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Daniel Birnbaum: Wer ist »ich« heute?
Wer ist »ich« heute?
(S. 87 – 93)

Wer kommt nach dem Subjekt? Wer taucht auf?

Daniel Birnbaum

Wer ist »ich« heute?

Übersetzt von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck

Davon ausgehend, dass jedes Kunstwerk seinen eigenen Ideenapparat hervorbringt und somit nach seiner eigenen Theorie verlangt, verfolgt Daniel Birnbaum in seinem Essay die mit dem Werk verbundenen Formen der Subjektivation. Aus der titelgebenden Frage entwickelt er einen philosophischen Zugang zur zeitgenössischen Kunst, der sich fragt, ob sich die phänomenologische Intentionalität auf das Werk zu beziehen hat oder ob das Werk selbst neue Subjektivierungsprozesse in Gang bringt. Dabei geht es Birnbaum nicht um den Entwurf einer neuen Phänomenologie des zeitlichen Bewusstseins oder einer Theorie des Subjekts, vielmehr schlägt er einen phänomenologischen »Konstruktivismus« vor, der sich mit der politischen Verfassung von Subjektivitäten auseinandersetzt.

Stan Douglas’ Zweifel an Pronomen, sein grundlegender Zweifel an der Gewissheit eines Ich ist der Ausgangspunkt dieses Essays. Wer spricht, empfängt, nimmt wahr? Wer ist das (konstruierte, zusammengesetzte oder für selbstverständlich genommene) Subjekt der hier betrachteten Kunstwerke – dieser abstrakten und doch oft intuitiven Maschinerien des Zeitbewusstseins, der Wahrnehmung und der kinästhetischen Erfahrung? Können wir die hier in Frage stehenden Positionen immer noch durch die grammatischen »Personen« und herkömmlichen indexikalischen Ausdrücke des Diskurses kennzeichnen, oder sind wir zu einer allen Personen vorgängigen Art von Neutralität gezwungen (noch kein Ich, kein Du, kein Wir, Sie oder Er), vergleichbar vielleicht der Form des Sprechens, die der Dichter Lawrence Ferlinghetti als »die vierte Person Singular« beschreibt? In Eija-Liisa Ahtilas neunzigsekündigem Frühwerk Me/We (1993) wird beispielsweise die scheinbar natürliche Verbindung zwischen Subjekt und Stimme aufgelöst, so dass nun viele Stimmen aus ein und demselben Mund dringen (oder ein und dieselbe Stimme aus einer Vielzahl von Mündern). Mit welchem grammatischen Begriff lässt sich eine solche linguistische Kategorie am besten beschreiben? Noch einmal, wer spricht? Da es hier nicht darum geht, eine neue Phänomenologie des zeitlichen Bewusstseins zu entwerfen, geschweige denn eine allgemeine Theorie des Subjekts, wird die Antwort (oder vielmehr die Antworten) auf die Frage Wer? wesentlich weniger umfassend ausfallen als in entsprechend ausgerichteten Abhandlungen. Ich hoffe aber, dass sie dafür präziser und spezifischer sein wird. Einem gewissen unbeschwerten Nominalismus folgend, wird die Antwort von Werk zu Werk anders aussehen. Warum? Weil »ich« nicht derselbe bin, wenn ich die Atmosphäre präziser Indifferenz von Dominique Gonzalez-Foerster aufnehme, mich in Eija-Liisa Ahtilas unergründlichen Katakomben des Vergangenseins verliere, die transzendentalen Synkopen von Stan Douglas einzuschätzen versuche, mich auf einem polyrhythmischen Spaziergang über Doug Aitkens Electric Earth führen lasse oder die brillante Simultaneität von Tobias Rehberger erlebe. Letztlich verlangt jedes Werk nach seinen eigenen Ideen und seiner eigenen Theorie. Oder, besser gesagt, jedes dieser Werke bringt seinen eigenen Ideenapparat hervor und setzt ihn in Bewegung. Eben diese Bewegung ist das Kunstwerk, und darüber eine Theorie aufzustellen ist daher kaum mehr, als die Ideen als Ideen sichtbar zu machen und ihren Weg und die damit verbundenen Formen der Subjektivation zu verfolgen. Von Werk zu Werk, von Konfiguration zu Konfiguration bin ich – ist das »ich« – etwas anderes. Manchmal ist »ich« nicht einer, sondern viele.


Ohne nähere Bestimmung ist das überkommene Credo des unablässigen Anders-Werdens jedoch nicht besonders befriedigend. Meinem Essay liegt die optimistische Vorstellung zugrunde, dass man die mit diesen...

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Daniel Birnbaum

ist Rektor der Städelschule und des Portikus in Frankfurt am Main. 2009 war er Direktor der 53. Biennale von Venedig.

Tobias Huber (Hg.), Marcus Steinweg (Hg.): INAESTHETIK – NR. 1

Um das Thema »Politiken der Kunst« gruppieren sich die Texte der Nummer 1 der Zeitschrift INAESTHETIK. Gibt es einen politischen Auftrag des Kunstwerks? Wie bestimmt sich der Ort des Kunstwerks im sozialen Feld? Wie verhalten sich Kunstproduktion, Kunstkritik, Kunstwissenschaften und Philosophie zueinander? Ist Kunst zwingend kritisch: institutions-, markt- und ideologiekritisch? Oder setzt das Kunstwerk noch der Kritik und ihrem guten Gewissen Grenzen, die aus ihm eine riskante und vielleicht notwendig affirmative Praxis machen? Liegt der Sinn in diesen immer wieder mit dem Kunstwerk verbundenen Kategorien des Widerstands und der Subversion nicht auch in einer Art Selbstberuhigung, die es dem Künstler und der Künstlerin erlaubt, am politischen Spiel ohne wirklichen Einsatz teilzunehmen, sodass das politische Bewusstsein die Funktion einer uneingestandenen Entpolitisierung übernimmt? Wie affirmativ muss ein Kunstwerk sein, um subversiv oder politisch sein zu können?

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