Giovanni Boccaccios Amorosa Visione problematisiert auf grundlegende Weise die Möglichkeiten einer literarischen Bildpoiesis in der Frühen Neuzeit: Boccaccio verfolgt in diesem Terzinenepos die Frage, wie eine rein literarische Bilderfindung umgesetzt werden kann, indem er das ›Erschreiben‹ der Bilder als eine theoriegeleitete Praxis der Kreativität auf den Ebenen der Handlung und der Erzählung in Szene setzt. Aufbauend auf Dantes Transformation des allegorischen Darstellungssystems in der Divina Commedia leistet Boccaccio in der Amorosa Visione eine weitergehende Naturalisierung der Allegorie, die nun den moralischen Sinn fokussiert. Hierfür geht er vom bildspendenden Potenzial der Liebesallegorie aus, um die Möglichkeiten und Grenzen des – im doppelten Wortsinn – sinnlichen Verstehens von Allegorien dem Leser vor Augen zu stellen. Auf diese Weise lotet Boccaccio das kreative Potential der Amorallegorie aus, und erprobt eine neue Praxis der Dichtung, nämlich die Bildpoiesis. Das literarische Produkt dieser Poiesis ist eine allegorisch-didaktische Dichtung, bei der in Umkehrung der auf Horaz aufbauenden Tradition das ›delectare‹ diese Voraussetzung für das ›prodesse‹ bildet.