende Auskunft, die der sich abzeichnenden Gestalt des Vaters Abbruch tut und den Leser, im Begriff, sich mit dem Unvorstellbaren abzufinden, sich am Ort des Unvorstellbaren einzufinden und dem Unvorstellbaren eine Stelle zuzuweisen, aufstört, »wenn ich auch der Vater scheine, […] nur der Gevatter des Don Quijote [Pero yo, que, aunque parezco padre, soy padrastro de don Quijote]«.4 Die Einführung eines ungezeugten Stiefvaters – padrastro – anstelle eines ungezeugten Vaters – padre –, die einen ungezeugten Zeuger durch einen ungezeugten Zeugen ablöst, wodurch das unumkehrbare Fort des Erzeugers durch das unumwundene Da des Zeugen – der mit dem Vater Ungezeugtheit teilt, weshalb er ihm ähnlich sieht – bezeugt sein soll, aber nicht bezeugt sein kann, weil für die Unumstößlichkeit der Zeugniskraft des Zeugen weitere Zeugen aufgeboten werden müssten, lässt die Entstellung des natürlichen Gemeinplatzes – Natur als Gemeinplatz der Zeugung von Ähnlichem durch Ähnliches – in die Sphäre des Rechts und der Rechtsprechung übergreifen. Die Entstellungen ergreifen beide, natürliche und politische Ordnung, Physis und Nomos – der Sprache. Sie spielen in dem Wort padrastro, das nicht nur den Vater – padre –, sondern auch den Stern – astro – entstellt, in ihm aber den Gestirnstand überhaupt: die Annahme genealogischer und kosmischer Ordnung, wo jedwedes Ding seines Orts, von Rechts wegen oder der Natur gemäß, durch An- und Abwesenheit glänzt. In dem Wort padrastro spielt das Desaster der Desokkupation.

Wenn der vermeinte Vater nur Stiefvater, ein ungezeugter Stellvertreter ist, der die Vormundschaft des halbverwaisten ungezeugten Kindes übernimmt, dann ist die Mutter, die das Kind – dies Buch – mit einem andern zeugte; dann ist die Sprache, in der das Kind zur Sprache kommt, nicht eingeboren, nicht Sprache, die ihres Orts gelegen und gegeben wäre, und wäre dieser Ort utopisch, nicht Sprache der Eingeburt und Ausgeburt des Kindes, Muttersprache, sondern selber, vor ihre Ungeborenheit zurück, ungezeugt und unbezeugt, die nichts zur Sprache bringt als dies, dass die Sprachlichkeit der Sprache ins Ungezeugte, Unbezeugte spielt: in Desokkupation. Das Kind – dies Buch – kommt, so der padrastro, aus einer andern Sprache, geht in der Sprache des Vormunds als ein Fremdkörper um und teilt den Aufriss eines jeden verzeichneten Worts der spanischen Sprache. Eine Stelle, weiter unten, in Kapitel 9, gibt genaueren Aufschluss über die Sprache der Herkunft des ungezeugten Kindes – Don Quijote – wie über den ungezeugten Vormund, der sich jetzt Leser nennt: »Eines Tages war ich auf der Alcana zu Toledo, da kam ein Junge mit alten Schreibebüchern und Papieren, die er einem Seidenhändler verkaufen wollte. Da es nun meine Leidenschaft ist, alles zu lesen, und wenn es auch zerrissene Papiere von der Straße wären, so folgte ich auch meiner natürlichen Neigung, nahm einige Blätter von denen, die der Junge verkaufte, sah sie an und erkannte die arabischen Lettern. Ich kannte nun zwar die Buchstaben, konnte sie aber nicht lesen und sah mich also um, ob ich nicht einen Morisken fände, der sie mir läse [Estando yo un día en el Alcaná de Toledo, llegó un muchacho a vender unos cartapacios y papelas viejos a un sedero; y como yo soy aficionado a leer aunque sean los papeles rotos de las calles, llevada desta mi natural inclinación tomé un cartapacio de los que el muchacho vendía y vile con carácteres que conocí ser arábigos. Y puesto que auque los conocía no los sabía leer, anduve mirando si parecía por allí algún morisco aljamiado que los leyese]«.5 Die Leidenschaft des ungezeugten Lesers erstreckt sich nicht nur auf alles, was aufgelesen werden kann, und sei das zerrissenes Papier, das auf der Straße liegt; besitzlos, unbrauchbar, abhanden; aus den Augen, aus dem Sinn geratenes, desokkupiertes Zeug. Sie erstreckt sich auch auf alles, was er nicht lesen kann. Lesen ist diesem Ungezeugten keine Technik, keine Tat oder Tätigkeit, keine haupt-, neben- oder außerberufliche Beschäftigung – ocupación –, sondern inclinación: eine Neigung, die er natürlich nennt. Das Wort natural ist im Fall des Ungezeugten (natürlich) mit Vorsicht zu genießen. In ihm nimmt der geneigte Leser, der das Wort, seiner Bedeutung wegen ein- und in Besitz zu nehmen trachtet, mit mehr als einem Neigungswinkel Fühlung. Ein Blick in die Papiere, die der Junge als Altpapier zu Markte trägt, belehrt den Leser, dass er arabische Lettern vor Augen hat, die er nicht lesen kann. Seine Neigung, die Neigung des Ungezeugten, der – selber irgendwie entfallen, unerheblich – dem Abfall, den er aufliest, ähnlich sieht, aber schließt, mit dem Gefallen am Abfall, Gefallen an allem, was er nicht lesen kann, ein.6 Die Blätter sind von Lettern okkupiert – er liest die Lettern ab: sieht ihnen an, dass er nicht lesen kann –, die dem Leser zu erkennen geben, dass er außerstande bleibt, die Blätter lesend in Besitz zu nehmen. Er braucht einen Übersetzer, der beider Sprachen mächtig ist, ihm vorzulesen, was ihm die Blätter vorenthalten. Er sucht, in Tiecks Übersetzung, einen Morisken, »der sie – die arabischen Lettern – mir läse«. Morisken sind zum Katholizismus zwangskonvertierte maurische Muslime.7 Aus dem spanischen Text aber taucht der Moriske in Begleitung eines Beiworts auf – aljamiado –, das Tieck nicht übersetzt, sondern übergeht. Es fehlt: fällt aus, oder ab und lässt im deutschen Text eine Lücke, so, als ließe es keine. Unbezeugt. Ungezeugt. Die Desokkupation – oder Entsetzung – geht unter den Augen des Lesers, ohne ins Auge zu fallen, zurückhaltend vor. Vonstatten. Dieses ausgefallene Wort geht auf ein arabisches Etym – in vokalisierter Transliteration: a’gˇamiyyah – zurück, der Bedeutung fremdsprachig, nämlich außerarabisch. Der Aljamiadomoriske ist, außer der arabischen, einer fremden, außerarabischen Sprache, kundig. Tiecks Text aber, der aus einer fremden Sprache übersetzt, übersetzt das Wort aljamiado, das aus einer der fremden Sprache fremden Sprache, in die spanische aus dem Arabischen entlehnt, fremdsprachig, nämlich eine – oder alle – der arabischen fremden Sprache – oder Sprachen – bedeutet, nicht. Ein Grund dafür mag in dem vertrackten Umstand liegen, dass Aljamiadoschriften zwar in arabischer Schrift, aber nicht in arabischer Sprache verfasst sind. Es handelt sich um eine chiffrierte Partitur, die aus dem arabischen Schriftbild die Entzifferung eines dem Arabischen fremden Klangbilds, hier des Kastilischen, erlaubt. Der zwangskonvertierte maurische Muslim spricht aljamía, das Kastilisch der Morisken: Moriskenspanisch. (Entsprechend wird das Arabisch der kastilischen Katholiken algarabía genannt; ein Wort, das außer Arabisch auch Kauderwelsch bedeutet.) Die Schrift auf den fliegenden Papieren, die der ungezeugte Leser den Morisken vorzulesen bittet, lässt offen, ob es sich um einen in arabischer Sprache mit arabischen Lettern oder um einen mit arabischen Lettern in kastilischer Sprache verfassten Text, also um arabische oder Aljamiadoliteratur handelt.8 Klärung über die sprachliche Verortung der beschriebenen Papiere bringt auch nicht die erste Seite, das Titel- oder Deckblatt des Packens, das der Leselustige den Morisken vorzulesen bittet, der auch sogleich, wie es im spanischen Text heißt, das Arabische im Kastilischen aus dem Stegreif wiedergab – volviendo de improviso el arábigo en castellano – [ein Wort, das Tieck durch übersetzte übersetzt], und die Mutmaßung des Ungezeugten, es könne sich um die Geschichte Don Quijotes handeln, bestätigt, denn der improvisierte Titel lautet: Historia de don Quijote de la Mancha, escrita por Cide Hamete Benengeli, historiador arábigo. Der Frage aber, die aus dem hier beschriebenen Augenblick auf dem Straßenmarkt zu Toledo unversehens – also buchstäblich improvisiert – auftaucht, ob Cide Hamete Benengeli, der arabische Historienschreiber, den Text in arabischer Sprache mit arabischen Charakteren oder nur unter Verwendung arabischer Lettern in kastilischer Sprache abgefasst hat, hilft keine Vorsehung auf die Sprünge zur Antwort. Jede Antwort auf diese Frage bleibt à l’improviste: der Unterwanderung durch eine unvorhergesehne andre ausgesetzt. Keine Antwort ist imstande, den sprachlichen Ort, den Ort der Sprache, den die Schriftzüge auf den losen Blättern weder an- noch abweisen, ausfindig zu machen, zu besetzen und im Namen der ein oder andern Sprache, ihres Orts, in Besitz zu nehmen. Diese Unverortbarkeit der Textvorlage, die Unauffindbarkeit der Sprache im und am Ursprung des Don Quijote, im Geflecht der arabischen Handschrift vor Augen, wirft auch gebrochenes Licht auf den Vorgang der Übersetzung. Der Sprung – überzusetzen – zurück in die Sprache, zurück an den Ort der Sprache, die der Moriske seinem ungezeugten Auftraggeber in lateinischen Lettern in kastilischer Sprache verzeichnet, geht ins Leere. Die unabwendbar mögliche Diskrepanz zwischen dem (arabischen) Schriftbild und einer phonetischen (sei es arabischen sei es anderssprachigen) Entsprechung wandert auch in die Übersetzung ein, die der namenlose Moriske im Haus des ungezeugten Lesers fertigt (wiederum in der Übersetzung Ludwig Tiecks): »Sogleich ging ich mit dem Morisken durch das Kloster der großen Kirche und trug ihm auf, die ganze Makulatur zu übersetzen [volviese: von volver, dem Lateinischen vertere entlehnt: wenden, kehrtmachen, umwenden, wiedergeben], was vom Don Quixote handelte, in kastilianischer Sprache, ohne etwas auszulassen noch hinzuzufügen, […]. Er […] versprach alles gut, getreu und schnell zu übersetzen [traducirlos]. Um aber den Handel zu erleichtern und meinen guten Fund nicht aus den Händen zu geben, nahm ich den Mohren zu mir ins Haus, wo er in ungefähr einem und einem halben Monat alles so übersetzte [tradujo], wie man es hier findet«9. Denn gleichgültig, als Text welcher Sprache die Übersetzung auf den ersten Blick identifiziert wird: Phonetische und schriftbildliche Allusionen auf andere Wörter – oder Wortfetzen – anderer Sprachen – oder Sprachähnlichkeiten – nisten ununterbindbar in jedem verorteten Wort und entledigen beide, den Ort seiner geodätischen, das Wort seiner geologischen Verbindlichkeit. Kein Wort steht seines Orts. Keines steht geschrieben. Keines liegt gedruckt oder wie gedruckt vor, und vor allem nicht in einer unter andern Sprachen, sondern dem Eindruck feinster Risse – Glasfaserähnlichkeiten –, die seinen Aufriss wie den Aufriss des Wortortes teilen, ausgesetzt. Selbst dem Rückzug auf die Annahme oder Vorannahme, es handle sich bei der Szene auf dem Straßenmarkt von Toledo um eine Herausgeberfiktion des Autors – Miguel de Cervantes –, den Platz des wirklichen, des wahren Autors, des Autors in Wahrheit, vom Autor selbst, in seinem Namen stellvertreten, okkupiert zu finden, ist an dieser Stelle – ortlos genau dem Blatt, das sie verzeichnet, eingetragen – der Weg abgeschnitten. So erinnert Francisco Rodríguez Marín in seiner kommentierten Ausgabe des Don Quijote (Madrid 1911) an den Orientalisten José Antonio Conde, der in dem arabischen – hier in lateinische Lettern umgeschriebenen – Namen Benengeli eine phonetische Allusion auf den im Arabischen sprechenden Namen Benelayli verzeichnet fand, dem, ins Kastilische übersetzt, folgende Wendungen entsprechen: »hijo de ciervo [Sohn des Hirsches], cerval [Hirsch-] o cervanteno [Cervantisch]«10. Aus dem arabischen Namen – Benengeli –bricht der Name Cervantes vor, der unversehens an die vakante Stelle eines (ungezeugten) Vaters rückt, der einen (ungezeugten) Sohn zeugt: Cide Hamete Benengeli. Andere Leser haben an dieser Stelle andere Namen, aus andern Namen andere Wörter (anderer Sprachen) entziffert. So verwirft Leopoldo Eguílaz (1899) in seinen Notas etimológicas á »El Ingenioso Hidalgo D. Quijote de la Mancha« das rissige Auftauchen von Cervantes aus dem Namen Benengeli als grundlos – no tiene fundamento – und entziffert aus demselben Namen ein anderes arabisches Wort – bedencheli –, dem im Kastilischen aberenjenado entspricht: dunkelviolett.11 Diesem kastilischen Farbwort im Namen des arabischen Historienschreibers ist auch Sancho Pansa auf der Spur, wenn er im zweiten Kapitel des zweiten Bandes die Erklärung abgibt, »der Autor unserer Historie« – el autor de nuestra historia – nenne sich Cide Hamete Berenjena.12 Auf diese Deutung, die der Deutung des spanischen Philologen zum Verwechseln ähnlich sieht, stößt aber Sancho nicht durch Übersetzung, sondern aus dem Klangbild des arabischen Namens Benengeli entziffert er das kastilische Wort Berenjena. In die Tonspur des Namens vertieft, nimmt Sancho, was er hört, so wahr, als lauschte er dem Vortrag eines Aljamiadowortes. Dem phonetischen Cluster, den die Partitur der arabischen Charaktere provoziert – zwischen allen Sprachen offen –, entspricht für Sancho kein Wort der arabischen Sprache, sondern ein Wort der kastilischen: Berenjena. Dem Philologen dagegen verweist der Name Cide Hamete Benengeli auf ein arabisches Wort – bedencheli –, das Rückschlüsse auf die Identität des arabischen Historienschreibers erlaubt, der nicht nur in arabischen Lettern, sondern auch in arabischer Sprache schreibt: Cide Hamete Benengeli ist der Name eines Mauren. Sanchos Deutung aber entziffert aus dem Namen des arabischen Historienschreibers, Cide Hamete Benengeli, kaum anders wahrgenommen, ein in arabische Lettern verzeichnetes kastilisches Wort: das Phantomportrait eines Aljamiadomorisken. Beide, Sancho und der Gelehrte, stoßen auf verschiedenen Wegen, die einander aus dem Wege gehen – der eine, weil er in Benengeli das Echo eines arabischen Wortes – bedencheli –, das er ins Kastilische übersetzt, der andere, weil er in Benengeli kein arabisches, sondern das Echo jenes kastilischen Wortes aufschnappt, auf das der andre erst durch Übersetzung stößt; auf ein und dasselbe, uneins mit sich: aberenjenado : Berenjena. Der Name Cide Hamete Benengeli sei aber, wendet Don Quijote ein, maurisch – Ese nombre es de moro. Sancho lässt sich durch diesen Einwand nicht beirren, sondern pflichtet bei. Dem werde wohl so sein, denn er, Sancho, habe sagen hören, die meisten Mauren seien amigos de berenjenas, Freunde von Auberginen (die das Farbwort aberenjenado im Namen tragen). Ludwig Tieck begegnet all diesen Übersetzungs- und Deutungsansätzen ausweichend so: Er übersetzt Cide Hamete Berenjena durch Cide Hamete Bohnenstengel. Er hat sich also, so der Einwand auf den ersten Blick, der Bedenklichkeit mimt, in der Bedeutung des kastilischen Worts berenjena vergriffen, indem er dort, wo im spanischen Text Auberginen wachsen, Bohnen zieht. Doch auf den zweiten Blick zieht er die Bohnenstengel als Echo eines deutschen Wortes aus dem halb klang- halb schriftbildlichen Cluster Benengeli–bedencheli–berenjena. Tieck behandelt die spanische Textvorlage an dieser Stelle – vielleicht ungewollt, vielleicht ironisch – seinerseits als ein Stück Aljamiadoliteratur. Er nimmt in Benengeli–bedencheli–berenjena ein Amalgam aus Klang- und Schriftbildlichkeit wahr: Tieck schenkt dem Don Quijote als einem Text Gehör, der keiner identifizierbaren Sprache angehört und gehorcht, von keiner Sprache ihres Ortes okkupiert, als ein lector desocupado und wird nur so dem Vorgang der Desokkupation, der im spanischen Text nicht einfach zur Sprache kommt, ohne einfach nicht auch zur Sprache zu kommen, gerecht. Im spanischen Text geht die Desokkupation aller Sprachen, die als Sprachen ihres Orts Staat machen, vonstatten, ohne statt zu finden. »Wahrscheinlich, Sancho«, so Don Quijote, der an dieser Stelle als ein Übersetzer aus dem Arabischen ins Kastilische wirkt, weil er offenbar am Autor der Historie als an einem in arabischer Sprache schreibenden Mauren, nicht als an einem der arabischen Schrift kundigen Morisken festzuhalten strebt, »irrst du dich im Zunamen dieses Cide, welches im Arabischen Herr bedeutet [errarte en el sobrenombre de ese Cide, que en arábigo quiere decir señor]«. Nicht nur der Name des vermeintlichen Verfassers geht an dieser Stelle aus der Fassung, sondern auch der Vorsatz, Aufschluss darüber zu erzwingen, ob es sich im Fall dieser Historie um arabische oder Aljamiadoliteratur handle. Ein Bakkalaureus, Simson Carrasco, der Sancho über den vermeintlich wahren Namen des Verfassers – Cide Hamete Berenjena – in Kenntnis gesetzt habe, wie Sancho sagt, von dem es aber heißt, dass er »ein großer Schelm« [muy gran socarrón] war, gibt im nächsten, dritten Kapitel des zweiten Bandes, vor Quijote auf den Knien, noch einmal, anders, Auskunft über den Verfasser der Historie: »Gepriesen sei Cide Hamete Benengeli, der die Geschichte Eurer großen Taten niederschrieb [escrita], und sei gesegnet der fleißige Mann, der die Mühe auf sich nahm, sie aus dem Arabischen […] in unsere kastilianische Sprache zu übersetzen [traducir de arábigo en nuestro vulgar castellano]«. Worauf Quijote, fragend, von der Hoffnung auf Enthüllung der Sprache im Ursprung des Don Quijote getragen: »So ist es denn also wahr, daß es eine Historie von mir [historia mía] gibt, und daß ein Maure und Weiser Verfasser derselben ist [y que fué moro y sabio el que la compuso]?« Was ihm die ausweichende Antwort des Bakkalaureus einträgt: »Dieses ist so sehr die Wahrheit, mein Herr, […] daß ich glaube […]«13. Die Annahme, jener Sprache, in der meine Geschichte – historia mía – geschrieben wurde, in der ich – Don Quijote – zur Welt kam und lebe und zuhause bin, habhaft zu werden, geht leer aus. Don Quijotes Vorsatz, Sanchos Entzifferung, Berenjena anstelle von Benengeli, als ein Erratum auszuweisen, zu tilgen und zurückzunehmen, kommt zu spät. Die Historie liegt weder ganz in der arabischen noch ganz in der kastilischen Sprache vor, ohne in der ein oder andern auch nur halb oder halbwegs vorzuliegen. Und ohne die Vermutung völlig auszuschließen, aus der ein oder andern in die ein oder andere übersetzt – oder entwendet – worden zu sein. Genau an dieser Stelle, auf der Schwelle zur Annahme einer vorursprünglichen Bastardisierung aller Schriften aller Sprachen, spielt ein dritter Leser, Ismail El-Outmani, der den Namen Cide Hamete Benengeli so entziffert: Benengeli oder Ben [Sohn]-enegeli bedeute im Arabischen hijo de-bastardo [Sohn eines Bastards]14. Doch auch diese Entzifferung einer vor-, und genauer parababelschen Sprachenmischung oder Sprachverwirrung findet sich im Don Quijote vorgezeichnet, und entstellt. In einer der zahlreichen eingeschobenen, interpolierten Geschichten, die den Verlauf der historia des Don Quijote lenken und ablenken, findet sich auch die Geschichte eines aus arabischer Gefangenschaft in Algier, wo er als Christensklave gehalten worden war, entwichenen Kastiliers, der die Begebenheit seiner Flucht und Entführung einer ihm gewogenen schönen Maurin, die als Verschleierte neben ihm zu sehen ist, in einer Schenke als Fremder unter Fremden zum Besten gibt. Dem Augenblick der Flucht vorangegangen war ein Gespräch des Kastiliers mit dem Vater der jungen Frau, im Garten seines Hauses. Da der Spanier nicht arabisch, der Araber nicht spanisch spricht, geht die Unterhaltung in einer Sprache, aus Sprachen, radebrechend vonstatten, die der Gefangene weiter unten »Bastardsprache [la bastarda lengua]« nennt und weiter oben so beschreibt: »ihr Vater, der mich in der Sprache anredete, die in der ganzen Berberei und auch in Konstantinopel zwischen den Sklaven und Mohren gesprochen wird, und die weder Mohrisch noch Spanisch, noch irgendeine andere Sprache ist, sondern ein Gemisch aus allen Sprachen, mit dem man sich gegenseitig versteht [su padre, el cual me dijo en lengua que en toda Berbería, y aun en Constaninopla, se habla entre cautivos y moros, que ni es morisca, ni castellana, ni de otra nacíon alguna, sino una mezcla de todas las lenguas, con la cual todos nos entendemos15. Die Sprache im Garten, die zwischen Gefangenen und Mauren,16 also zwischen Christensklaven und arabischen Muslimen gesprochen wird, weder Sprache der Morisken noch Kastilisch, ist, wie es im spanischen Text heißt, Sprache keiner Nation: es ist die ungeborene und ungewordene, ungezeugte Sprache keines Sprechers dieser Sprache, die alle sprechen, aber keinem eignet. Keine Sprache unter Sprachen und keine Sprache aus Sprachen, sondern ein Gemisch – mezcla – aller Sprachen. Es ist das Fremdsprachige – aljamiado – des Don Quijote, das an die Sprachfremde aller Sprachen rührt: dass keine Sprache Sprache ihres Orts ist, sondern im Augenblick ihres Zustandekommens, der Besetzung ihres Orts, sich bei sich zu finden, sich bei sich nicht findet. Aussetzt: in Desokkupation verwickelt. Die Auskunft des Gefangenen, das Kauderwelsch, in dem Araber und Spanier, im Gespräch, voneinander hören, sei eine Bastardsprache, greift zu kurz. Es ist nicht nur keine National-, geschweige denn Internationalsprache, sondern eine ins Kaum ihres Da (oder Fort) verwickelte, die, vor die Distinktion in reine und unreine Sprachgeburt, und noch vor deren Ungeborenheit zurück, noch von der Ungezeugtheit aller Sprachen zu zeugen außerstande bleibt. Niemand zeugt für die Gezeugtheit einer ins Da ihres Jetzt und Jetzt ihres Da erwachsenen Sprache. Niemand fürs Da ihres Fort: einer verschollenen, für abgestorben oder tot gehaltenen. Niemand zeugt für deren Ungezeugtheit. Niemand zeugt für sich: für niemand. Niemand für dies für. Für dies. Dies Dies …

Zum letzten Mal ist von Geborenheit im Don Quijote im Anschluss an den Bericht vom Tod Alonso Quijanos (nachdem er den Namen don Quijote de la Mancha abgelegt hat) auf dem letzten Blatt des zweiten Bands die Rede. Es sind Worte, die »der verständige Cide Hamete […] nun zu seiner Feder [sagt] [dijo a su pluma]: ›Hier sei an diesen Nagel und ehernen Haken aufgehangen, du, ich weiß nicht, ob gut geschnitten, ob schlecht gespitzt, meine Feder, wo du viele Jahre [luengos siglos: für Jahrhunderte] leben wirst‹«: desocupada pluma. Müßige Feder. Sollten aber »übermütige und boshafte Geschichtsschreiber [historiadores]« kommen, sie vom Nagel und in Gebrauch zu nehmen, so möge sie den Waghälsen warnend Bescheid geben. In Worten, die er seiner Feder in die Feder diktiert, als schriebe seine Feder, leicht, nach Jahrhunderten, jeder Hand abhanden, keinem Hier und keinem Jetzt anvertraut, ins Blaue, dies: »Für mich allein ward Don Quixote geboren und ich für ihn [Para mí sola nació don Quijote, y yo para él], er verstand zu handeln und ich zu schreiben; wir gehören beide einander an [solos los dos somos para en uno17. Doch nicht nur der vermeintliche Verfasser, auch die Feder kommt abhanden. Nicht, dass beide je da-, je fort-, jemals -gewesen wären. Je unbesetzter – desocupado –, unbesetzt von Autoren, Editoren, Helfern und Helfershelfern, Interpreten Lesern Übersetzern, und unbesetzt noch von der Desokkupation selbst, aber auch von partikularen und Universalsprachen ihres Orts, sei das ein Winkel in der Welt, das All oder der Unort einer Utopie –; desto besetzbarer, was im Sinn, vor Augen, auf der Zunge, in den Ohren liegt (↑ Universität, unsichtbare). Doch die Verwandlung des unbesetzten Orts – und jede Schrift liegt desocupado vor, jede Sprache müßig nah –, durch den Lesevorgang als An- und Einrücken von Besatzern, in einen vorderhand besetzten, hernach besessenen Ort, findet nicht statt. Die Besetzbarkeit des unbesetzten Orts übersteigt jede Vorstellungskraft. Sie rührt, mit jedem Wort, das im Namen der Besetzung, Übersetzung, Inbesitznahme und Satzung aufgeboten wird, an Unbesetzbarkeit. Don Quijote bleibt als ein lesbares, ungelesen und gelesen, unlesbares Buch zurück. Die Freundlichkeit des Orts – desocupado –, der bleibt, kommt ohne Freund und ohne Feind aus. Dem wäre zu entsprechen.

1 Jacob Grimm: »Über Schule Universität Akademie. Eine in der Akademie der Wissenschaften am 8. November 1849 gehaltene Vorlesung«, in: ders.: Kleinere Schriften 1, Berlin 21879, S. 240–241.

2 Franz Passow: Handwörterbuch der griechischen Sprache, Bd. II/2, Leipzig 51852, S. 1798–1799.

3 Miguel de Cervantes: Don Quijote de la Mancha, hg. v. Francisco Rico, Barcelona 1998, S. 9. Zitate des spanischen Textes nach dieser Ausgabe [im Folgenden: Cervantes, Don Quijote]. Zitate aus Tiecks Übersetzung [Berlin 1799] nach der Ausgabe: Miguel de Cervantes Saavedra: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, übers. v. Ludwig Tieck, Zürich 1987 [Berlin 1799], S. 7 [im Folgenden: Tieck].

4 Cervantes: Don Quijote, a.a.O., S. 10; Tieck, a.a.O., S. 7.

5 Cervantes: Don Quijote, a.a.O., S. 107; Tieck, a.a.O., S. 72. Bekanntlich werden die ersten acht Kapitel des Don Quijote so erzählt, als erzählte der Verfasser des Prologs, was ihm von andern, von Autoren, zugetragen wurde. (So ist im ersten Kapitel, in Klammern, von »Abweichungen unter den Schriftstellern, die von diesen Begebenheiten Meldung getan«, die Rede [diferencia en los autores que deste caso escriben]. Die Abweichungen beziehen sich an dieser Stelle auf Zweifel am Namen des im Titel des Buchs Quijote Genannten; sie schwanken zwischen Quijada und Quesada, gefolgt von dem Hinweis, »aus wahrscheinlichen Vermutungen [conjeturas verisímiles]« sei zu schließen, »daß er sich Quixana [Quijana] nannte«.) Gegen Ende des achten Kapitels aber wird die Erzählung mitten in der Schilderung eines Zweikampfes [batalla] mit den Worten unterbrochen – der eine Zweikampf gleichsam in dem Augenblick zerschlagen, in dem die Kontrahenten im Begriff sind, einander die Köpfe zu spalten –, der Autor dieser Geschichte [el autor desta historia] habe seine Erzählung genau an diesem Punkt mit der Entschuldigung unterbrechen müssen, »daß er nichts Weiteres von Don Quixotes Taten vorgefunden, als was er bereits berichtet habe« [disculpándose que no halló más escrito destas hazanas de don Quijote, de las que deja referidas]. Der zweite Autor dieses Werkes aber [el segundo autor desta obra], an dieser Stelle kommentarlos als der mutmaßliche Leser und Herausgeber der Schrift des ersten eingeführt, habe dem ersten Autor nicht Glauben schenken wollen, weshalb er sich auf die Suche nach übrigen Papieren (anderer Autoren), die vom Fort- und Ausgang der Geschichte berichten, gemacht habe. Was zum Bericht, in Kapitel 9, vom Besuch des Straßenmarktes in Toledo überleitet. Im Text aber bleibt offen, ob die Einführung des namenlosen, gleichsam unbezeugten zweiten Autors durch den ungezeugten Verfasser des Prólogo dem padrastro nur eine Maske vorhält, oder nicht: ob der Verfasser des Prologs von sich so spricht, als spräche er von einem zweiten Autor, also in der dritten Person, oder von einem andern Dritten, seines Orts. Die Suche nach der Identität des einen wie des andern Autors, unter allen anderen Autoren, nach den Masken selbst wie nach den Maskenträgern, franst ins Müßiggängerische aus: in Desokkupation.

6 Ein Echo dieser Stelle, auf dem Straßenmarkt von Toledo, wirft eine Passage im Paris des Second Empire bei Baudelaire, wo Walter Benjamin der Komplizität von Lumpensammler und Poet auf der Spur ist: »Lumpensammler oder Poet – der Abhub geht beide an«. Beide lesen: »[…] der Schritt des Dichters, der nach Reimbeute die Stadt durchirrt […] muß auch der Schritt des Lumpensammlers sein, der alle Augenblicke auf seinem Wege innehält, um den Abfall, auf den er stößt, aufzulesen«. In den Augen der ersten Erforscher des Pauperismus vergrößert Benjamin das Entsetzen, das vom Lumpensammler für den Vorsatz ausgeht, das auflesende Lesen von Wertlosem im Rahmen wissenschaftlicher Beschäftigung – Okkupation – mit ihm auszuwerten, aufzulösen, loszuwerden: »Der Lumpensammler faszinierte seine Epoche. Die Blicke der ersten Erforscher des Pauperismus hingen an ihm wie gebannt mit der stummen Frage, wo die Grenze des menschlichen Elends erreicht sei«. Im Bannkreis der stummen aber spielt noch eine andre Frage: wo die Grenze des Lesens erreicht sei. [Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2, Frankfurt am Main 1974, S. 583 und 521].

7 Als Neuchristen (cristianos nuevos) standen sie, nicht anders als zwangskonvertierte Juden, unter derselben Wendung rubriziert, bei sogenannten
Altchristen (cristianos viejos) im Verdacht, den neuen Glauben nicht wirklich angenommen, den alten nicht wirklich abgelegt zu haben. Konversion findet immer nur als Umbesetzung eines vom Gespenst der Umbesetzung heimgesuchten Ortes, auf dem Sprung zur Unbesetzbarkeit – desocupación – des Ortes, statt.

8 Dass Cide Hamete Benengeli, der in Kapitel 22 des ersten Bandes als »der arabische und manchanische Geschichtsschreiber« [autor arábigo y manchego] vorgestellt wird, mit der Historia de don Quijote de la Mancha keine in arabischer Sprache verfasste Geschichte, sondern ein in arabischen Lettern verfasstes Stück Aljamiadoliteratur hinterlässt, ist wiederholt erwogen worden. Historische Gründe für die Plausibilität einer solchen Annahme verzeichnet Carroll B. Johnson: »Most probably, Sidi Hamid Benengeli’s manuscript is not written in the Arabic language […]. For the text to have been written in Arabic in La Mancha, Sidi Hamid Benengeli would have had to have been a participant in the brilliant culture of Muslim al-Andalus which was extinguished politically in 1492 and which began to be squeezed to death culturally in 1499, when Fernando el Católico abrogated the promises he had made to his new Muslim subjects. An Arabic text of the history of Don Quijote, whose exploits occur in the 1590s and after, would have to antedate the events it recounts by at least a century. […] This […] leads to the conclusion that the manuscript the Second Author discovers in Toledo is not in fact written in Arabic, but in Aljamiado, a dialect of Spanish spoken by the Morisco community and written in Arabic script. For purposes of comparison we might say that Aljamiado is to Spanish as Yiddish is to German. […] The word derives from Arabic ayamiya ›lengua extranjera [Fremdsprache],‹ in turn derived from a’yam ›bárbaro, extranjero [barbarisch, fremd].‹« [Carroll B. Johnson: Transliterating a Culture: Cervantes and the Moriscos, aus dem Nachlass hg. v. Mark Groundland, Newark 2010, S. 174–176.] Wie unschlüssig der Eindruck bleibt, den eine außerarabische Sprache – Aljamiado –, in arabischer Handschrift verzeichnet, hinterlässt, wird durch den Vergleich unterstrichen, der das Unschlüssige in der Schlussfolgerung tilgen soll. Denn in welchem Verhältnis Kastilisch und Aljamiado zueinander stehen, wird durch den Hinweis, es sei mit dem Verhältnis zwischen Deutsch und Jiddisch zu vergleichen, nicht geklärt. Außer der Anspielung auf den Umstand, dass Deutsch und Jiddisch, wie Aljamiado und Kastilisch, als zwei Mundarten angesehen werden können und, wie Jiddisch in hebräischen, Aljamiado in arabischen Lettern verzeichnet steht, wird darüber, wie genau das Verhältnis zwischen Aljamiado und Kastilisch aufzufassen sei, wenn es wie das Verhältnis zwischen Deutsch und Jiddisch aufzufassen sei, nichts gesagt. Der Verweis auf die apotropäische Geste der Abwehr fremder Sprachen, die für die Wahl des Namens aljamía verantwortlich zu zeichnen scheint, greift zu kurz. Als ein kastilischer Dialekt in arabischen Lettern, präzisiert Aljamía das Fremde, das alle Sprachen, insofern alle Sprachen als Fremdsprachen in ein (undurchsichtiges) Verhältnis zueinander treten, teilen, zur Sprachfremde im Aufriss aller Sprachen. Das aus arabischen Lettern wiederkehrende Echo eines spanischen Klangbilds weckt, und sei es für den Bruchteil eines Augenblicks, den Eindruck, keiner Sprache anzugehören. Genau aus diesem Grund – ohne Grund – steht der Eindruck im Augenblick der Wahrnehmung für das Knüpfen von Klangfäden in alle Sprachen offen. Franz Kafka streift ihn in Worten, die das Verhältnis zwischen Deutsch und Jiddisch angehen, so: »Die Verbindungen zwischen Jargon und Deutsch sind zu zart und bedeutend, als daß sie nicht sofort zerreißen müßten, wenn Jargon ins Deutsche zurückgeführt wird […]. Durch Übersetzung […] ins Deutsche wird er vernichtet. ›Toit‹ zum Beispiel ist eben nicht ›tot‹ und ›Blüt‹ ist keinesfalls ›Blut‹« [Franz Kafka: »Einleitungsvortrag über Jargon«, in: ders.: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt/Main 1993, S. 192]. Der Grund für das Verhältnis zwischen Blüt und Blut liegt weder in dem einen noch in dem andern Wort der ein oder andern Sprache verbindlich beschlossen, sondern – in und zwischen beiden lose –, keiner Sprache eigen, offen.

9 Cervantes: Don Quijote, a.a.O., S. 108f.; Tieck, a.a.O., S. 73. Die drei abweichenden, einander ausweichenden Wendungen volviendo de improviso – volver – traducir übersetzt Tieck alle durch übersetzen, an einer Stelle, im kastilischen Text, die offen lässt, ob hier (im Namen der Okkupation) vom Setzen als Ersetzung, von Besetzung und Übersetzung zwischen zwei Sprachen, die Rede sein kann.

10 Miguel de Cervantes Saavedra: El ingenioso hidalgo don Quijote de la Mancha, hg. und mit Anmerkungen versehen v. Francisco Rodríguez Marín [Acht Bde., Madrid 1911–1913], Band 1, 6. Auflage, Madrid 1952, S. 219 (Anmerkung).

11 Leopoldo Eguílaz y Yanguas: Notas etimológicas á »El Ingenioso Hidalgo D. Quijote de la Mancha«, in Homenaje á Menéndez y Pelayo, Bd. 2, Madrid 1899, S. 132.

12 Cervantes: Don Quijote, a.a.O., S. 645; Tieck, a.a.O., S. 509–510. In seinem Aufsatz »Modos del hacedor de nombres cervantino: el significado de Cide Hamete Benengeli« [(1994), Indiana Journal of Hispanic Literatures 2, S. 49–62] unterstreicht Julio Baena, »für Sancho bedeute Benengeli nicht ›berenjena‹ [Aubergine], sondern klinge nur so«. Dieses, aus einem arabischen (oder einem ins Arabische aus dem Persischen und Sanskrit entlehnten) Wort gezogene, kastilisch anmutende Klangbild aber füllt Sancho sogleich mit der Bedeutung des entsprechenden spanischen Worts, wenn er gegen den Einwand Quijotes, es handle sich um den Namen eines Mauren, in Benengeli mithin um ein arabisches Wort oder eine arabische Wortzusammensetzung, erklärt: »[…] ich habe mir sagen lassen, daß die meisten Mauren große Freunde von berenjenas sein sollen«. Erst diese Antwort Sanchos, die den arabischen Anklang in ein kastilisches Klangbett oder Klangbeet steckt und am spanischen Wort, das er aus Benengeli zieht, festhält und Gefallen findet, präzisiert seine Assoziation zur Lektüre eines Aljamiadowortes: in einer Klangwolke, die aus arabischen Lettern aufgezogen scheint, ein kastilisches Wort zu entziffern.

13 Cervantes: Don Quijote, a.a.O., S. 647; Tieck, a.a.O., S. 511.

14 Ismail El-Outmani: »El morisco Cide Hamete Bejarano, autor del Quijote«, in: Espéculo. Revista de estudios literarios 30, 2005.

15 Cervantes: Don Quijote [Bd. 1, Kap. 41], a.a.O., S. 474 und 476; Tieck, a.a.O., S. 382 und 384.

16 Tieck entspricht dem kastilischen Wort moro, das den Mauren nennt, immer durch das deutsche Wort Mohr. Diesem Wort bescheinigt Johann Christoph Adelung in seinem Grammatisch=kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (Wien 1807, Bd. 3, Spalte 261–262) große Zweydeutigkeit: »ein Einwohner des ehemahligen Mauritaniens, wegen der braunen oder bräunlich gelben Gesichtsfarbe; aus dem Lat. und Griech. Maurus. Nachdem diese aus Afrika in das westliche Europa eingefallen waren und sich daselbst festgesetzet hatten [Adelung erzählt die Geschichte einer Okkupation], nannte man erst diese, und hernach in der spätern Zeit nicht nur alle Muhamedaner in dem südlichen Theile Asiens und auf den Küsten und Inseln des Indischen Meeres, sondern auch die braunen Äthiopier wegen dieser ihrer Gesichtsfarbe Mohren. Die letztern kommen unter diesem Nahmen in der Deutschen Bibel mehrmahls vor. Wegen der großen Zweydeutigkeit dieses Wortes hat man in den neuern Zeiten angefangen, die Einwohner des ehemahligen Mauritaniens, oder die gesittetern nördlichen Afrikaner Mauren zu nennen, um sie von den Mohren der folgenden Bedeutung zu unterscheiden [»2. Ein Mensch von ganz schwarzer Gesichtsfarbe mit krausen wolligen Haaren und dicken aufgeworfenen Lippen, dergleichen die Bewohner des südlichen Afrika, am Senegal, in Neu=Guinea und Congo, die Einwohner von Monomotapa, Malabar, Malakka und einigen südlichen Inseln sind […]«]; die Muhamedaner in dem südlichen Asien aber, welche größten Theils Araber von Herkunft sind, nennet man richtiger Muhamedaner, ungeachtet sie in vielen Reisebeschreibungen noch immer den Nahmen der Mohren führen«. In Tiecks Übersetzung steht Mohr, ohne zustandezukommen, zögernd zwischen Beibehaltung – aus Treue zum Klang- und Schriftbild des spanischen moro, als entzifferte er aus den lateinischen Lettern des kastilischen Textes ein deutsches Aljamiadowort – und Ersetzung, ein und desselben Lehnworts, moro im Spanischen, Mohr im Deutschen, beide »dem Lat. und Griech. Maurus« entlehnt, also weder ganz kastilisch noch ganz deutsch. Moro, Mohr – und Maure – stehen, entlehnt, also unberechenbar geneigt, unhaltbar, als Zeugen jenes Sprachgemisches mezcla de lenguas–, das im Garten gesprochen wird.

17 Cervantes: Don Quijote, a.a.O., S. 1221–1223; Tieck, a.a.O., S. 1010–1011. Zur Entzifferung von Allusionen auf das Schreibrohr Gottes in Sure 68 des Koran, an dieser Stelle, siehe Luce López-Baralt: »The Supreme Pen (Al-Qalam Al-A’la) of Cide Hamete Benengeli in Don Quixote«, übers. v. Marikay McCabe), in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 30, 2000, S. 505–518. – Die Feder Cide Hamete Benengelis trägt Spuren der in Sure 68 verzeichneten muslimischen Feder des Geschicks [Al-Qalam Al-A’la]: was geschrieben steht, steht geschicklich: ihm steht alles kommende Geschehen unverrückt und unausweichlich eingeschrieben … Diese Apologie der Okkupation eines Orts, der Schrift und Schicksal amalgamiert, wird im Don Quijote dadurch aufgelöst, dass ungewiss bleibt, ob die Feder arabische Worte in arabischen Lettern verzeichnet – hernach ins Kastilische übersetzt –, oder kastilische Worte in arabischen Lettern, nach Art klandestiner Aljamiadomanuskripte. Luce Lopez-Baralt streift diese Schwebe, die jedes Wort in beiden Teilen des Don Quijote, alles Geschriebene, mithin auch alles, was – weil geschrieben – geschicklich steht, ins teilbare Zeichen der Desokkupation rückt, wo es heißt: »So common is the Muslim leitmotiv of this pen of destiny that I have documented it on more than one occasion in the clandestinely written and preserved codices of the Aljamiado Moriscos. Cervantes knew the Moriscos at first hand, for he portrays one of them frequenting the Alcaná of Toledo ready to translate old Arabic manuscripts«. Und eine Anmerkung zu dieser Stelle präzisiert: »The Moriscos were the Moorish converts to Christianity who remained in Spain after the 1492 Reconquest of Granada [Anspielung auf die Geschichte einer Rückeroberung: Re-Okkupation]. The adjective Aljamiado derives from aljamía (al-ajamiyya ›foreign‹), the word the Moors used to mean ›Castilian‹, and which can also refer to Morisco Spanish writings penned in Arabic characters. The codices of the Aljamiado Moriscos I refer to are of this sort. References in Aljamiado manuscripts to the concept of the Pen of Destiny that writes without ink and with no hand guiding it appear in many places, including the legend of ›Kitab al-anwar‹ (Book of Lights) of Abu al-l Hasan al-Bakri«. Die unterschwellige Erinnerung, auf dem letzten Blatt des Don Quijote, an eine zweischneidig schreibende, lichte Feder, die weder in die eine noch in die andere Sprache vertieft schreibt, setzt mit dem Glauben daran, was – und in welcher Sprache es – geschrieben steht, auch den Glauben an die ins Geschriebene verankerten Geschichten und Geschicke aus. Sie lichtet sie.

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Thomas Schestag

ist Privatdozent für Germanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und hat Gastprofessuren in den USA und in Europa inne. Er hat zahlreiche Publikationen zur Literatur und Philologie, Übersetzungs- und Namenstheorie sowie zum Grenzgebiet zwischen Poesie, Philosophie und Politik verfasst.

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»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

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