♦ Über die Schwierigkeit, im Allgemeinen und insbesondere in meinem Fall über Brillen zu reden. Über Brillen zu schwadronieren scheint auf den ersten Blick, wenn ich einmal so sagen darf, ein trockenes und prosaisches Thema, wenig geeignet, Begeisterung und Überschwang hervorzurufen. Als es einst hieß, durch das Aufkommen dieser gewölbten Linsen habe die Menschheit einen Riesenschritt nach vorne getan, weil es jenen, die nicht gut sahen, endlich die Möglichkeit gab, besser zu sehen oder nicht mehr ganz so schlecht, da schien es, als hätte man nun alles oder fast alles gesagt, um anschließend mit leichter Feder das sagenhafte Schicksal jener zu beschwören, die ohne Brille vielleicht nicht das geworden wären, was sie waren, von Leo X. bis Goya, von Chardin bis Theodore Roosevelt, von Toulouse-Lautrec bis Gustav Mahler und von Émile Littré bis Harold Lloyd.
Andererseits, und dieser zweite Punkt ist sicherlich wichtiger als der erste, könnte es sehr gut möglich sein, dass dies ein Thema ist, dem gegenüber ich mich eigentlich für unzuständig und unzulänglich erklären müsste. Weil ich bis zum heutigen Tage im Genuss einer guten, wenn nicht sogar einer wirklich scharfen Sicht gewesen bin, habe ich in der Tat nie eine Brille getragen, so dass folglich meine Erfahrung auf diesem Gebiet äußerst gering, um nicht zu sagen gleich Null ist. Sicherlich haben zahllose Denker und Philosophen aufs großartigste Dinge erörtert und behandelt, von denen sie, zu Anfang wenigstens, keinen blassen Schimmer hatten, doch von einem Menschen, der nie eine Brille auf der Nase gehabt hat, ein Referat über Brillen zu verlangen, scheint mir immerhin, zu
Anfang jedenfalls, ebenso problematisch wie von einem Menschen, der nie in China gewesen ist, eine Beschreibung Chinas zu verlangen, von einem Autobusfahrer seinen Eindruck über Dreiräder oder über die Rennwagen der Formel 1 oder von einem Vegetarier das Zelebrieren des Entrecôte, obgleich gerade dieses Beispiel schlecht gewählt ist, denn es könnte durchaus sein, dass der Vegetarier rotes Fleisch verabscheut, während ich persönlich nichts gegen Brillen habe.
♦ Über die innere Ausgeglichenheit, die ich dennoch empfinde, wenn ich ein solches Thema angehe. Nachdem dies klargestellt ist, unterbreite ich gleichwohl dem Leser die nun folgenden Betrachtungen mit einem tröstlichen Gefühl. Ein Brillenträger wäre versucht, alles auf sich persönlich zu beziehen, würde sich ereifern, vom Thema abkommen, sich in müßigen Abschweifungen und unpassenden Erläuterungen verlieren, würde den Ursprung all seiner Übel und all seines Glücks auf die inadäquate Krümmung der Hornhaut oder der Linse seiner Augen beziehen...
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war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Perecs Werk »Anton Voyls Fortgang« kommt so ganz und gar ohne den Buchstaben E aus. In den 70er Jahren begann Perec ebenfalls mit Erfolg Filme zu drehen. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.