Susanna Lindberg, Artemy Magun, Marita Tatari
Thinking With—Jean-Luc Nancy: Vorwort der Herausgeber*innen
Veröffentlicht am 02.05.2023
Als Hommage an Jean-Luc Nancy hat uns diaphanes eingeladen, ein mehrsprachiges, transdisziplinäres Buch mit Beiträgen zahlreicher Autor*innen vorzubereiten. Uns, die Herausgeber*innen, verbindet die Straßburger Schule: der Ort, an dem Jean-Luc Nancy zusammen mit Philippe Lacoue-Labarthe seit den 1980er Jahren und bis zur Emeritierung der beiden 2002 unterrichtete. Ein Ort von großer intellektueller Intensität, an dem sich Personen aus der ganzen Welt um dieses Denken versammelten. Dort haben wir uns gegen Ende des 20. Jahrhunderts kennengelernt und seither das Gespräch mit Nancy ununterbrochen fortgeführt.
Nancy war kein eigenbrötlerisches Philosophengenie, sondern ein Mensch der Gemeinschaft und ein gemeinschaftsliebender Mensch. Zusammen mit Lacoue-Labarthe prägte er eine Schule des Denkens und war eine persönlich, sozial und intellektuell anziehende Figur, die sich in der Arbeit seiner zahlreichen Schüler*innen und Freund*innen widerspiegelte. Noch heute sagt Jean-Lucs Stimme Straßenbahnhaltestellen in Straßburg an: Aus dem geografischen Herzen Europas heraus, das so oft zwischen Frankreich und Deutschland hin- und hertransplantiert wurde, gibt sie uns im physischen und geistigen Raum des Kontinents (neue) Orientierung. Nancy und Lacoue-Labarthe hörten im historischen Straßburg das Echo der romantischen Städte Tübingen und Jena auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert, jener Zeit, die Nancy so ungeheuer anziehend fand: auf der Ebene der Theorie, aber auch auf der Ebene der Mimesis. Seine Stimme (darüber schreibt Rodolphe Burger in diesem Band) erklang in dieser alten Stadt und hüllte all jene, die in ihr verweilten, in eine zugleich prosaische und geheimnisvolle Atmosphäre. Der vorliegende Band versucht, dieser ausgebreiteten, diffusen Existenz von Nancys Denken nachzuspüren, in dem er eine gleichermaßen vielfältige wie einmütige Konstellation von Stimmen zu Wort kommen lässt. Es sind Stimmen, die verschiedenen Generationen angehören und durch unterschiedliche Momente im Denken Jean-Luc Nancys geprägt worden sind.
Mit diesem Buch wollen wir das Gespräch fortsetzen, das für Jean-Luc Nancys Denken lebensnotwendig war und das er bis zum letzten Moment mit so vielen Menschen geführt hat. Statt nur über sein Werk nachzudenken, haben wir die Beitragenden eingeladen, mit ihm weiterzudenken, der Haltung gemäß, zu der sein Werk uns auffordert. Denn er hat die alte philosophische Frage nach dem Wahren ohne gegebenes Maß, dem Wahren jenseits des Vergleichs, als eine Praxis angenommen. Als ein Denken, das in der Welt sich für die Welt verantwortet; und als ein Sprechen, das der langandauernden »Mutation« unserer Zivilisation zu entsprechen versuchte.
Das Streben nach Autonomie, das die Philosophie zusammen mit dem ganzen Abendland beseelte, sah er in die Autonomie der kolonialisierenden technoökonomischen Maschinerie übergegangen und die Einsicht in unsere Endlichkeit und Heteronomie heute als unabdingbar.
Der Forderung des Sinns selbst unter diesen Bedingungen standzuhalten heißt, diese Forderung wieder und wieder aufzugreifen; sie dem unaneigenbaren Draußen zu öffnen: als die Aktualität des Gesprächs, des Verweises, des Bezugs, der wir sind, der der Sinn ist.
Wir haben die Beiträge thematisch gegliedert. Am Anfang steht ein Überblick über die Entwicklungen und Verschiebungen, die Nancys Denken im Laufe der Jahre erfahren hat. In diesem Text wird die Frage nach seinem Standpunkt gestellt. Unter dem Titel »Lebentod« folgen intimere Texte, die sich unmittelbar in einem Gespräch engagieren oder die Betroffenheit durch seinen Tod adressieren. Die Reihe der darauffolgenden Themen ist vage chronologisch: von der Gemeinschaft der früheren Periode Nancys hin zur Dekonstruktion des Christentums, zur Auseinandersetzung mit der Geschichte, sowie zu zeitgenössischen Umgängen mit der Ontologie, der Natur und der Umweltlichkeit. Zwei weitere wichtige Themen – Mimesis-Methexis und die Frage der Künste – haben wir ans Ende des Buches gestellt.
Die Ansichten der Autor*innen variieren manchmal stark, nicht nur, weil sie sich mit Texten aus verschiedenen Perioden auseinandersetzen: Sie führen Nancys Denken auf je eigene Weise fort – und manchmal auch in andere Richtungen.
Jean-Luc Nancy hat die Fremdheit des Bezugs mit seinem Werk und seinem Leben gewürdigt. Wir wollen mit diesem Buch weiterdenken mit ihm, jetzt, da sein Tod den Bezug offen hält zu dem, was ohne Bezug ist: offen zu seinem unendlichen Entspringen.