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Wir haben es alle unge­heuer eilig, abzuspringen…

Georges Perec

Der Sprung mit dem Fallschirm

Übersetzt von Eugen Helmlé

Aus: Geboren 1936, S. 27 – 36

Paris, den 10. Januar 1959. Ganz am Schluss einer Versamm­lung der Herausgebergruppe der Zeitschrift Arguments bittet Georges Perec Jean Duvignaud noch einmal ums Wort. Ein Tonbandgerät zeichnet die Diskussion auf.


»Perec?«


»Ich möchte gern etwas sagen … Ich glaube, dass ich, ganz am Schluss der Diskussion, das Wort ergreifen und eine Geschichte erzählen möchte.«


»Dann erzählen Sie eben eine Geschichte, alter Freund. ­Sprechen Sie deutlich ins Mikrofon, ein wenig, ja, da,…«


»Aber wir müssen auch wirklich am Ende sein, das heißt, dass niemand mehr etwas zu sagen hat!«


»Was wollen Sie denn von sich geben?«


»Ich glaube, dass das ziemlich speziell ist. Ich möchte euch von etwas erzählen … ich habe den Eindruck, dass… zu Anfang wird euch das ziem­lich abwegig und von weit hergeholt vorkom­men, aber ich habe den Eindruck, dass es in Wirklichkeit doch sehr nahe ist …«


»Nur zu, das ist halt die Dialektik!« (Lachen)


» … dass es sehr nahe ist zu allem, was wir heute abend hier gesagt haben. Es ist eine sehr persönliehe Erfahrung, ich erzähle sie, weil ich ein wenig … weil ich ein wenig getrunken habe. Ich möchte von einem Sprung erzählen, den ich gemacht habe. Zu Anfang sieht es so aus, als gebe es keinen Zusammenhang zwischen einem Sprung mit dem Fallschirm und einer Diskus­sion unter Intellektuellen. Und tatsächlich besteht kein Zusammenhang. Bloß, wenn ich euch jetzt von der Art und Weise erzähle, wie ich das zum heutigen Zeitpunkt empfinde … von der Art und Weise, wie ich zu einer bestimmten Zeit einen Sprung mit dem Fallschirm gemacht habe, dann scheint mir, dass es doch eine gewisse Anzahl von Gemeinsamkeiten gibt, die näher zu bestimmen ich nicht einmal versuchen kann, die sich aber dennoch auf irgendeine Weise bestim­men lassen werden. Ich fange also an.


Wir sind auf einem Militärflugplatz. Es gibt eine gewisse Anzahl von Fallschirmspringern. Bloß, man darf das Wort ›Fallschirmspringer‹ nicht in dem Sinne verstehen, in dem man es heute versteht, man soll lediglich in Betracht ziehen, dass es unter diesen Fallschirmspringern einen Fallschirmspringer gibt, und das bin ich, Georges Perec (leises verlegenes Lachen), das heißt, jemand, der trotz allem einen gewissen guten Willen hat, eine gewisse Lebensfreude, eine ge­wisse Anzahl von Schwierigkeiten, und dem es gelingt, sie zu lösen, oder der glaubt, dass es ihm eben in dem Maße gelingen wird, sie zu lösen, in dem es ihm gelingt, alle diese zum Springen notwendigen Schritte hinter sich zu bringen. Die Flugzeuge, die gerade über der Rollbahn kreisen, machen einen ungeheueren Krach. Ein extrem schleppendes...

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Georges Perec

Georges Perec

war einer der wichtigsten Vertreter der französischen Nachkriegsliteratur und Filmemacher. Als Sohn polnischer Juden musste Perec als Kind die deutsche Besetzung Frankreichs miterleben. Sein Vater fiel 1940 als Freiwilliger in der französischen Armee, seine Mutter wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt. Kurz vor ihrer Verhaftung konnte sie ihren Sohn mit einem Zug des Roten Kreuzes aufs Land schicken und ihm so das Leben retten. 1967 trat Perec der literarischen Bewegung Oulipo bei, die Raymond Queneau ins Leben gerufen hatte. Das Kürzel Oulipo steht für »L' Ouvroir de Littérature Potentielle«, d.h. »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Die Schriftsteller von Oulipo, die aus dem »Collège de Pataphysique«, surrealistischen Gruppierungen oder dem Kollektiv »Nicolas Bourbaki« stammten, erlegten ihren Werken bestimmte literarische oder mathematische Zwänge auf, etwa den Verzicht auf bestimmte Buchstaben. Perecs Werk »Anton Voyls Fortgang« kommt so ganz und gar ohne den Buchstaben E aus. In den 70er Jahren begann Perec ebenfalls mit Erfolg Filme zu drehen. Kurz vor seinem 46. Geburtstag starb Georges Perec an Lungenkrebs.

Weitere Texte von Georges Perec bei DIAPHANES
Georges Perec: Geboren 1936

Georges Perec

Geboren 1936

Übersetzt von Eugen Helmlé

Broschur, 96 Seiten

ePub

Dass das Autobiographische als Schlüssel zu Perecs gesamtem Werk zu lesen ist, zeigt dieser Band. Er umfasst zehn autobiographische Versatzstücke aus den Jahren 1959 bis 1981 – von den Umständen der eigenen Geburt (»Ich bin geboren«) über eine Skizze zur Gedächtnisarbeit oder eine Vorfassung seines Ellis-Island-Projekts bis hin zur Aufzählung »einiger Dinge, die ich wirklich noch machen müsste, bevor ich sterbe«. Sie sind Teil eines unvollendeten Komplexes, von dem Perec nur »W oder die Kindheitserinnerung« abgeschlossen hat und in dem er gänzlich neue autobiographische Strategien erproben wollte: im besessenen Sammeln von Mikroerinnerungen, im Verschlüsseln von Gedächtnismomenten, die verborgen bleiben sollen – oder als ein Fallschirmspringer, der sich kopfüber in die Erkundung der eigenen Identität stürzt.