Nutzerkonto

Andreas B. Kilcher: Das Theater der Assimilation
Das Theater der Assimilation
(S. 201 – 229)

Kafka und der jüdische Nietzscheanismus

Andreas B. Kilcher

Das Theater der Assimilation
Kafka und der jüdische Nietzscheanismus

PDF, 29 Seiten

Andreas Kilcher zielt ins Zentrum des – theoretischen wie methodischen – Problems, das mit dieser Begegnung aufgegeben ist, indem er Kafkas ›Nietzsche-Spiel‹ am Punkt eines intensivsten Selbstbezugs und, möglicherweise, auch seiner größten kulturpolitischen Brisanz aufgreift: an den zeitgenössischen Debatten um die Nachahmung als biologisches, kulturelles und ästhetisches Phänomen. Nietzsches gegen den Platonismus gewendete »Engführung von ästhetischer Mimesis und biologischer Überlebenskunst« (durch Mimikry), sein Beharren auf der anthropologisch bedingten Unhintergehbarkeit der »Täuschung« findet ihren Grund zwar in der mit dem Namen Darwin verbundenen Entriegelung der ontologischen Sperre zwischen Tier und Mensch; doch führt die tierisch-menschliche »Verstellungskunst« nach Nietzsche keineswegs zu einem survival of the fittest, sondern ganz im Gegenteil zu einer Herrschaft der Schwachen über die Starken. Den hierin begründeten kulturellen Generalverdacht gegen jede Art der Nachahmung bündelt Nietzsche im Individualtypus des Schauspielers sowie im Kollektivtypus der Juden, die ihm als »Volk der Anpassungskunst par excellence gelten«. Kilcher rekonstruiert die je verschiedene Aufnahme dieses Generalverdachts in den drei Hauptrichtungen der zeitgenössischen Rede über den kulturellen Status des Judentums: dem Antisemitismus, dem Assimilationismus und dem Zionismus. Dabei wird augenfällig, dass trotz der für Leser unübersehbaren Intimität zwischen den beiden Autoren ein Dialog gleichsam ›von Gipfel zu Gipfel‹ nur als gelehrte Abstraktion zu isolieren wäre.

  • Literaturwissenschaft
  • Nietzsche
  • Diskursgeschichte
  • Franz Kafka
  • Moderne

Meine Sprache
Deutsch

Aktuell ausgewählte Inhalte
Deutsch

Andreas B. Kilcher

Andreas B. Kilcher

ist seit Juni 2008 Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. 2004–2008 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Tübingen. Er ist Mitglied und aktueller Direktor des Zentrums »Geschichte des Wissens« der ETH und Universität Zürich. Gastprofessuren in Berlin, Jerusalem, Princeton, Stanford. Arbeitsschwerpunkte: Jüdische Literatur- und Kulturgeschichte; literatur- und kulturwissenschaftliche Wissensforschung; Kabbala- und Esoterikforschung.

Weitere Texte von Andreas B. Kilcher bei DIAPHANES
Friedrich Balke (Hg.), Joseph Vogl (Hg.), ...: Für Alle und Keinen

Es gibt kaum zwei andere Autoren der deutschsprachigen Moderne, bei denen das Verhältnis von Sprache und Leben so intensiv verhandelt wird wie bei Friedrich Nietzsche und Franz Kafka. Für Nietzsche, den »gefährlichen Denker« und das »Dynamit« der christlich-abendländischen Werteordnung, wie für Kafka, den »Dichter der Angst« und Experten für Arbeiter-Unfallversicherung, bilden die biopolitischen Dispositive des heraufkommenden Wohlfahrtsstaates und die Verschiebungen, die der Historismus für die Ökonomie des Wissens und die Massenpresse für die Ökonomie der Rede bedeuten, eng aufeinander bezogene Faktoren des Problemgefüges, das ihre Schreibprojekte hervortreibt. Für beide stellt der Doppelcharakter sprachlicher Überlieferung – als Sicherung des kollektiven Lebens und als Unterwerfung des individuellen – eine zentrale schriftstellerische Herausforderung dar, und beide begreifen die daraus resultierende Riskanz einer radikalen Umschrift der durch Lektüre angeeigneten Tradition als ethisches Problem.

Der Band zielt darauf ab, die beiden Antworten auf jene Herausforderung vor ihrem jeweiligen biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund gegeneinander zu kontrastieren und sie zugleich als – bis heute gültige – paradigmatische »Haltungen« im diskursiven Feld der Moderne sichtbar werden zu lassen. Indem der Band den »dialogischen« Bezug Kafkas auf Nietzsche auf der Folie diskursiver und medialer Ereignisse und Konstellationen der Zeit motiviert und spezifiziert, lässt er ihn zugleich als vielstimmigen »Polylog« oder sogar unlesbaren »Babellog« quer durch die Kultur und die Wissensfelder des anbrechenden »kurzen 20. Jahrhunderts« (1914–1989) erscheinen.