Die berüchtigten Sonetti lussuriosi Pietro Aretinos (ca. 1525), eine Serie von Sonetten zum Thema Geschlechtsverkehr mit entsprechend eindeutigen Illustrationen, sind zumeist lebensweltlich gedeutet worden: als frühneuzeitlicher ›Befreiungsschlag‹ in Sachen Sexualmoral oder aber ganz im Gegensatz dazu als Kritik an sexueller Normabweichung, ferner als vorurteilsfreie Aufwertung rinascimentalen Kurtisanentums oder aber als pornographischer Text mit unmissverständlicher Wirkabsicht. In diesem Beitrag dagegen werden die sogenannten 16 modi (»16 Stellungen«) als burleske Normabweichung im poetologischen Sinn gelesen: Sie sind nur scheinbar pornographisch und stellen sich mit dieser Pseudo-Pornographik absichtsvoll provokant gegen die Literaturdoktrin des ›orthodoxen‹ Petrarkismus, die in exakt den Jahren der Entstehung und Publikation der Sonetti lussuriosi von Pietro Bembo propagiert wurde. In Motivik, Thematik, Lexikon und Klanglichkeit ebenso wie in der kommunikativen Pragmatik und in ihrer strukturell quasi-zyklischen Fügung invertieren Aretinos Gedichte die fundamentalen Postulate einer an Petrarcas Vorbild orientierten Dichtung unerfüllter, um eine sinnenferne Läuterung ringender Liebeslyrik einer ernsten und stilistisch hohen Lage. Aretino reklamiert indirekt die Berechtigung seiner autorzentrierten, individualistischen Poiesis gegen ein entpersönlichendes Literaturdiktat übergreifender anonymisierender Normativität.