Mehrere Jahre hindurch habe ich meine Träume aufgeschrieben. Diese Schreibübungen waren zuerst sporadisch, dann nahmen sie immer mehr überhand: 1968 notierte ich fünf Träume, 1969 sieben, 1970 fünfundzwanzig, 1971 sechzig!
Ich weiß nicht mehr genau, was ich mir anfangs von einem solchen Experiment versprochen habe: irgendwie schien es mir, als gehörte das indirekt zu einem bereits vor einiger Zeit begonnenen autobiographischen Projekt, bei dem ich meine eigene Geschichte einzukreisen versuchte, jedoch nicht so, dass ich sie in der ersten Person Einzahl erzählte, sondern auf dem Weg über thematisch organisierte Erinnerungen: zum Beispiel Erinnerungen an Orte, mitsamt ihren Veränderungen, an denen ich einmal gewohnt habe, Aufzählung von Zimmern, in denen ich geschlafen habe, Geschichte der Gegenstände, die auf meinem Schreibtisch stehen oder gestanden haben, Geschichte meiner Katzen und ihrer Nachkommenschaft usw., als ob meine Traumberichte neben diesen fragmentarischen, aus Grenzbereichen stammenden Autobiographien das hätten ausmachen können, was ich damals eine nächtliche Biographie nannte.
Später, im Mai 1971, begann ich eine Psychoanalyse, und mir kam es nun so vor, als ob dieses Fieber der Traumnotierungen das Vorzeichen, der Anfang, der Vorwand zu dieser Analyse gewesen wäre. Sicherlich erwartete ich, wie jeder, dass diese Träume etwas von mir erzählen, mich erklären und mich vielleicht sogar verändern. Doch mein Psychoanalytiker zog diese Traumberichte nicht in Erwägung: sie waren allzu sorgfältig verpackt, allzu poliert, allzu sehr ins Reine geschrieben, alles klar, selbst noch in ihrer Fremdheit, und ich habe den Eindruck, heute sagen zu können, dass meine Analyse erst in dem Augenblick begann, als es mir gelang, diese Traum-Panzer aus ihr zu entfernen.
Ich werde also nicht vom Inhalt meiner Träume sprechen; wenn sie eines Tages entzifferbar geworden sind, dann in dem Augenblick, als sie stammelnde Rede, lange gesuchte Wörter, Zögern, beklemmende Empfindungen werden konnten, und nicht mehr allzu geleckte Sätze, allzu gut betonte Texte waren, bei denen nie Titel oder Datum fehlte.
Mein Experiment als Träumer wurde also zwangsläufig zum reinen Schreibexperiment: weder Offenbarung von Symbolen noch Dahinströmen von Bedeutungen oder Erhellung der Wahrheit (obgleich ich den Eindruck habe, dass sehr tief unter diesen Texten ein zurückgelegter Weg beschrieben wird, ein tastendes Suchen), sondern Rausch eines In-Worte-Fassens, Faszination eines Textes, der sich ganz von allein zu produzieren schien: außer bei den seltenen Gelegenheiten, wo ich beim Erwachen einige im Halbschlaf hingekritzelte Worte vorfand, aus denen nichts hervorging, tauchte der ganze und intakt gebliebene Traum aus einer Einzelheit oder einem Wort genau in dem...
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war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Perecs Werk »Anton Voyls Fortgang« kommt so ganz und gar ohne den Buchstaben E aus. In den 70er Jahren begann Perec ebenfalls mit Erfolg Filme zu drehen. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.