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Stanley Corngold: Nietzsche (with Kafka) as Neo-Gnostic Thinkers
Nietzsche (with Kafka) as Neo-Gnostic Thinkers
(S. 231 – 257)

Stanley Corngold

Nietzsche (with Kafka) as Neo-Gnostic Thinkers

PDF, 27 Seiten

Dass freilich auch und gerade der Blick auf den anderen Brennpunkt, also auf das ›intim‹ dialogische Verhältnis zwischen Kafka und Nietzsche, neue Erkenntnisse zu befördern vermag, belegt der Beitrag von Stanley Corngold. Innerhalb dieses Dialogs eröffnet Corngolds Ausgangspunkt, der ›Gnostizismus‹ als kulturelle Problemchiffre, eine überraschende Sicht auf die bislang identifizierten ›Echo‹-Kategorien der Reproduktion, der Genealogie und der Überschreitung. Auf der Grundlage einer detaillierten Rekonstruktion der These Eric Voegelins, nach der Nietzsches Projekt des Übermenschen der Logik eines säkularen Gnostizismus folge, kehrt nun die bereits eingangs behandelte konstitutive Schwäche als Eigenschaft jener »Kinder des Lichts« wieder, die durch ein Leben in sexueller Enthaltsamkeit ihre Empfänglichkeit für die göttlichen Funken erhalten hatten – deren Produktivität mithin an eine ›empfangende‹ und ›transformierende Weitergabe‹ von Signalen gebunden war, wie sie Aby Warburg für die Historiker-Künstler Nietzsche und Burckhardt als typisch erkannt hat. Es liegt dabei auf der Hand, dass Nietzsches in diesen Zusammenhang gestellten »Mandarinen mit chinesischem Pinsel«, die, selbst schwach, ihrerseits »stets nur abziehende und erschöpfte Gewitter zu zeichnen vermögen, in Kafkas Figur des chinesischen Historiker-Architekten und seinen Untersuchungen über »längst verflogene Gewitterwolken« (NSF I, S. 346) empfangen und transformiert worden ist. Doch Corngolds Rekonstruktion zielt in eine andere Richtung bzw. tiefer: Wenn sich zeigen lässt, dass die neo-gnostische Konstellation auch für Kafkas Selbstreflexionen eine zentrale Rolle spielt, dann finden wir Nietzsches Optimismus im Hinblick auf die Ersetzbarkeit der biologischen Fortpflanzung durch die künstlerische bei Kafka radikal negiert: Entgegen dem landläufigen, zunächst von Max Brod und zuletzt von der »physiobiografischen« Branche der Kafka-Forschung bemühten Substitions- bzw. Sublimierungs-Narrativ gilt das Verdikt der »Kleinigkeit« in beiden Sphären der Reproduktion, derjenigen des ›Penis‹ ebenso wie der des ›Pinsels‹. Anders als Nietzsche wusste Kafka: »es gibt keinen gnostischen Ersatz für Kinder.«

  • Nietzsche
  • Moderne
  • Literaturwissenschaft
  • Franz Kafka
  • Diskursgeschichte

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Deutsch

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Stanley Corngold

ist Professor für Germanistik und Komparatistik der Princeton University.

Friedrich Balke (Hg.), Joseph Vogl (Hg.), ...: Für Alle und Keinen

Es gibt kaum zwei andere Autoren der deutschsprachigen Moderne, bei denen das Verhältnis von Sprache und Leben so intensiv verhandelt wird wie bei Friedrich Nietzsche und Franz Kafka. Für Nietzsche, den »gefährlichen Denker« und das »Dynamit« der christlich-abendländischen Werteordnung, wie für Kafka, den »Dichter der Angst« und Experten für Arbeiter-Unfallversicherung, bilden die biopolitischen Dispositive des heraufkommenden Wohlfahrtsstaates und die Verschiebungen, die der Historismus für die Ökonomie des Wissens und die Massenpresse für die Ökonomie der Rede bedeuten, eng aufeinander bezogene Faktoren des Problemgefüges, das ihre Schreibprojekte hervortreibt. Für beide stellt der Doppelcharakter sprachlicher Überlieferung – als Sicherung des kollektiven Lebens und als Unterwerfung des individuellen – eine zentrale schriftstellerische Herausforderung dar, und beide begreifen die daraus resultierende Riskanz einer radikalen Umschrift der durch Lektüre angeeigneten Tradition als ethisches Problem.

Der Band zielt darauf ab, die beiden Antworten auf jene Herausforderung vor ihrem jeweiligen biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund gegeneinander zu kontrastieren und sie zugleich als – bis heute gültige – paradigmatische »Haltungen« im diskursiven Feld der Moderne sichtbar werden zu lassen. Indem der Band den »dialogischen« Bezug Kafkas auf Nietzsche auf der Folie diskursiver und medialer Ereignisse und Konstellationen der Zeit motiviert und spezifiziert, lässt er ihn zugleich als vielstimmigen »Polylog« oder sogar unlesbaren »Babellog« quer durch die Kultur und die Wissensfelder des anbrechenden »kurzen 20. Jahrhunderts« (1914–1989) erscheinen.