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Erich Ribolits: Bildung, kritische
Bildung, kritische
(S. 47 – 58)

Kritik als Widerstand gegen das Regiertwerden

Erich Ribolits

Bildung, kritische

PDF, 12 Seiten

Königsweg zu einem veränderten gesellschaftlichen Sein?

Der französische Philosoph Michel Foucault hat im Rahmen eines Vortrags vor der Société française de philosophie am 27. Mai 1978 erstmals einen Gedanken ausgeführt, der in der Folge zentrale Bedeutung in seinem Werk bekommen hat: Kritik hat ihre Grundlage im Wunsch, »nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert« zu werden.1 Seine These, dass Kritik – sofern sie diesen Namen zurecht führt – im Widerstand gegen das Regiert-Werden kulminiert, fußt in seiner Erkenntnis, dass sich Macht und Herrschaft in nach-antiken, christlichen Gesellschaften in anwachsendem Maß in Form von »Menschenführung« artikulieren – Herrschaft wird mit der Vorstellung des prinzipiell lenkungsbedürftigen Individuums legitimiert. Foucault führte dazu im genannten Vortrag aus: »Die christliche Kirche […] hat die einzigartige und der antiken Kultur wohl gänzlich fremde Idee entwickelt, dass jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse: dass es sich zu seinem Heil lenken lassen müsse und zwar von jemandem, mit dem es in einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei.«2

Foucault argumentiert, dass sich die »Kunst, Menschen zu regieren« bis in die mittelalterlichen Gesellschaften nur auf das relativ eingeschränkte Gebiet der Führung geistlicher Gruppen bezog, beginnend mit dem 15. Jahrhundert, aber eine massive Ausweitung erfahren hat. Die Menschenregierungskunst verließ zunehmend die Sphäre ihrer religiösen Herkunft und wurde quasi zum gesellschaftlichen »Megathema«, das in nahezu jedem gesellschaftlichen Bereich seinen Ausdruck fand. Die nunmehr auftauchenden Fragen lauteten: »wie regiert man die Kinder, wie regiert man die Armen und die Bettler, wie regiert man eine Familie, ein Haus, wie regiert man die Heere, wie regiert man verschiedene Gruppen, die Städte, die Staaten, wie regiert man seinen eigenen Körper, wie regiert man seinen eigenen Geist?«3 Parallel und in Opposition zur Totalisierung des Regierungsanspruchs entstand im Sinne einer Antithese zur Vorstellung des führungsbedürftigen Individuums der Wunsch, sich dem Regiert-Werden zumindest partiell zu entziehen. Dabei stand allerdings gar nicht so sehr der Widerstand gegen den allumfassenden Regierungsanspruch als solchem im Vordergrund, sondern vielmehr der Wunsch, nicht in der aktuell gegebenen Form, nicht im Namen spezifisch angewandter Prinzipien und nicht von den jeweils wirkenden Exponenten der Macht regiert zu werden. Der sich herausbildende Widerstand gegen die Regierungsentfaltung entzündete sich – wie Foucault es ausdrückt – am Anspruch, »nicht auf diese Weise« beziehungsweise »nicht dermaßen regiert zu werden«.4

Der Widerstand gegen das Regiert-Werden zeigt sich in der Folge im Anspruch, das, was die Macht als wahr erklärt, zu hinterfragen, beziehungsweise etwas zumindest nicht bloß deshalb schon als wahr anzunehmen, »weil eine Autorität es als wahr vorschreibt«. Kritik heißt, dem durch die Autorität verlangten Gehorsam eine universale und unverjährbare, eine dem aktuell als richtig Geltenden übergeordnete Wahrheit entgegenzusetzen, dem sich jede Regierung beugen müsse. Widerstand gegen das Regiert-Werden artikuliert sich demgemäß in der Haltung: »etwas nur an[zu]nehmen, wenn man die Gründe es anzunehmen selber für gut befindet«.5 Der Wunsch, nicht regiert werden zu wollen, ist somit aufs Engste mit der Erkenntnis verknüpft, dass Macht und das aktuell als wahr Geltende zwei Seiten derselben Medaille sind, dass Wahrheit und Macht also in einem untrennbaren Wechselverhältnis stehen. Dementsprechend gipfelt die Argumentation von Foucault in der Aussage: »Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen – dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In einem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung.«6

An diesem Punkt seiner Argumentation schlägt Foucault explizit eine Brücke zum Text »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von Immanuel Kant. Tatsächlich scheint die Begriffsbestimmung von Kritik als Widerstand gegen das Regiert-Werden in hohem Maß mit der Kant’schen Vorstellung des selbständig seinen Verstand gebrauchenden Individuums zu korrelieren. Kant hat in seinem berühmten Text Aufklärung ja als das selbstbewusste und mutige Heraustreten aus dem Zustand der Unmündigkeit definiert; einer Unmündigkeit, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Wahrheiten, auf die sich die Autorität der Macht stützt, unhinterfragt akzeptiert werden. Unmündigkeit wird von ihm als das durch einen Mangel an Mut bedingte – und somit selbstverschuldete – Unvermögen definiert, sich seines Verstandes autonom, ohne Anleitung durch andere, zu bedienen. In diesem Sinn besteht der Wahlspruch der Aufklärung für Kant in der unendlich oft zitierten Aufforderung: »Sapere aude – Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«7 Ein Satz, der fast ausschließlich als Freiheitsappell interpretiert wird, kaum je allerdings im Sinne der von Kant an anderer Stelle im hier behandelten Text und auch in anderen Teilen seines Werkes ausdrücklich hervorgestrichenen Einschränkung der kritischen Haltung gesehen wird. Nicht zufällig erscheint es Foucault wichtig, in seiner Bezugnahme auf den Kant’schen Text darauf hinzuweisen, dass der Freiheitsappell in diesem eine spezifische Relativierung erfährt, da für Kant »Autonomie keineswegs dem Gehorsam gegenüber dem Souverän entgegensteht«.8

Die vehement eingeforderte Mündigkeit birgt nach der Meinung von Kant in sich nämlich keineswegs einen selbstverständlichen Konnex zu unbotmäßigem Verhalten gegenüber der Macht. Dadurch ist es für ihn möglich, den autonomen Vernunftgebrauch zu idealisieren und im gleichen Atemzug völlige Loyalität gegenüber dem herrschenden System und seinen Vertretern zu fordern. Er wendet gewissermaßen einen argumentativen Trick an, um die zwei diametral entgegengesetzten Positionierungen gegenüber Macht und Herrschaft – Kritik und Unterordnung – unter einen Hut zu bringen. Er spaltet das bürgerliche Individuum in zwei Aspekte auf; einerseits einen seinen Verstand mündig unter dem Aspekt einer Teilhabe an der res publica gebrauchenden, gemeinwohlorientierten Citoyen und andererseits einen an den materiellen Bedingungen seines Überlebens orientierten und demgemäß im Sinne des Systems funktionierenden Bourgeois. Sein Appell zum Hinterfragen der die Macht in ihrem Bestand absichernden Wahrheiten richtet sich ausschließlich an den Citoyen-Anteil des bürgerlichen Individuums, vom Bourgeois-Anteil fordert er nämlich ausdrücklich die bedingungslose Unterordnung unter die real gegebenen Machtverhältnisse. Ein wenig sarkastisch lässt sich argumentieren, dass Kant wohl ein früher Anhänger der Vorstellung einer »Multiplizität der Psyche« war. Er ging allerdings nicht bloß davon aus, dass im aufgeklärten Individuum wohl häufig »zwei Seelen« – eine kritische und eine angepasste – um die Vormachtstellung kämpfen. Die Annahme zweier einander diametral entgegengesetzter Persönlichkeitsanteile war nachgerade die Grundbedingung seiner Theorie des aufgeklärten Individuums.

Tatsächlich kommen die Begriffe Citoyen und Bourgeois im Text »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« nicht vor, allerdings verwendet Kant diese Termini sehr wohl an anderer Stelle seines Werks.9 Im hier behandelten Text artikuliert er das in diesen Begrifflichkeiten zum Ausdruck kommende Prinzip stattdessen durch eine Differenzierung zwischen öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft. Dabei bezeichnet er »unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht«.10 Den privaten Gebrauch derselben dagegen nennt er denjenigen, den jemand »in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf [sic!]«.11 Mit öffentlichem Vernunftgebrauch wird der um das Allgemeinwohl besorgte Staatsbürger – also der Citoyen – angesprochen. Dieser ist aufgerufen sich seiner kritischen Vernunft zu bedienen und jene Wahrheiten zu hinterfragen, die von den Autoritäten vorgegeben werden und deren Macht legitimieren. Die sich aus dem Hinterfragen der machtlegitimierenden Wahrheiten möglicherweise ergebende Kritik hat nach Kant allerdings strikt auf der Ebene der »Freiheit der Feder« zu bleiben. Gefordert ist bloß ein »intellektuelles Appellieren« an die Träger der Macht, keinesfalls aber eine darüber hinausgehende, diese tatsächlich in ihrem Bestand gefährdende Aktion. Dem unter der Not des systemadäquaten Überlebens stehenden Privatbürger – dem Bourgeois – ist in Erfüllung seiner Funktion im bürgerlichen Staat nach Kant dagegen nicht einmal ein derartiges – wie er es nennt – »Vernünfteln« gestattet. Ihm ist bloß der funktionale Gebrauch der Vernunft erlaubt, sein Denken hat strikt im Rahmen der Vorgaben des Systems zu bleiben. Wie Kant in aller Deutlichkeit ausführt, hat sich der mit einer Funktion an das System gebundene Bürger den Vorgaben der Macht auch dann bedingungslos unterzuordnen, wenn diese aus Wahrheiten abgeleitet sind, die er als ein sich seiner Vernunft selbständig bedienender (Staats-)Bürger möglicherweise als falsch erkannt hat.12

Korrelierend zu seiner Aufspaltung des bürgerlichen Individuums in den selbständig seinen Verstand gebrauchenden Citoyen und den den Vorgaben der Macht verpflichteten Bourgeois unterscheidet Kant ausdrücklich auch zwischen zwei Formen der Freiheit: einer »inneren« und einer »äußeren«. Äußere Freiheit hat für ihn mit den konkreten gesellschaftlich definierten Daseinsbedingungen zu tun; da geht es um vorgegebene rechtliche, soziale oder politische Umstände, durch die das Leben von Menschen bedingt ist. Innere Freiheit dagegen ist für ihn ein Zustand, in dem ein Mensch jene Zwänge überwindet, mit denen er sich selbst in bestimmte Verhaltensweisen zwingt; da geht es um Triebe, Erwartungen, Gewohnheiten oder Konventionen. Mit Bildung – als jenem Begriff, mit dem die Herausbildung des selbständigen Vernunftgebrauchs umschrieben wird – wird nach Kant bloß innere Freiheit angestrebt. Äußere Freiheit dagegen ist für ihn dezidiert nicht das Ziel von Bildung! Diesbezüglich formuliert er unmissverständlich, dass der Mensch im, wie er es bezeichnet, »bürgerlichen Amte«, also in Ausübung einer Funktion in der Gesellschaft, bloß Werkzeug sei und deshalb gehorchen müsse.13 Mit dieser Dichotomisierung von Freiheit definiert Kant das wohl wesentlichste und gleichzeitig am häufigsten verdrängte Bestimmungsmerkmal jener Idee menschlicher Weiterentwicklung, die unter dem Begriff Bildung in der Folge Furore gemacht hat und die den Umgang mit Lernen in den deutschsprachigen Ländern Europas bis heute massiv prägt: Bildung meint Selbstbeherrschung, nicht jedoch Widerstand gegen politisch auferlegte Herrschaft!

In letzter Konsequenz überschreitet Kant mit seiner Theorie des Erlangens von Mündigkeit durch den autonomen Vernunftgebrauch die Vorstellung des regierungsbedürftigen Individuums somit nicht wirklich. Trotz seiner Aufforderung, Mut zum autonomen Gebrauch des Verstands zu entwickeln, bleibt er im Prinzip der von Foucault aufgezeigten, seit Beginn der Neuzeit herausgebildeten Auffassung verhaftet, dass jedes Individuum sein ganzes Leben hindurch »von jemandem, mit dem es in einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei« gelenkt werden müsse. Kant fordert bloß neben dem Recht auch noch die Verpflichtung zur freien Meinungsäußerung ein – konterkariert allerdings um die Dimension, dass sich diese nur in jenen Bahnen bewegen darf, die den geordneten Ablauf der Machtausübung nicht stört. Die geltenden und – das ist ganz wesentlich – mit den aktuellen Machtstrukturen untrennbar verbundenen Wahrheiten seien zwar durch den selbstbewussten Gebrauch des eigenen Verstandes kritisch zu hinterfragen, letztendlich allerdings nur, um die gewonnenen Erkenntnisse den Regierenden quasi untertänigst zur Beurteilung zu unterbreiten. Denn auch wenn Kant den öffentlichen Vernunftgebrauch damit definiert, dass jemand als Gelehrter dem – wie er schreibt – »eigentlichen Publikum, nämlich der Welt«14 seine Erkenntnisse zur Beurteilung vorlegt, fordert er dabei stets absoluten Gehorsam gegenüber den Machthabern. Es würde somit herzlich wenig helfen, wenn derart unters Volk gebrachte, die geltenden Wahrheiten aushebelnde Erkenntnisse massenhafte Befürworter fänden. Denn unabhängig von der Kraft der Überzeugung, die von ihnen ausgehen mag, hätten die Menschen nach Kant nämlich weiterhin so lange im Sinne der »offiziellen Wahrheiten« zu funktionieren, als die »neuen Wahrheiten« nicht in den Strukturen der Macht integriert wären.

Im Kant’schen Ideal des bürgerlichen Individuums, das sich durch eine schizophrene Gleichzeitigkeit von Untertänigkeit und Freiheit bestimmt, spiegelt sich eine Widersprüchlichkeit, die die bürgerliche Gesellschaft insgesamt durchzieht. Als Repräsentant der Macht tritt der Staat als Träger der Verantwortung für das Allgemeine, für das Gemeinwohl, für das Gattungsleben der Menschen auf und ist zugleich Garant der Möglichkeit der Staatsbürger, ihre egoistischen Individualinteressen verfolgen zu können. In derselben Form, wie das bürgerliche Individuum in zwei dichotome Aspekte zerrissen ist, verkörpert auch der bürgerliche Staat zwei widersprüchliche Prinzipien und ist gleichermaßen Adressat des Citoyens als auch des Bourgeois. Daraus folgt die im bürgerlichen Staat von allem Anfang an strukturell angelegte Diskrepanz zwischen zwei großen – in der Regel mit dem Affix »links« und »rechts« versehenen – Fraktionen: Die eine, die den Staat in seinen Gemeinwohlansprüchen möglichst einschränken will, weil ihre Angehörigen – aufgrund ihrer entsprechenden Möglichkeiten – möglichst uneingeschränkt über Güter, Einkünfte und Macht verfügen wollen und die andere, die den Staat – aus der konträren Form der Betroffenheit – in seinen Gemeinwohlansprüchen möglichst ausdehnen will. Im Sinne der vorher skizzierten grundsätzlichen Akzeptanz der Macht appellieren beide Fraktionen an den Staat und versuchen mit den Mitteln bürgerlich-demokratischer Einflussnahme – Appelle, Proteste, Parteien, Gewerkschaften, Streiks oder Ähnlichem – die Zustände im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen.

Öffentlich organisiertes Lernen war stets in dieses Spiel divergierender Interessen eingebunden. Seit der Besuch von Bildungseinrichtungen für alle verpflichtend ist, wurde dort stets sowohl das Gemeinwohldenken des Citoyens beschworen, als auch der um seinen egoistischen Vorteil bedachte Bourgeois angesprochen, der unter dem Druck steht, sich auf Basis seiner mehr oder weniger gut ausgebildeten Arbeitskraft dem Konkurrenzkampf um gesellschaftliche Positionen stellen zu müssen (↑ Arbeitsmarkt). Was hierzulande unter dem wohlklingenden Titel Bildung firmiert, war stets der Dichotomie von egoistischem Eigennutz und Mitverantwortung für das Gesellschaftsganze unterworfen. Schule, Berufsausbildung und Universität dienten – selbstverständlich mit unterschiedlicher Gewichtung und auf unterschiedlichem Niveau – immer dem Ziel, einerseits Arbeitskräfte heranzuziehen, die für die ökonomische Verwertung brauchbar sind (↑ Employability), und vermittelten andererseits immer den bildungsideologischen Überbau des kritisch-mündigen Individuums, jenen ideologischen Kitt, durch den die bürgerlich-demokratische Gesellschaft im Innersten zusammengehalten wird. Zum einen war es immer das erklärte Ziel organisierten Lernens, Individuen für den Konkurrenzkampf des Verwertungssystems fit zu machen, sie also zu befähigen, die eigene gesellschaftliche Position unter Inkaufnahme der Verschlechterung der Position von anderen zu verbessern (↑ Student im Sumpf). Zum anderen wurde im Bildungssystem stets das mündige Subjekt beschworen, das seinen Verstand autonom einsetzt und im Rahmen demokratischer Möglichkeiten gerechte Bedingungen des sozialen Lebens für alle einfordert.

Das gilt, obwohl pädagogische Theoretiker und Praktiker zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlicher Sichtweise der Dinge durchaus einen der beiden Aspekte mehr oder weniger betont haben. Auch den Vertretern der kritisch-emanzipatorischen Strömungen im Erziehungs- und Bildungsgeschehen, die ab Ende der 60er des vorigen Jahrhunderts eine Zeit lang von sich reden machten, war klar, dass ein Lernen, das im Kontext von Staat und der Notwendigkeit von Menschen stattfindet, früher oder später qua einer entsprechend qualifizierten Arbeitskraft ihr wirtschaftliches Überleben sichern zu müssen, dazu dient, Menschen dem politisch-ökonomischen System zu unterwerfen. Allerdings hatte man die Hoffnung, dass spezifische äußere und innere Bedingungen der Organisation des Lernens sowie ein spezifisches Verhalten der Lehrenden bei den Lernenden, die Erkenntnis ihrer gesellschaftlich bedingten Unfreiheit fördern und den Wunsch auslösen würden, sich von den einschränkenden Bedingungen ihrer Existenz zu befreien. Pointiert ausgedrückt, war es somit das Ziel der emanzipatorischen Pädagogik, Menschen zu helfen, ihr »falsches Bewusstsein« im Rahmen einer Einrichtung zu überwinden, die dafür da ist, genau dieses hervorzurufen. Die Ursache dieser einigermaßen absurden Annahme kann darin gefunden werden, dass auch die kritisch-emanzipatorische Pädagogik nie den Boden des mit dem demokratisch-politischen System verknüpften bürgerlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes verlassen hat. Dieses System baut aber sowohl auf der am Beispiel des Textes »Was ist Aufklärung« von Immanuel Kant skizzierten, in einen Citoyen- und einen Bourgeois-Anteil aufgespaltenen Persönlichkeit, als auch auf der Vorstellung auf, dass es zwar Aufgabe des Citoyen-Anteils sei, die dem status quo zugrundeliegenden Wahrheiten zu hinterfragen, die aus dem Hinterfragen gewonnenen Erkenntnisse aber nur im Rahmen der durch die Macht gewährten – demokratischen – Möglichkeiten zum Ausdruck gebracht werden dürfen. Das mündige Individuum ist damit letztendlich gefangen in den Fesseln der Loyalität gegenüber dem bürgerlich-demokratischen System.

So lange die Verwertungsökonomie anwachsenden Wohlstand für alle zu suggerieren imstande war, ließ sich die Illusion aufrecht erhalten, dass das im Mündigkeitsbegriff mitschwingende Freiheitsversprechen tatsächlich die Möglichkeit in sich bergen würde, innerhalb des gegebenen politisch-ökonomischen Systems humane Lebensbedingungen für alle erreichen zu können (↑ Korporatisierung). Es war dadurch möglich, zumindest in den industriellen Kernzonen die vordergründigsten inhumanen Effekte des Systems, welches alles und jeden nur in der Dimension des Werts in den Blick zu nehmen imstande ist, zu übertünchen. Die für verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedlich hohen Steigerungen des materiellen Wohlstands wurden zwar primär durch die rasante Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, erbärmliche Lebensbedingungen in der sogenannten dritten Welt und dem Verpfänden zukünftig erhoffter Wertschöpfung erkauft. Dennoch ließ sich damit die Hoffnung am Leben halten, dass (auch) unter Aufrechterhaltung der Verwertungsökonomie irgendwann ein menschenwürdiges Dasein für alle möglich werden könnte. Derzeit untergräbt die durch technologisch bedingte Produktivitätsfortschritte und globale Wirtschaftsmöglichkeiten seit einigen Jahren immer deutlicher zutage tretende Verwertungskrise diese Hoffnung allerdings nachhaltig.

Durch die Informations- und Kommunikationstechnologie ist das System des Erzielens von Profit auf Basis der Verwertung menschlicher Arbeitskraft in eine nachhaltige Krise geraten. Die unmittelbare Folge dieser Krise ist ein massives Ansteigen der Konkurrenz auf allen Ebenen der Gesellschaft. Konkurrenz war zwar von Anfang an ein bestimmendes Merkmal der Verwertungsökonomie, allerdings wird diese durch die aktuelle Entwicklung ins Hypertrophe gesteigert. Konkurrenz wird zur alles überstrahlenden Größe im sozialen Verhalten der Menschen und im politischen Vorgehen von Regionen, Staaten und Staatenverbünden. Diese Dominanz des Konkurrenzdenkens steht in direktem Gegensatz zur Idee des um das Gemeinwohl besorgten Citoyen-Anteils des bürgerlichen Individuums. Dagegen erfährt der Bourgeois-Anteil – das Denken in den Dimensionen egoistischen Eigeninteresses – einen massiven Auftrieb. Der bürgerliche Kapitalismus, der sich über die Ideologie des mündigen Staatsbürgers und der demokratischen Einflussnahme auf das System stets so etwas wie einen menschlichen Anstrich verliehen hatte, verliert rasant sein bürgerlich-humanes Mäntelchen. In der Reflexion dieser Tatsache erscheint auch die Vorstellung, dass im Bildungswesen so etwas wie das mündige, an Humanität orientierte Individuum gefördert werden soll, zunehmend anachronistisch. Bildung wird immer vordergründiger zur Zurichtung von Menschen im Sinne des Verwertungssystems (↑ Austauschbarkeit); der Bourgeois triumphiert endgültig über den Citoyen!

Dazu kommt, dass es für jemanden, der die gesellschaftlichen Bedingungen tatsächlich kritisch hinterfragt, immer unmöglicher wird, sich selbst vom Verwertungssystem zu abstrahieren. Welche Vorgangsweise, die zwischen einem menschenwürdigen Leben für alle und dem Wunsch des individuellen Überlebens auf Basis der Konkurrenz von jedem gegen jeden vermittelt, erscheint heute noch machbar? Zunehmend wird offensichtlich, dass individuelles Überleben nur möglich ist um den Preis der Teilnahme am kollektiven Selbstmord. Und an welchen Repräsentanten der Macht soll sich der Citoyen heute noch wenden? Nationalstaaten und selbst Staatenverbünde verlieren angesichts des globalisierten wirtschaftlichen Geschehens und des damit verbundenen grenzüberschreitenden Konkurrenzkampfes zunehmend ihre Autonomie (↑ Globalisierung). Der Spielraum für die sogenannten Staatenlenker wird immer enger – letztendlich bedeutet Politik nur mehr, optimale Bedingungen der Förderung für das zu schaffen, was euphemistisch als »Standortwettbewerb« bezeichnet wird, sich aber immer deutlicher als ein Rennen um das nackte Überleben entpuppt. Was sich nicht ökonomisch argumentieren lässt, also damit, dass die jeweilige Maßnahme einen Vorteil im globalen Konkurrenzkampf darstellt, verliert in dieser Situation jedwede Bedeutung. Die Logik der Verwertung und der Konkurrenz wird zunehmend totalitär.

Immer weniger können Staat und (nationalstaatliche) Politik als Verkörperungen der Regierungsmacht bezeichnet werden, die Rolle des Souverän erfüllt stattdessen ein weltökonomisches Verwertungsdiktat.15 Letztendlich bedeutet das, dass dem Citoyen sein Ansprechpartner abhanden kommt. Genau der ist aber erforderlich, um die von Kant so vehement eingeforderte Mündigkeit überhaupt zur Geltung kommen zu lassen. Jener Repräsentant der Macht, an den der kritische Citoyen gelernt hat mit demokratischen Mitteln zu appellieren, verflüchtigt sich zu einer anonymen Größe. Wer sich dem zunehmend frustrierenden Unterfangen unterzieht, die geltenden Wahrheiten – die da Wertschöpfung, Konkurrenz, Wachstum oder technische Machbarkeit heißen – kritisch zu hinterfragen und dabei möglicherweise ihre längst offensichtliche Absurdität erkennt, findet keinen Träger der Macht mehr, dem er seine Erkenntnis zur gnädigen Prüfung vorlegen könnte. Und somit auch keinen, von dem er sich erhoffen könnte, dass er die Dinge zum Guten wendet. Denn auch wenn vielfach noch krampfhaft daran festgehalten wird, dass es irgendwelche Akteure gäbe, die an der sich immer deutlicher entfaltenden Misere schuld wären – korrupte Politiker, gierige Banker oder unfähige Manager – es wird immer schwerer, sich der Erkenntnis zu entziehen: »It’s the system, stupid«! In überwiegend wohl unbewusster Anerkenntnis dieser Tatsache beteiligen sich heute auch zunehmend weniger Menschen am ›Demokratiespiel‹. Menschen »glauben« in anwachsendem Maß schlichtweg nicht mehr an die Politik – entweder sie nehmen an Wahlen gar nicht mehr teil, oder ihr Wahlverhalten nimmt ein von Stimmungsschwankungen gesteuertes, sprunghaftes Verhalten an, was sich unter anderem auch in der Tendenz zu populistischen Gruppierungen widerspiegelt. Immer weniger können sie auch für die diversen Formen des demokratischen Protests mobilisiert werden – sie haben den Citoyen in den Ruhestand geschickt!

Was bedeutet es nun, wenn man die anfangs von mir wiedergegebene Aussage von Michel Foucault, dass Kritik Widerstand gegen das Regiert-Werden bedeutet, auf die skizzierte Situation der fortgeschrittenen Konkurrenzökonomie anwendet?

Letztendlich heißt es, von der Vorstellung Abschied zu nehmen, dass Widerstand gegen das Regiert-Werden mit der von Kant grundgelegten bildungsbürgerlichen Vorstellung des selbständig seinen Verstand gebrauchenden, mündigen Individuums korreliert. Was von Kant seinerzeit pointiert formuliert wurde und seitdem im Bildungsbegriff fortlebt, ist genau das Gegenteil von Widerstand gegen das Regiert-Werden, letztendlich ist das die Regierungstechnik der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft! »Genau genommen redet Kant, wenn er über Aufklärung, Meinungsfreiheit, Verstand, über Mut oder Bequemlichkeit beim Einsatz desselben doziert über […] eine moderne Herrschaftstechnik; aber nicht ehrlich und offen. Er redet über die Herrschaftstechnik am und im Bild des ihr entsprechenden Objekts, dem mündigen Bürger. […] Mit seiner konstruktiven Leistung tat Kant das wenigste, was er sich als Aufklärer schuldig war: er erfand zur modernen Form der Herrschaft das widersprüchliche Menschenbild hinzu […]«.16 Kant hat in seinem Text zur Frage, was Aufklärung sei, nichts anderes dargestellt als das der bürgerlichen Form von Herrschaft entsprechende Ideal des Menschen – den Bildungsbürger. Diesem Konstrukt entspricht es wesensmäßig zu gehorchen, seiner Meinung in den erlaubten Bahnen Ausdruck zu verleihen und Verantwortung für das zu übernehmen, was er sowieso muss.

Bei Kritik, im Verständnis der demokratisch-bürgerlichen Moderne, handelt es sich um eine spezifische Form der Affirmation des status quo. Kritisch zu sein heißt in der Regel bloß, »es sich leisten zu können« gegebene Strukturen der Macht und sie stützende Verhältnisse zu hinterfragen. Dabei stellt sich der/die Kritiker/in zwar intellektuell in Opposition zu den Verhältnissen, verlässt diese allerdings selbst nicht. Ganz im Gegenteil, in der Regel gewinnt der Kritiker die Kraft, beziehungsweise, wie es bei Kant heißt, den Mut zur Kritik genau aus der Tatsache, in den kritisierten Verhältnissen soweit verankert zu sein, dass er die Kritik ohne Gefährdung seiner eigenen mehr oder weniger guten Position vorbringen kann. Kritik entpuppt sich dergestalt letztendlich als eine Legitimation des status quo. Sie lebt von der Vorstellung, andere überzeugen zu können und mit diesen dann innerhalb der gegebenen Möglichkeiten gesellschaftlicher Einflussnahme Änderungen herbeiführen zu können.

Erst wenn Kritik die Grenzen des eloquent-larmoyanten Gejammers, in denen sie sich üblicherweise bewegt, überschreitet und sich in einem veränderten Sein niederschlägt – also darin, dass jemand die kritisierten Verhältnisse tatsächlich verlässt, boykottiert oder anderswie aktiv in einer Form unterläuft, die ihn zumindest in Teilaspekten aus dem System herauskatapultiert – somit also erst, wenn Kritik die Ebene der Reflexion verlässt und zur systemunterlaufenden Tat übergeht, bedroht sie die Strukturen der Macht tatsächlich und wird dann in der Regel ja auch entsprechend sanktioniert. Erst wenn die Kritiker sich somit nicht mehr auf die erlaubten – systemimmanenten – Mittel der Kritik beschränken, hat Kritik die Chance, das zu verwirklichen, was sie permanent vorgibt – ein tatsächlicher Ansatz dagegen zu sein, »nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert« zu werden.

1 Michel Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 12.

2 Ebd., S. 9.

3 Ebd., S. 11.

4 Ebd., S. 12.

5 Ebd., S.14.

6 Ebd., S. 15.

7 Immanuel Kant (1784): »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Biester, Johann Erich und Gedicke, Friedrich (Hgg.): Berlinische Monatsschrift, Zwölftes Stück, Dezember 1784, http://de.wikisource.org/wiki/Beantwortung_der_Frage:_Was_ist _Aufklärung, S. 481, Hervorhebung im Original (aufgerufen: 10.06. 2012).

8 Foucault: Was ist Kritik?, a.a.O., S. 18.

9 Kant: Aufklärung, a.a.O., S. 151.

10 Ebd. S. 485.

11 Ebd.

12 Vgl. dazu: Erich Ribolits: Bildung – Kampfbegriff oder Pathosformel. Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriffs, Wien 2011, S. 34ff.

13 Kant: Aufklärung, a.a.O., S. 485f.

14 Ebd., S. 487.

15 Wolfgang Fach: »Staatskörperkultur. Ein Traktat über den ›schlanken Staat‹.«, in: Bröckling, Krasmann, Lemke (Hgg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/Main 2000, hier S. 110ff.

16 Gegenstandpunkt: »Aufklärung erledigt – Räsonniert, aber gehorcht!«, in: Gegenstandpunkt 2004, http://www.gegenstandpunkt.com/mszarx/phil/kant/aufklar.htm (aufgerufen: 14.5.2012).

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Erich Ribolits

ist an den Universitäten Wien, Graz und Klagenfurt als Privatdozent tätig. Bis zu seiner Pensionierung im März 2008 war er als Leiter der Forschungseinheit »Aus- und Weiterbildung« dem Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien zugeordnet.

Unbedingte Universitäten (Hg.): Bologna-Bestiarium

Unbedingte Universitäten (Hg.)

Bologna-Bestiarium

Broschur, 344 Seiten

PDF, 344 Seiten

»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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