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Über eine Ästhetik der Fakten

Bruno Latour

Die Ästhetik der Dinge von Belang

PDF, 20 Seiten

Ausgehend von der Analyse des Bildes »Adrian Walker« von Jeff Wall befasst sich Bruno Latours hier erstmals auf deutsch publizierter Vortrag mit der von Alfred North Whitehead als Grundlage des Empirismus diagnostizierten »Aufgabelung der Natur« (bifurcation of nature) in primäre und sekundäre Qualitäten. Latour fragt nach dem Grund für die zentrale Bedeutung dieser Unterscheidung in der Begründung des wissenschaftlichen Empirismus seit Locke. Dem »klassischen« Empirismus als epistemologischer Begründung etablierter Vorstellungen von dem, was Wissenschaft ist und leistet – und den für diesen charakteristischen, durch eine Ästhetik sonderbarer »Künstlichkeit« ausgezeichneten Laborsituationen –, stellt er einen bei William James ansetzenden »zweiten Empirismus« entgegen. Dieser geht nicht länger von »Tatsachen« (matters of fact), sondern von »Dingen von Belang« (matters of concern) aus.

 »Eine aktive philosophische Schule ist für die Bewegung der Ideen ebenso wichtig, wie eine aktive Schule von Transportingenieuren für die Bewegung des Treibstoffs.«2



Adrian Walker hat sich für den großen Fotografen Jeff Wall in Positur gesetzt.3 Daneben posiert auch ein mumifizierter Arm – eher unfreiwillig vom Rest eines einstmals lebendigen Körpers abgetrennt –, dessen Umrisse und Schatten sich deutlich auf einem grünlich blauen Stofftuch abzeichnen. (Abb. 1) Der Künstler sinniert über die Fertigstellung seiner Zeichnung, deren Umrisse und Schatten auf dem großen, weißen, hell beleuchteten Zeichenpapier deutlich hervortreten – das grünlich blaue Tuch und das weiße Papier haben nahezu dieselbe Größe. Ohne Zweifel denkt der Künstler Adrian Walker auch darüber nach, was es bedeutet, einem anspruchsvollen Fotografen wie Jeff Wall Modell zu sitzen. Denn was Walker mit dem Arm zuwege bringen will, ist letztlich nichts anderes, als das, was Wall mit ihm vorhat: Er will den gesamten Schauplatz durch die ausgeklügelte und sorgfältig in Stellung gebrachte Membran seines analog-fotografischen Apparates einfangen, so wie Walker nun seit geraumer Zeit bemüht ist, den Arm von dem grünlich blauen Tuch auf das weiße Papier überspringen zu lassen (wobei das Anfertigen solch akkurater Zeichnungen wohl ebenso zeitaufwändig sein dürfte wie die Herstellung derart sorgfältig inszenierter Fotografien).


Walker ist so sehr in seiner Aufgabe versunken, dass der Kunsthistoriker Michael Fried in dem Bild sogar ein typisches zeitgenössisches Beispiel dessen sieht, was er, in Anlehnung an Diderot, Versunkenheit nennt – im Gegensatz zur »theatralischen« Kunst, die sich explizit an den Betrachter wendet.4 Obwohl es sich bei dem Dargestellten also um eine Inszenierung handelt, ist es dennoch ein Bild vollkommener, beinahe unerträglicher Versunkenheit, sowohl in Bezug auf den zeichnenden Walker als auch auf Jeff Wall, der »seinen« Walker fotografiert, wie der über »seinen« Arm sinniert. Und ich habe keinen Zweifel, dass Ihre Reaktion ähnlich ausfallen wird, wie die von Fried oder meine eigene: völlige Versunkenheit in der völligen Fremdartigkeit dieser Szene. Was geht hier vor?


Sie haben sicher die Plastikbehälter und die weißen Kacheln bemerkt, die so weiß und reflektierend sind, als habe das für die Kunstgeschichte so bedeutsame nördliche Licht den ganzen Abzug schon fast überbelichtet. Wir befinden uns hier nicht in einem Künstleratelier, wie der vollständige Titel des Werkes deutlich macht (ich zitiere): Adrian Walker, artist, drawing from a specimen in a laboratory in the Department of Anatomy at the University of British Columbia, Vancouver (1992) [Der Künstler Adrian Walker, wie er ein Präparat in einem Labor in der anatomischen Abteilung der University of British Columbia, Vancouver, zeichnet]. Dies ist eine Szene aus dem Laboralltag, das weiße Licht der Aufklärung ergießt sich über die Kunstfertigkeit des Zeichners in einer der wenigen Disziplinen, der Anatomie, in der das Zeichnen der Fotografie und den direkten, durch automatisierte Techniken produzierten Aufnahmen noch an wissenschaftlicher Präzision überlegen ist. Bis zum heutigen Tag sind fähige Künstler nötig, um einen Arm von einem Stofftuch aufs Papier überspringen zu lassen. Und es mag dieser geheimnisvolle Sprung, oder vielmehr diese bodenlose Kluft, zwischen Vorlage und Kopie gewesen sein, die Adrian Walkers Blick suspendiert und dafür gesorgt hat, dass er sein Kinn in einer ähnlich versunkenen Pose hält wie der Denker von Rodin. Was könnte für einen Künstler oder Wissenschaftler – oder eine Mischung aus beiden – geheimnisvoller sein als jene Kluft zwischen einer Kopie und ihrer Vorlage? So geheimnisvoll ist sie, dass Jeff Wall, der Zweite in der Reihe, das Risiko eingeht, seine gesamte Leinwand, ich meine seinen Abzug, von einem solch obsessiv grellen Licht verschlingen zu lassen.


Und dennoch sollten wir, die Dritten in dieser Kette grassierender Versunkenheit, dem grellen Licht widerstehen, das uns für die völlige Unglaubwürdigkeit einer solch inszenierten Situation blind macht. Das Faszinierende an dem Foto ist, dass ein zeitgenössischer Künstler, Jeff Wall, uns auf einen Schlag die Geschichte dreier Jahrhunderte einer ganz eigentümlichen Ästhetik zeigt, und zwar just in dem Moment, in dem diese vollkommen verschwunden ist. So möchte ich dieses Foto jedenfalls heute interpretieren.


Inzwischen durfte ich von Walls Kommentaren profitieren: »Ich kann nicht allzu viel zu Ihrer Interpretation sagen. Ich verstehe, dass Sie das Bild als Muster für eine Situation betrachten, die Sie kritisch analysieren wollen, als Modell einer wissenschaftlichen Erkenntnisweise. Ich kann mich nur zu einem oder zwei Punkten äußern. Ich sehe ein, dass man die Situation, die ich abgebildet habe, für ein unglaubwürdiges Modell wissenschaftlicher Erkenntnis und der Beziehung zwischen der Welt und dem Geist halten kann. Dennoch handelt es sich ja um eine tatsächliche Abbildung der Beziehung Adrian Walkers zu seiner zeichnerischen Arbeit und seiner Kunst im Allgemeinen. Es ist wirklich eine Dokumentarfotografie seiner Ecke des Anatomielabors, in der er einige Monate lang gearbeitet hat. Ich habe hier nichts hinzuerfunden, ich habe lediglich mit Adrians Hilfe die Situation festgehalten. Auch er hat nichts anders gemacht als sonst, er saß einfach ein paar Tage lang einige Minuten ruhig da. Ich betone das, weil Ihre Vorlesung bei mir den Eindruck erweckt, dass Sie glauben, das Bild sei aufgrund einer Idee oder eines Themas in meinem Kopf entstanden und danach ›inszeniert‹ worden. So war es aber nicht. Ich meine, es ist auch eine vollkommen plausible und authentische Abbildung eines beliebigen zeichnerischen Vorgangs. Ich hätte auch ein Bild von Adrian machen können, wie er etwas anderes zeichnet, wenn es sich damals ergeben hätte, aber er zeichnete eben gerade Präparate im Labor. Er behauptete nicht, Wissenschaft zu betreiben, sondern lediglich, auf ganz konventionelle Weise (auch wenn das heute kaum noch jemand macht) an seiner Figurenzeichnung zu arbeiten. Ich glaube, es trifft nicht ganz zu, wenn man sagt, Adrian sei ein selbstversunkener Künstler, der als Wissenschaftler auftritt. Man sollte besser sagen, dass er ein Künstler ist, der etwas tut, was Künstler seit langer Zeit tun und was in gewissem Maße von den Möglichkeiten abhängt, die Wissenschaft und Medizin eröffnet haben. Ich sage ›in gewissem Maße‹, denn das Abzeichnen von Präparaten ist nur ein Teilaspekt des Zeichnens, nichts absolut Grundlegendes. Mein Bild ist lediglich ein spezifisches Beispiel für das Zeichnen, das sich eigentlich nur durch sein Motiv unterscheidet. Er könnte ebenso gut eine Blumenvase zeichnen.


Ich glaube, es ist das Bild, das anzeigt oder andeutet, warum Adrian das Präparat zeichnen will. Das Präparat kann uns das nicht verraten, kein Gegenstand einer Abbildung kann das. Offenbart wird es durch das Gefühl in dem Bild, das Gefühl, dass Zeichnen etwas ist, das man liebt und tun muss, um ordentliche Abbildungen hinzubekommen. Ich glaube sagen zu können, dass auch mein Bild ordentlich gemacht ist; und dass, wenn es schön ist und Freude macht, diese Freude auf die Freude jeder Abbildung verweist, einschließlich der von Adrian. Für mich handelt es sich also weniger um ein kognitives Modell als um eine Abbildung der Liebe zur Abbildung.«5

Für mich fasst dieses Foto die gesamte Ästhetik der Fakten zusammen, wie sie um das 16. Jahrhundert in einer engen und komplexen Verbindung aus Künstlern, Wissenschaftlern, Theologen und ihren verschiedenen Förderern entstanden ist. Man könnte an dieser Stelle einwenden: Wie können Fakten von irgendeiner Art von Ästhetik abhängen? Fakt ist Fakt, und wenn es irgendetwas gibt, das sich jeglicher Inszenierung, jedem Kunstgriff und jeder Vermittlung entzieht, dann doch wohl genau dies: eine gottverdammte harte Tatsache jenseits jeder menschlichen Intention. »Sie ist da, ob es Ihnen nun passt oder nicht!« (Hier würde es sich sehr gut machen, dazu noch mit der Faust aufs Pult zu schlagen.)6 Doch die strahlende Schönheit – um nicht zu sagen: die feinsinnige Ironie – von Jeff Walls Fotografie erzählt genau das Gegenteil: Es gibt nichts, das so außerordentlich künstlich, so sorgfältig inszeniert und so historisch kodiert ist, wie die direkte Begegnung mit einer Tatsache.


Sehen Sie sich das Bild noch einmal an. Sie können über diese Szene sagen, was Sie wollen, aber nicht, dass es sich um eine Darstellung von Alltagserfahrung handelt! Wo sollte man wohl einem mumifizierten Arm auf einem Stofftuch begegnen? Erkennen wir so etwa unseren eigenen Arm, streicheln wir so den Arm unserer Liebsten oder treffen gar auf die Faust des Realisten, der uns die harten Tatsachen einbläuen will wie Thomas Gradgrind in Charles Dickens’ Hard Times? Natürlich nicht. Wann kommt es vor, dass man sich einer solchen Tatsache gegenübersieht und sie still sitzend betrachtet? Selbst ein Kannibale, wenn es denn noch welche gibt, würde angesichts eines solchen Leckerbissens nicht so sitzen bleiben. Die meisten Erfahrungen erlangen wir nicht auf diese Weise. Stattdessen bewegen wir uns in einem Bündel gleichzeitig neben uns ablaufender Ereignisse. Und wann – sollte man Sie wirklich durch eine unglaubliche List dazu gebracht haben, gegenüber einem Leichenteil Platz zu nehmen – würden Sie je gebeten werden, diesen dann auch noch nicht zu berühren, ihn nicht selbst in die Hand zu nehmen, sich nicht vor Ekel darauf zu übergeben wie Roquentin, sondern ihn aus etwa 40 Zentimeter Entfernung zu zeichnen, als wollten Sie ein noch größeres anatomisches Kunststück vollbringen und seine zeichenbare Form von seiner nicht zeichenbaren stofflichen Zusammensetzung ablösen?7

Alles an dieser Szene ist unglaubwürdig, alles ist gestellt in dieser Face-to-Face-Situation eines menschlichen Geistes, der über die gähnende Kluft zu einem Gegenstand sinniert, den er gleichwohl hinübertragen will, indem er eine unmögliche Brücke zwischen dem grünlich blauen Stoff und dem weißen, rechteckigen Papier baut. Kein Wunder, dass Adrian Walker von Jeff Wall angehalten wurde, sein Kinn auf die Hand zu stützen und seine Aufmerksamkeit in völliger Suspendierung und selbstversunkener Meditation im hellsten selbstverschwindenden Licht aufgehen zu lassen. Was in dem weißen Raum aufgehoben wird und dahinschwindet, ist die Idee, ja die gesamte Ästhetik der Fakten.


Nun könnte man immer noch einwenden, dass die Szene, da sie ja in einem Labor stattfindet, die normale und profane Art und Weise zeigt, in der Objektivität erzeugt wird. Sie mag zwar, könnte man sagen, im Hinblick auf die Alltagserfahrung extravagant erscheinen, weil niemand – abgesehen von Metzgern und Kannibalen – abgetrennten Gliedmaßen auf diese Weise begegnet, aber es ist nichts Ungewöhnliches daran, dass Wissenschaftler vor einem Objekt sitzen, das sie aus ihrer dreidimensionalen materiellen Wirklichkeit in eine zweidimensionale Form auf ein Blatt Papier bringen wollen. Gewöhnliche Menschen tun so etwas vielleicht nicht, aber für Anatomen ist es sicher ganz normal.


Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass das alles andere als der Fall ist, und ich habe eine gewisse Erfahrung im Studium der Laborpraxis. Sehen Sie sich beispielsweise Dr. Marilyn Perrin im Salk Institute aus dem Jahr 2002 an: Sie sitzt nicht, sie nimmt nicht die Pose von Rodins Denker ein, sondern eher die aktive, pragmatische Haltung eines Tüftlers; sie steht und ist aktiv mit Pipettieren und dem Schütteln von Reagenzien beschäftigt, und wenn sie eines nicht kann, dann den CRF-Rezeptor, dem sie 15 Jahre ihres Lebens gewidmet hat, mit einem einzigen Salto mortale von »der Welt« in »das Wort« springen zu lassen; vielmehr verfolgt sie, wie es bei allen Referenzketten der Fall ist, gespannt dessen sukzessive Reinkarnation über eine verwirrende Anzahl von Schritten, von denen meine Aufnahmen – die zugegebenermaßen nicht so raffiniert sind wie die von Jeff Wall – nur einen winzigen Ausschnitt liefern.8 Wollte man objektiv vorgehen, so müsste man ein sehr langes Videoband verwenden, auf dem dann auch sehr viele verschiedene Akteure auftauchen würden. Die Ästhetik der Fakten taugt also keinesfalls als Beschreibung wissenschaftlichen Tuns. Betrachten Sie dazu etwa das Foto einer Versammlung von Hirnforschern in San Diego: 25.000 Präsentationen nebeneinander in einem riesigen Saal?9 Wie wollen Sie diese ungeheure Menschenmenge, die zum Verständnis des Gehirns notwendig ist, in einem Hamletschen Monolog über Geist und Materie unterbringen?


Ist es nicht seltsam, dass die völlige Versunkenheit eines einzelnen Geistes beim Betrachten eines Stücks toter Materie immer noch die Urszene der Faktizität ist, wo sie doch nicht einmal der Erzeugung von Objekten gerecht wird, die Epistemologen so teuer sind, nämlich wissenschaftlichen Fakten? Wie lässt sich erklären, dass wir Fakten für die ahistorischen Ingredienzien der Welt halten, wenn sie doch nur in hochartifiziellen Arrangements sichtbar sind? Ein sitzender Mensch – üblicherweise ein Mann mittleren Alters – blickt etwas an (ohne es zu berühren, zu hören oder zu manipulieren), das mittelgroß und hell erleuchtet ist und sich deutlich abhebt, das darüber hinaus in durchschnittlicher Höhe (nicht viel höher oder niedriger als die Horizontlinie) platziert und niemals wesentlich weiter als einen Meter entfernt ist; welch eine merkwürdige Situation, in der Mensch und Objekt das erstaunliche Kunststück fertigbringen wollen, ohne sichtbare Zwischenschritte die Brücke zu überqueren zwischen nur zwei Elementen, der Kopie und der Vorlage, die ihrerseits mimetisch miteinander verbunden sind: Die Kopie muss der Vorlage gleichen und sich im Idealfall über sie legen lassen. Nirgends, in keinem Labor, das wir kennen, ist jemals eine objektive Tatsache auf diese Weise erzeugt worden, und dennoch ist dies das Vorbild all unserer Beziehungen zu Fakten: Der Arm ist auf dem blauen Stofftuch; die Katze ist auf der Matte. »Die Fakten sind da, verdammt noch mal, ob es Ihnen passt oder nicht.«


In der letzten Vorlesung habe ich versucht, zwei Arten der Wiedergabe dessen, was in der Erfahrung gegeben ist, gegenüberzustellen.10 Ich habe dazu die Metapher der Flussufer benutzt: Das eine Ufer ist das Wort – beziehungsweise das Soziale oder der Geist –, am anderen Ufer liegt die Welt – das Materielle oder das Natürliche. Ein Vorhaben besteht darin, den Fluss zu überbrücken, indem man das Kunststück der akkuraten Referenz fertigbringt. Ich sprach aber auch von einem anderen Vorhaben, welches darin besteht, sich mit dem Fluss zu bewegen und zu überlegen, zu welcher Art von Verständnis der Erfahrung man gelangen kann, wenn man, seitwärts treibend, das praktiziert, was ich »Kajakfahren« genannt habe. Ich schlug vor, in Betracht zu ziehen, dass das Geheimnis der Überbrückung der Kluft – jenes Abgrundes, der Adrian Walker in so selbstversunkener Manier nachdenken lässt – möglicherweise nicht so tief und aufschlussreich ist wie die Erfahrung des Fließens mit dem Fluss; diese würde sich etwa dann einstellen, wenn Jeff Wall versucht hätte, die Bewegungen einzufangen, die Dauer, der jene Organismen zwangsläufig ausgesetzt sind – wenn er zum Beispiel das Verwesen des Fleisches verfolgt hätte. Oder wir wären plötzlich sensibel für die winzige Blase – im Sinne Peter Sloterdijks – geworden, innerhalb deren sich die ganze Szene abspielt: Welche Art von Hüllen – Sloterdijks Ausdruck – müssen vorhanden sein, damit Walker in Ruhe, ohne Lärm, Störung und Aufregung arbeiten kann?11 In welcher merkwürdigen Air-Condition – ein weiterer Ausdruck Sloterdijks – kann sich so eine Szene entfalten? Hätten wir unsere Aufmerksamkeit in dieser oder ähnlicher Weise verschoben, wäre die gigantische Kluft zwischen der Welt da draußen und dem Geist da drinnen zweifellos mit einem Mal verschwunden, weil sich eine völlig andere Topologie von Innen und Außen ergeben hätte: in diesem Fall die zwischen der anatomischen Abteilung und dem Rest der Universität von Vancouver – eine winzige Blase aus Objekten und Subjekten vermischt in einem fragilen Schaum aus anderen winzigen Blasen, deren Gegenwart sich aus dem Bild ableiten lässt, die jedoch völlig unsichtbar bleiben.


Würden wir eine solche Reihe von Schritten durchführen, erschiene uns Jeff Walls Aufnahme zweifellos als Standbild aus einem sehr bewegten und sich schnell verändernden Film, der uns eine völlig andere Geschichte vor Augen führte, etwa so wie im Fall von Svetlana Alpers, die in ihrem Meisterwerk Kunst als Beschreibung die Liebhaber von Stillleben und holländischer Malerei dazu zwang, ihren vom sogenannten »objektiven« oder »mimetischen« Stil faszinierten Blick durch eine umfassende Erforschung der Republik der Vereinigten Niederlande zu ersetzen.12 Fakten sind zweifelsohne das Ergebnis eines bestimmten Stils, sie stehen nicht für Vernunft, sie stehen nicht einmal für Empirismus, wenn damit das in der Erfahrung Gegebene gemeint ist; und sie stehen ganz gewiss nicht für die Wissenschaften, als hätten diese nichts anderes zu tun, als die Kluft zwischen Worten und Welt zu überbrücken.


Was ich zeigen möchte, ist, dass das andere Geheimnis, über das es nachzudenken gilt und das uns für sehr lange Zeit unser Kinn auf die Hand stützen und Rodins Pose einnehmen lassen wird, nicht darin besteht, wie sich die Welt davon überzeugen lässt, in die Darstellung zu springen (oder ein menschlicher Arm dazu gebracht werden kann, auf ein Blatt Papier zu hüpfen wie ein Löwe durch einen Feuerreifen); die Frage ist vielmehr, wie es kommt, dass wir dreihundert Jahre lang unberücksichtigt gelassen haben, was uns durch die Erfahrung gegeben ist, und es durch etwas ersetzt haben, das nie erfahren wird und das Philosophen dennoch den Nerv haben, »empirisch« und »faktisch« zu nennen. Das ist schon ein echtes Kunststück! In der ersten Vorlesung hatte ich, unter Verwendung des wunderbaren Begriffs von Alfred North Whitehead, die Frage aufgeworfen: Wie haben wir es nur geschafft, so zu tun, als hätte sich die Natur in primäre und sekundäre Qualitäten »entzweit« – wobei die Ersteren, wie Sie sich erinnern werden, real, materiell, frei von Werten und Zielen und nur über vollkommen unbekannte Kanäle bekannt sind und Letztere nichts weiter sind als »psychische Zutaten«, die der menschliche Geist auf eine bedeutungslose Welt aus reiner Materie projiziert und die keine äußere Realität besitzen, auch wenn sie Ziele und Werte enthalten. Wie ist es uns nur gelungen, die gesamte Philosophie auf eine Wahl zwischen zwei Bedeutungslosigkeiten – die reale, aber bedeutungslose Materie und das bedeutungsvolle, aber irreale Symbol – zu reduzieren?


Ihr großer Wissenschaftshistoriker, dessen Name – Dijksterhuis – für einen Franzosen leider unaussprechlich ist, hat diesen Zustand, der im 17. Jahrhundert vollständig erreicht war, gut zusammengefasst:


»Diese Unterscheidung kann als Objektivierung der primären und Subjektivierung der sekundären Qualitäten umschrieben werden; d.h. man betrachtet die ersteren als objektiv, unabhängig von einem wahrnehmenden Subjekt im wahrgenommenen physischen Körper vorhanden, die letzteren hingegen als nur im Bewußtsein des Beobachters, in mente, bestehend. […] Daß die primären Qualitäten Größe, Gestalt, Bewegung uns doch auch nur in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben sind, und daß also die ganze Unterscheidung eigentlich keinen Sinn hat, wird nur selten bemerkt. Die Illusion, daß wir in der Mathematik und der Mechanik scheinbar ohne Berufung auf die sinnliche Erfahrung eine so umfangreiche und vom Gefühl der Evidenz begleitete Kenntnis der geometrisch-mechanischen Qualitäten erwerben können, führt unwiderstehlich dazu, diesen eine ganz gesonderte Stellung zuzubilligen.«13

Und er fügt hinzu:


»Hatte die mechanistische Betrachtungsweise für die Naturwissenschaft die Bedeutung eines stimulierenden Programms, das auch tatsächlich nicht verfehlt hat, ihr Wachstum zu fördern, so wurde die Philosophie durch sie vor das schwierige Problem gestellt, wie nun eigentlich die Welt unseres Bewußtseins, unserer Wahrnehmungen und Gefühle, mit der so völlig anders gearteten Welt der mechanischen Prozesse außerhalb von uns zusammenhängt. Die Naturwissenschaften standen vor der zwar schweren, aber erfolgversprechenden Aufgabe, mechanische Systeme zu erfinden, durch welche physikalische Tatsachen erklärt werden konnten, die Philosophie aber vor dem hoffnungslosen Problem, psychische Erscheinungen aus physikalischen abzuleiten. Es ist kein Wunder, daß ihre Wege sich trennten, daß die Naturwissenschaft ihre eigene Richtung einschlug, ohne sich viel um die philosophische Rechtmäßigkeit ihres Tuns zu kümmern, und daß die Philosophie immer weniger in der Lage war, dem Studium der Natur gegenüber die führende Stellung einzunehmen, die ihr bei einer idealen Zusammenarbeit aller geistigen Kräfte hätte zufallen müssen.«14

Obwohl also die Unterscheidung »eigentlich keinen Sinn« hatte, versucht die Philosophie bis heute, das »hoffnungslose Problem« zu lösen, eine nicht existierende Kluft zu überbrücken. Die Frage, die wir uns am heutigen Abend stellen müssen, ist, ob wir die Rechte der Vernunft in jeder Hinsicht – das heißt, dem Fluss der Erfahrung folgend – geltend machen, jene »hoffnungslose« Aufgabe aufgeben und unsere »geistigen Kräfte« auf einen aussichtsreicheren Pfad lenken können. Gelingt es uns, die Bifurkation der Natur zu beenden und der Erfahrung unseren Respekt zu zollen, ohne sie zugunsten eines vollkommen künstlichen und nicht plausiblen Gefühls, das für Common Sense gehalten wird, schmälern zu müssen? In seinem Buch Denkweisen erläutert Whitehead das Problem anhand der (zweiten) Amtseinführung Präsident Roosevelts im Jahr 1937:


»Das Ziel dieser Kapitel ist es, kurz herauszustellen, in welcher Hinsicht sowohl Newtons als auch Humes Beitrag – jeder auf seine Weise – stark defizitär sind. Sie sind richtig, so weit sie gehen. Aber sie unterschlagen jene Aspekte des von uns erfahrenen Universums und unserer Erfahrungsweisen, die zusammen ein tiefergehendes Eindringen auf den Wegen des Verstehens ermöglichen. In der kürzlich stattgefundenen Begebenheit in Washington, D.C., kann die hume-newtonsche Denkweise nur eine komplexe Übertragung von Sinnesdaten und eine verworrene Bewegung von Molekülen sehen, während das tiefste, intuitive Empfinden der ganzen Welt hierin den Präsidenten der Vereinigten Staaten wahrnimmt, wie er ein neues Kapitel der menschlichen Geschichte eröffnet. So unterschlägt die hume-newtonsche Interpretation unsere intuitiven Weisen des Verstehens.«15

Dem Common Sense wird Gewalt angetan, wenn wir in unserem Verstehens­prozess ›unterschlagen‹ sollen, dass ein wichtiges Ereignis stattgefunden hat, und einen Blick von nirgendwoher als ›wissenschaftlich‹ akzeptieren sollen: »Sie irren sich, es ist nichts passiert, nur Molekülbewegungen.« Genauso gewaltsam ist es, um mein Beispiel aus der ersten Vorlesung aufzugreifen, wenn man uns bittet, in Betracht zu ziehen, dass die Nachtigall nur in unserem Geist (oder unserem Gehirn) und nicht in der Welt da draußen singt, weil das Hören eines Liedes nicht in die Liste der primären Qualitäten gehört (eine Liste, die, wie Sie sich erinnern, aus den »sinnlosesten« und flüchtigsten historischen Gründen erstellt worden ist).


Hier ist allerdings Vorsicht geboten: Ich sage nicht, dass wir die wissenschaftlichen und die poetischen Weltsichten »versöhnen«, Wissenschaft und Kunst »zusammenbringen« müssen, denn ein solches Unterfangen würde nur eine monströse Mischform hervorbringen; zwei Artefakte zusammen ergeben nur ein drittes Artefakt, keine Lösung. Wenn wir dem von William James so genannten radikalen Empirismus treu bleiben wollen, dann müssen wir die Behauptungen der ›Bifurkatoren‹ zurückweisen, sie repräsentierten den Common Sense und sprächen im Namen der Wissenschaft. Es gibt nicht die harte Welt aus unanfechtbaren Fakten einerseits und die reiche, geistige Welt aus menschlichen Symbolen, Vorstellungen und Werten andererseits. Die harte Welt der Fakten ist eine unglaublich engumgrenzte, spezialisierte Art der Szenografie, die sich hochkodierter Formen der Erzählung, des Blicks, der Beleuchtung, der Entfernung sowie ganz präziser Einstellungs- und Aufmerksamkeitsrepertoires bedient, die von Wissenschaftshistorikern wie Lorraine Daston, Horst Bredekamp, Steve Shapin, Simon Schaffer und Peter Galison, um nur einige zu nennen, sorgfältig inventarisiert worden sind. Zu Whiteheads Zeit schien es kaum möglich, die Bifurkation der Natur zu überwinden, weil der erste Empirismus den europäischen Geist völlig im Griff hatte; heute ist dies viel leichter geworden, da sich die Fakten als das erweisen, was sie immer schon waren: ein bestimmter Stil, ebenso verschlungen, interessant, historisch und kunstvoll wie die Etikette am Hof Ludwigs XIV, Leibniz’ barocke Monadologie, Moritz von Oraniens Erfindung des militärischen Drills oder Immanuel Kants Interpretation der kopernikanischen Wende. Ich glaube, gerade weil Fakten derart historisch geworden sind, konnte Jeff Wall seine Meditation eines selbstversunkenen Künstlers als Wissenschaftler inszenieren: Kein Wissenschaftler kann heute mehr so tun, als blicke er in dieser Weise auf die Welt. Die Gelegenheit ist günstig. Die Wissenschaft ist so gründlich historisiert worden, dass wir nun in einem völlig neuen Licht fragen können: Was ist mit uns im Namen des (ersten) Empirismus geschehen? Wie konnte der Common Sense dazu genötigt werden, sich so weit von dem zu entfernen, was von der Erfahrung erfasst wird? Und was noch wichtiger ist: Was kommt als Nächstes?


Zur Kodierung dieses grundlegenden Wandels vom ersten zum zweiten Empirismus habe ich vorgeschlagen, den Gegensatz zwischen Tatsachen und Dingen von Belang zu verwenden, und möchte diesen zunächst banal klingenden Ausdruck nun näher spezifizieren.16 Eine Sache von Belang ist das, was aus einer Tatsache wird, wenn man ihre ganze Szenografie mit hinzunimmt, etwa so, wie wenn man im Theater seine Aufmerksamkeit von der Bühne auf die gesamte Theatermaschinerie verlagert. Dies widerfuhr beispielsweise der Wissenschaft, als sie von den neu entstandenen »Science Studies« erfasst wurde, es widerfuhr der holländischen Landschaftsmalerei in den fähigen Händen Svetlana Alpers’ oder auch dem anatomischen Zeichnen, als es von einem zeitgenössischen Künstler wie Jeff Wall neu inszeniert wurde. Statt einfach nur da zu sein, beginnen die Fakten plötzlich, anders auszusehen, anders zu klingen, sie bewegen sich in alle Richtungen, gehen über ihre Grenzen, beinhalten einen ganzen Satz neuer Akteure und offenbaren die fragilen Hüllen, in denen sie untergebracht sind. Sie müssen nicht nur »da sein, ob es Ihnen nun passt oder nicht« – da sein müssen sie immer noch, aber (und das ist einer der großen Unterschiede) sie müssen gemocht werden, man muss sie schätzen, schmecken, mit ihnen experimentieren, sie arrangieren, präparieren und ausprobieren.


Es ist dieselbe Welt und doch sieht alles anders aus. Fakten waren unanfechtbar, hartnäckig, einfach da; Dinge von Belang sind anfechtbar und ihre Hartnäckigkeit scheint von ganz anderer Art zu sein: Sie bewegen sich, sind mitreißend und, ja, sie machen auch etwas aus. Das Erstaunliche an Fakten war, dass sie, obwohl materiell, nicht das Geringste ausmachten, auch wenn sie sofort für irgendeine Art von Polemik herangezogen wurden. Wie überaus seltsam sie doch waren.


Ein weiteres außergewöhnliches Merkmal ist, wie ich in Das Parlament der Dinge ausführlich gezeigt habe, dass sie angeblich unmittelbar zu uns sprachen, obwohl sie stumm waren – »Fakten sprechen schließlich für sich selbst oder nicht?« – und nicht nur das: Die stummen und dennoch sprechenden Fakten vollbrachten sogar die erstaunliche rhetorische Meisterleistung, Andersdenkende zum Schweigen zu bringen.17 Und diejenigen, die dieses fantastische Kunststück des ›Inanimismus‹ erfunden haben, lachen über die armen Leute, die an Animismus glauben.18

Bevor wir jedoch dieser Szenografie Lebewohl sagen, müssen wir zunächst ihre außergewöhnliche Kraft ausloten, die Dijksterhuis für die Hauptquelle ihrer Effektivität hielt. Zu diesem Zweck wäre es allerdings unzureichend, nur Weltsichten, nur Ideen oder eine »Mechanisierung des Weltbildes« zu betrachten, es sei denn, wir nehmen das Weltbild wörtlich und nicht metaphorisch, wie er es tut und nach ihm so viele Historiker der wissenschaftlichen Revolution. Bescheidenere Vermittler müssen hinzutreten, um die Geschichte dieser sonderbaren Trennung zwischen primären und sekundären Qualitäten verständlich zu machen, nämlich das Zeichnen selbst, das eigentliche Wesen des Abbildens von etwas. Wer sich mit der Geschichte des Empirismus auskennt, weiß, dass John Locke, der viele Jahre lang regelmäßig die Kunstläden in genau dieser Gegend von Amsterdam aufsuchte, besessen war von Metaphern aus dem Bereich der Malerei, der Camera obscura, der Wunderkammern, Kuriositätenkabinette und Warenlager aller Art, wie aus seiner Abhandlung Über den menschlichen Verstand (1690) deutlich wird.


»2. (Alle Ideen entspringen aus Sensation oder Reflexion.) Nehmen wir also an, der Geist sei, wie man sagt, ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Schriftzeichen, frei von allen Ideen; wie werden ihm diese dann zugeführt? Wie gelangt er zu dem gewaltigen Vorrat an Ideen, womit ihn die geschäftige schrankenlose Phantasie des Menschen in nahezu unendlicher Mannigfaltigkeit beschrieben hat? Woher hat er all das Material für seine Vernunft und für seine Erkenntnis? Ich antworte darauf mit einem einzigen Worte: aus der Erfahrung. Auf sie gründet sich unsere gesamte Erkenntnis, von ihr leitet sie sich schließlich her.«19
»Zunächst lassen die Sinne partikulare Ideen ein und richten das noch leere Kabinett ein. Wenn dann der Geist allmählich mit einigen davon vertraut wird, werden sie im Gedächtnis untergebracht und mit Namen versehen. Später, nachdem der Geist weiter vorgeschritten ist, abstrahiert er sie und erlernt allmählich den Gebrauch allgemeiner Namen. Auf diese Weise wird der Geist mit Ideen und mit einer Sprache ausgestattet, die das Material bilden, woran er seine diskursive Fähigkeit üben kann; und der Vernunftgebrauch wird täglich sichtbarer, je mehr das Material anwächst, das ihm Beschäftigung gibt.«20

Es sind, wie Jeff Wall uns gezeigt hat, sehr außergewöhnliche Situationen nötig, will man Wissen als etwas begreifen, das auf einem weißen Blatt Papier erscheint, nachdem die materiellen Eigenschaften von ihrer Form abgelöst worden sind. John Locke stellte sich, wie Jonathan Crary ausgeführt hat, den Geist möglicherweise als einen Kasten vor, in dem einmal mehr ein stiller Geist der Welt als etwas begegnet, das flach auf ein Blatt Papier projiziert werden kann.21 Was für ein seltsamer Kasten, in den Locke da seinen Geist einschließt! Ein noch künstlicheres Kameragehäuse als das von Jeff Wall digital eingefangene. Und doch ist es praktisch die einzige Situation, in der die Trennung zwischen dem, was auf ein Blatt Papier übertragbar – und geometrisch – ist, und dem, was nicht übertragbar ist – Klang, Geruch, Aufregung, Dauer –, leicht vollzogen werden kann.


Locke erkennt dies bereitwillig an:


»Stellen wir beispielsweise eine einfarbige Kugel, etwa aus Gold, Alabaster oder Gagat, vor uns hin, so ist die dadurch unserm Geist eingeprägte Idee sicherlich die einer ungleichmäßig schattierten runden Scheibe, von der Licht und Glanz in verschiedener Abstufung an unser Auge dringt. Da wir uns aber durch Übung daran gewöhnt haben wahrzunehmen, welche Erscheinung konvexe Körper in der Regel in uns hervorrufen, welche Veränderungen die Verschiedenheit der sinnlich wahrnehmbaren Gestaltung von Körpern bei Widerstrahlungen des Lichts verursacht, so verwandelt das Urteilsvermögen infolge langer Übung die Erscheinung sofort in ihre Ursache. Sie schließt von dem, was in Wahrheit ein Wechsel von Schatten und Farbe ist, auf die Figur, als deren Kennzeichen ihr diese Schattierung erscheint; so bildet sie die Wahrnehmung einer konvexen Figur und einer gleichmäßigen Färbung, während die Idee, die wir in diesem Fall erhalten, nur die einer verschieden gefärbten Fläche ist, wie sich in der Malerei augenscheinlich zeigt.«22

Ohne die Erfahrung, dass uns die Malerei dazu verleiten kann, in einer »verschieden gefärbten Fläche« eine »konvexe Figur« zu sehen, hätten die Philosophen wohl nicht allzu lange an der Idee festgehalten, dass auch die Welt selbst aus primären Kausalitätsströmen bestehen könnte, die unser Geist in nicht existierende sekundäre Qualitäten verwandelt. Gleichermaßen wären Epistemologen ohne die obsessive Malerei-Metapher wohl nie auf den Gedanken gekommen, es gäbe nur zwei Schritte – eine Kopie und eine Vorlage – und eine mimetische Beziehung zwischen den beiden. Um es ganz zugespitzt zu sagen: Die Idee einer Brücke zwischen der Darstellung und dem Dargestellten ist eine Erfindung der Bildenden Kunst.


Ich hoffe, Sie verstehen, warum es unnütz wäre, zu versuchen, »Kunst und Wissenschaft miteinander zu versöhnen«, denn was wir für Wissenschaft halten, ist meistenteils nichts anderes als eine abgeleitete Epistemologie ohne jeden Bezug zu den »visuellen Effekten« der Wissenschaft und ein Ableger eines hochspezifischen Moments der Kunstgeschichte. Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber schuld an der Epistemologie sind holländische Maler und Kaufleute … Sie, die Niederländer, haben Ihre Besucher, insbesondere Descartes, so beeindruckt, dass dieser schließlich das weiße Papier, auf das man Figuren zeichnet, mit dessen res extensa verwechselt hat! Das hatte katastrophale Folgen für die Philosophie: Von dieser Verwechslung von Ontologie und Visualisierungsstrategien hat sie sich nie mehr erholt.


Niemand hat dies besser verstanden als der geniale Experte für Druckgrafik William Ivins. Es gibt, sagt er, zwei ganz spezifische Gründe, warum das weiße Blatt Papier, auf dem nur Formen in der Sprache der Geometrie gezeichnet werden, ein so enorm mächtiges Werkzeug abgeben konnte. Vor der Renaissance, so Ivins,


»[gab es] zwei gute Gründe für diese Ineffizienz; der eine war, dass man keine exakten Duplikate von Bildern anfertigen konnte, der andere, dass es weder eine Regel oder Grammatik gab, um die logischen Beziehungen innerhalb des Systems der bildlichen Symbole zu erfassen, noch eine logische gegenseitige beziehungsweise reziproke Entsprechung zwischen Bildsymbolen und der Form der Objekte und ihrer Position im Raum.«23

Als jedoch der Druck und nur ein halbes Jahrhundert später das perspektivische Zeichnen mittels projektiver Geometrie erfunden wurden, konnten Menschen zum ersten Mal in der Geschichte der menschlichen Codes eine zweiseitige Verbindung mit den Dingen, die sie meinten, herstellen, auch wenn sie weiterhin völlig unfähig waren, diese mit Worten zu beschreiben. Die platonische Macht der Geometrie war endlich in der Praxis verwirklicht worden: Das Buch der Natur wurde in geometrischen Zeichen geschrieben, aber wir sollten nicht vergessen, dass es sich um ein gedrucktes Buch aus vielen Blättern weißen Zeichenpapiers handelte:


»Die charakteristischsten Merkmale der bildlichen Darstellung in Europa seit dem 14. Jahrhundert sind auf der einen Seite deren stetig zunehmender Naturalismus und auf der anderen ihre rein schematischen und logischen Ausweitungen. Es wird gesagt, beide seien größtenteils auf die Entwicklung und Verbreitung von Methoden zurückzuführen, die unveränderliche, wiederholbare Symbole zur Darstellung der visuellen Wahrnehmung sowie eine Grammatik der Perspektive lieferten, durch die es möglich wurde, logische Beziehungen sowohl innerhalb des Symbolsystems als auch zwischen diesem System und den Formen und Positionen der dadurch symbolisierten Objekte herzustellen.«24

Sie sehen also, dass Die Mechanisierung des Welt-»Bildes« ein treffender Titel ist: Es geht tatsächlich um ein Bild, welches es uns erlaubt, die Dinge auf eine mechanische Weise zu sehen, weil wir uns umdrehen und ihre Deformationen und Projektionen vorhersagen können. Es handelt sich, um meinen eigenen Begriff zu verwenden, um immutable mobiles (unveränderliche mobile Elemente) – zum ersten Mal ist es möglich, die Mobilität von Informationen mit der Unveränderlichkeit dessen, was übermittelt wird, in Einklang zu bringen: Es ist, als könne man aus dem Heraklitschen Fluss parmenidische Formen gewinnen. Kein Wunder, dass jeder gebildete Geist in Europa von dieser sagenhaft mächtigen Ästhetik der Vernunft berauscht war. Und dennoch bleibt es eine Ästhetik, eine Methode »to draw things together«.25

Eine Debatte über die Geschichte und Bedeutung der Perspektive lässt sich natürlich unmöglich in ein paar Minuten, ja selbst nicht in ein paar Wochen führen; was Irvin jedoch mit unvergleichlicher Klarheit gesehen hat, ist das fehlende Bindeglied in Whiteheads philosophischer Darstellung der Bifurkation der Natur, nämlich die von Philosophen und Wissenschaftlern gleichermaßen begangene Verwechslung dessen, was in der Erfahrung gegeben ist, mit dem, was Whitehead »die Tätigkeiten des Geistes« nennt, welche notwendig sind, um Informationen vom einen zum anderen zu übertragen. Ich zitiere aus Der Begriff der Natur:


»Was eigentlich lediglich eine Geistesprozedur bei der Übertragung des sinnlichen Bewußtseins in diskursives Wissen ist, hat man in einen grundlegenden Naturcharakter umgestaltet. Auf diese Weise ist Materie als das metaphysische Substrat ihrer Eigenschaften hervorgetreten, der Naturverlauf als die Geschichte der Materie interpretiert worden.«26

Und noch einmal:


»Somit stellt die Materie die Weigerung dar, räumliche und zeitliche Charakteristika fortzudenken, um beim schieren Begriff einer individuellen Entität anzulangen. Es ist diese Weigerung, die für den ›Mischmasch‹ des Hineintragens der bloßen Denkprozedur in das Faktum der Natur verantwortlich ist. Die Entität hat, aller Charakteristika außer denen von Raum und Zeit entblößt, einen physikalischen Status als elementares Naturgewebe angenommen, mit der Folge, daß der Naturverlauf als Schicksal der Materie auf ihrem Abenteuer durch den Raum aufgefaßt wird.«27

Hier bietet Whitehead eine eigene historische Erklärung an, die mit der unterschiedlichen Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen zu tun hat:


»Dieser Unterschied ist das Produkt einer Epoche, in der die Physik gegenüber der medizinischen Pathologie und Physiologie einen Vorsprung erlangte. Stoßwahrnehmungen sind genauso Ergebnis von Transmissionen wie Farbwahrnehmungen. Wenn Farbe wahrgenommen wird, werden die Nerven des Körpers auf eine bestimmte Weise angeregt und übermitteln die Botschaft dem Gehirn, und wenn Stoß wahrgenommen wird, werden andere Nerven auf andere Weise angeregt und übermitteln ihre Botschaft dem Gehirn.«28

Und dennoch wurde die »Stoßfähigkeit«29 den primären Qualitäten zugeschrieben, die Farbe hingegen den sekundären. Sehen Sie, wie »sinnlos« diese ganze Unterscheidung ist? Der »Mischmasch« bleibt jedoch unklar: Wie um alles in der Welt konnte Descartes den unglaublichen Fehler begehen, die res extensa mit dem zu verwechseln, was geschieht, wenn man eine geometrische Form auf ein leeres Blatt Papier zeichnet? Was Ivins und jüngere Historiker nach ihm nachweisen, ist die Verbindung zwischen der aufkommenden Wissenschaftsgemeinde und jenem neuen geometrischen Idiom: Zwischen den Gelehrten kann eine zweiseitige Verbindung hergestellt werden, weil Transformationen auf dem Papier (auf Tafeln, Diagrammen, Zahlen oder den Berechnungen, von denen sie abhängen) exakt vorhergesagt werden können. Sobald die Tätigkeiten des Geistes ins Spiel gebracht werden, ist es nur noch ein kleiner Schritt, bis man die immutable mobiles mit Kommunikationslösungen verwechselt und für die Grundbausteine der Welt selbst hält. Fakten verschieben sich von einem Beschreibungsmodus, einem Denkstil zu dem, was die Welt selbst versorgt.


Lesen wir dazu noch einmal Ivins:


»Von einer Möglichkeit des sinnlichen Bewusstseins dessen, was man, in Ermangelung adäquater Symbole, Grammatiken und Techniken, um sie zu nutzen, als ›sekundäre Qualitäten‹ erachtete, ist das Sehen heute zum Hauptweg des sinnlichen Bewusstseins geworden, auf dem das systematische Denken über die Natur basiert. Wissenschaft und Technik haben sich in überproportional starkem Maße entwickelt und den Menschen in die Lage versetzt, Methoden zu finden, durch die Phänomene, welche ansonsten nur durch den Tast-, Gehör-, Geschmacks- und Geruchssinn erkannt werden konnten, in den Bereich der visuellen Erkennung und Vermessung gebracht und damit zum Gegenstand jener logischen Symbolisierung wurden, ohne die rationales Denken und Analysieren nicht möglich sind. Die Entdeckung der frühen Formen dieser Grammatiken und Techniken stellt den Beginn der Rationalisierung des Sehens dar, der, wie es heißt, das wichtigste Ereignis der Renaissance war.«30

Niemand wird wohl bestreiten, dass Ivins recht hat. Als Beweis müssen Sie sich nur Ihren Computer ansehen, den Inbegriff des Renaissanceraums, dem man noch die ideale Leibnizsche Bibliothek hinzufügen sollte. Digitalisierung ist, wie Simon Schaffer und Adam Lowe gezeigt haben, nicht so sehr eine Neuerung als vielmehr die Erfüllung eines drei Jahrhunderte alten Traums. Leibniz’ Spitzname lautet Google Scholar …31 Ob Sie als Architekt CAD-Anwendungen benutzen, ob Sie Ingenieur, Buchhalter oder Arzt sind, der Patientendateien verwaltet, ob Sie irgendetwas aus dem Internet herunterladen oder Computerspiele spielen – Sie leben in der Rationalisierung des Sehens (Ivins’ Buchtitel). Und das Erstaunliche ist, dass diese enorm entwickelte und materialisierte Ästhetik der Fakten es trotzdem nicht geschafft hat, die neuen Dinge von Belang in sich aufzunehmen. Trotz der Flut von Innovationen erleben wir eine zunehmend archaischere Repräsentation unserer wirklichen Lage.


Bevor ich jedoch auf diesen letzten Punkt eingehe, lassen Sie uns kurz zusammenfassen, wie weit wir bisher gekommen sind. Wenn Sie sich an meine letzte Vorlesung erinnern, werden Sie feststellen, dass wir nun eine präzise Möglichkeit zur Erklärung der Bifurkation der Natur haben.32 Die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten ist das Berufsrisiko von Leuten, die zu lange auf mumifizierte Gliedmaßen starren … Man kann dann auf die Idee kommen, das, was man auf das leere Blatt Papier zeichnet – die Form –, von der Materie – dem Arm an sich – zu trennen, und anschließend, in einem weiteren eigenartigen Schritt, die Fähigkeit Adrian Walkers, den gemalten Arm an eine andere Stelle zu befördern, ohne dass dieser verwest oder irgendwie zu Schaden kommt, mit der Art und Weise zu verschmelzen, wie der Arm selbst seine materielle Komponente durch die Zeit transportiert. Substanz ist ein digitaler Tanz auf dem Papier. Ergänzen wir Whitehead mit Ivins, so können wir nun auch den folgenden rätselhaften Satz aus Der Begriff der Natur verstehen:


»Selbst wenn Sie also zulassen, daß es den Anhängern der Substanz gestattet ist, Substanz als Materie aufzufassen, ist es ein Schwindel, die Substanz unter der Beteuerung, der Raum drücke Relationen zwischen Substanzen aus, in den Raum zu stellen.«33
»Meine Behauptung lautet, daß das Hineinbringen des Geistes mit seinen eigenmächtigen Hinzufügungen zum sinnlich bewußten, der Erkenntnis vorliegenden Objekt bloß eine Weise ist, das Problem der Naturphilosophie zu umgehen. Dieses Problem besteht darin, die Relationen der Dinge untereinander, jenseits des bloßen Faktums ihres Bekanntseins, zu erörtern. Naturphilosophie sollte nie danach fragen, was im Geist und was in der Natur ist.«34

Wir stehen vor der Frage, wie wir diesen »betrügerischen Export« von Erkenntnisweisen (in Ivins’ Darstellung: des perspektivischen Zeichnens) in die Beziehungen konkurrierender Organismen inter se aufheben können. Immerhin verstehen wir nun den historischen Zusammenhang, aus dem sich irgendwann im 17. Jahrhundert die Bifurkation der Natur ergeben hat, die den philosophischen Geist – von Hume bis hin zu den heutigen Neurophilosophen – vor die »hoffnungslose Aufgabe« stellte, eine nicht existierende Kluft zu überbrücken. Es gibt keine Kluft, die es zu überbrücken gilt, sondern eine gemeinsame Geschichte der Wissenschaft, der Kunst – und, wie ich hinzufügen möchte, der Politik –, die es aufzugreifen gilt. Nun, da wir anfangen zu verstehen, wie die Ästhetik der Fakten funktioniert, ist es weit weniger unmöglich geworden, zu erforschen, was passiert, wenn wir die Szenografie verändern, durch die die Erfahrung versucht, Dinge von Belang zu erfassen.


Ich hoffe, es ist klar geworden, dass es keine Möglichkeit einer Versöhnung von Kunst und Wissenschaft, keine Ästhetisierung schöner wissenschaftlicher Ergebnisse (Fraktale, Galaxien, Gehirnscans usw.) gibt, sondern vielmehr eine riesige Baustelle, auf der, wie im 16. und 17. Jahrhundert, wieder mit allen geistigen Fähigkeiten von Künstlern, Wissenschaftlern, Politikern, Staatsmännern, Organisatoren aller Art, Kaufleuten und Gönnern an der Neuerfindung einer Kunst der Beschreibung oder besser, einer Kunst der Neubeschreibung der Fakten gearbeitet wird, um den »betrügerischen Export« zu stoppen und das aufzugreifen, »was in der Erfahrung gegeben ist«.


Ich fürchte, dass ebenfalls erschreckend klar geworden ist, wie ungeeignet ich für die Aufgabe bin, die ich nun hier vor Ihnen ausgebreitet habe. Aber obwohl es viel schwieriger ist, in die Zukunft zu blicken, als eine Geschichte der Vergangenheit zu schreiben, muss ich doch zumindest kurz skizzieren, was zu erwarten wäre, wenn wir über eine Ästhetik der Dinge von Belang verfügen würden. In den wenigen noch verbleibenden Minuten bleibt mir dazu nur die Möglichkeit, kurz auf das hinzuweisen, was man in der Industrie die Vorgaben der Ausschreibung nennt – nicht das Projekt selbst, sondern die Bedingungen, die man erfüllen muss, wenn man ein Angebot für eine Ausschreibung einreichen will. Ich nenne nun eine Reihe solcher Vorgaben, welche eine alternative Szenografie mit allen Ihnen geeignet erscheinenden Mitteln erfüllen sollte. Und ich habe keinen Zweifel, dass es in diesem Raum viele gibt, die kompetenter sind als ich, um dazu ein Angebot abzugeben.


Vorgabe eins: Dinge von Belang müssen etwas ausmachen. Fakten wurden durch die völlig unplausible Notwendigkeit verdreht, reiner, vollkommen interessefreier Stoff zu sein – einfach dazuliegen wie ein mumifizierter Arm –, gleichzeitig aber »eine Aussage treffen«, die menschliche Subjektivität erniedrigen, unmittelbar, ohne Sprechapparat sprechen und Andersdenkende zum Schweigen bringen zu können. Das scheint mir doch ein bisschen zu viel auf einmal für ein paar »mittelgroße feste Objekte«. Können wir es besser machen und die vielfältigen, verworrenen Schichten auseinanderhalten, damit unsere Szenografie registriert, dass sie einigen genau zu bestimmenden Menschen etwas ausmachen, dass sie bei ihnen der Grund eines starken Interesses und einer Verlagerung ihrer Aufmerksamkeit sein können? Die Materie der Materialisten war eine betrügerische Mischung aus Politik, Kunst und Wissenschaft; im Gegensatz dazu sollen die Dinge von Belang klar und deutlich die Menge derer erkennen lassen, für die sie von Bedeutung sind. Der mumifizierte Arm erzählt uns nicht, warum Adrian Walker die Mühe auf sich genommen hat, ihn so sorgfältig zu zeichnen; aber wenn das Lied der Nachtigall aus der ersten Vorlesung die Aufmerksamkeit von Vogelkundlern erregt hat, dann wollen wir diesen Aufmerksamkeitskanal jetzt sichtbar machen, statt den merkwürdigen Tanz des ›Inanimismus‹ aufzuführen, wo die reine interesselose Objektivität niemanden interessiert und dennoch eine wichtige Rolle in unseren Auseinandersetzungen zu spielen scheint. 


Vorgabe zwei: Dinge von Belang müssen gemocht werden. Die große erste Szene des ersten Akts der auf den Tisch schlagenden Realisten war, dass Fakten einfach da waren, »ob es Ihnen passt oder nicht« – nur dass diese unbestreitbare Anwesenheit sofort in eine Möglichkeit verwandelt wurde, den Streit zu beenden. Nun müssen wir uns entscheiden: Wenn Angelegenheiten von Belang abgeschlossen werden müssen, dann muss der Streit zu Ende geführt werden, und zwar nicht, indem man auf den Tisch schlägt und sagt: »Der Streit ist zu Ende, denn das sind die Fakten«. Die Fakten sind da und der Streit muss solange weitergehen, bis ein Abschluss erreicht wird. Man kann durchaus sagen, dass die ganze erste Welle des Empirismus von einem merkwürdigen Demokratieverständnis geprägt war und eher eine geschickte Möglichkeit bot, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, indem man ihnen ein vorzeitiges Ende setzte. Fragliche Angelegenheiten müssen diskutiert werden, also lasst uns die Diskussion um Himmels Willen weiterführen, statt sie abrupt zu beenden und am Ende auf brutale Gewalt zurückzugreifen. Haben Sie dieses seltsame Schema nicht satt, bei dem sich erst auf unbestreitbare Fakten berufen wird und dann pure Gewalt folgt? Auch hier lautet die Frage: Können wir es nicht besser machen? Wie kann man höflich sein und sich immer noch auf Fakten berufen?


Vorgabe drei: Dinge von Belang müssen bevölkert werden. Sie müssen, um einen Ausdruck zu verwenden, den ich etwas überstrapaziert habe, zu etwas werden, das explizit als eine »Versammlung« anzuerkennen ist, als Ding, nicht als Gegenstand. Der beste Gradmesser für den unglaublichen Archaismus unserer gegenwärtigen Repräsentationsmodi ist, dass wir Objektivität immer noch so darstellen wie zu Lockes Zeiten, während jedes Stückchen Wissenschaft und Technik inzwischen zu einer verwickelten, kontroversen Angelegenheit, einer Sache, ja einer res geworden ist. Gegenstände sind zu Dingen geworden, und dennoch haben wir keine Möglichkeit, sie darzustellen, außer mittels der Bifurkation von ›reinen Gegenständen‹ auf der einen und menschlichen Organisationen auf der anderen Seite. Selbst wenn die Raumfähre Columbia, um ein drastisches Beispiel zu nennen, als Gegenstand keinen Sinn hat, außer innerhalb der peinlichen NASA, wie während der Untersuchung deutlich wurde, die im Anschluss an die Katastrophe eingeleitet wurde, haben wir noch immer keine Möglichkeit, technische Gebilde anders zu beschreiben als mit Gaspard Monges Zusammenstellungszeichnungen. Was sind das für seltsame Zeichnungen, die nicht in der Lage sind, die wahren Zusammenstellungen zu zeigen, die für die Entstehung selbst des kleinsten Gegenstands notwendig sind?35 Wie kann es sein, dass wir immer noch an Formen des Zusammenseins kleben, die unserer Alltagserfahrung, unserer Tagespresse, unserer täglichen Begegnung mit Artefakten widersprechen? Wie kann eine ganze Visualisierungsindustrie im Hype schwelgen, wenn wir nicht einmal das einfachste Rätsel lösen können: Zeigt mir doch bitte die Menschen, die notwendig sind, um das zu aktivieren, was ihr mit eurer CAD-Software gezeichnet habt! Wo sind die Künstler, die Designer, die Programmierer, die uns endlich aus dem 17. Jahrhundert herausholen und ins 21. Jahrhundert bringen?


Vorgabe vier: Dinge von Belang müssen dauerhaft sein. Für diese Eigenschaft wurden seltsamerweise eher Fakten gepriesen: Sie blieben bestehen, während die unbeständige Geschichte unserer Repräsentationen vergehe. Nur wissen wir mittlerweile, dass dies ein »betrügerischer Export« unserer Repräsentationsweisen von Fakten im Lauf der Natur war. Wenn es eines gibt, was das Foto von Jeff Wall nicht erklärt, dann, durch welche Mittel, welchen Träger, welche Subsistenz es seine Existenz erhält. Das Einfrieren des Bildes ist eine ziemlich schlechte Methode zur Erklärung von Dauer.36 Wie bewahrt man einen Arm vor dem Verwesen? Wer steht hinter der anatomischen Abteilung der Universität Vancouver? Was erlaubt es Adrian Walker, endlos in seiner Rodin-Pose zu verharren? Fakten sind nicht der ahistorische, uninterpretierte und unsoziale Beginn einer Handlungsweise, sondern der außerordentlich fragile und flüchtige vorläufige Endpunkt eines ganzen Flusses konkurrierender Organismen, deren Reproduktionsmittel deutlich gemacht und bis auf den letzten Cent in harter Währung bezahlt werden müssen. Dauer ist etwas, das erlangt werden muss, es ist nicht durch irgendein Substrat oder eine Substanz bereits gegeben. Rufen wir uns hier noch einmal Whitehead in Erinnerung:


 »So ist also die physikalische Dauer der Prozeß ununterbrochener Weitergabe einer bestimmten Wesensidentität durch einen ganzen historischen Ablauf von Ereignissen hindurch. Dieses identische Wesen gehört zum ganzen Ablauf und zu jedem Ereignis dieses Ablaufs. Genau das ist die Eigenschaft der Materie. […] Nur wenn man die Materie für grundlegend hält, ist diese Eigenschaft der Dauer eine willkürliche Gegebenheit in der Tiefenschicht der Naturordnung – wenn man aber den Organismus als Grundlage nimmt, ist diese Eigenschaft das Resultat einer Entwicklung.«37

Ludwik Fleck hat dies sehr schön gezeigt: Das ganze Theater auf den Tisch hämmernder Realisten kann eine Tatsache nicht eine Minute lang am Leben halten. Dinge von Belang dagegen müssen aufrechterhalten, versorgt, begleitet, wiederhergestellt, vervielfältigt, gespeichert, ja gespeichert werden – beim Inhalt unserer Festplatten ist uns das klar, und trotzdem tun wir so, als könnten Fakten für alle Zeiten, kostenlos und ohne jede Sicherungskopie fest bleiben.38 Noch einmal: Wir repräsentieren unsere Erfahrung auf eine Weise, die einem längst vergangenen Jahrhundert angehört, und für eine Szenografie, die wir längst aufgegeben haben. Wir leben in den Ruinen des Modernismus und scheinen uns damit zufrieden zu geben.


Es ließen sich noch viele weitere Vorgaben aufzählen, aber ich habe wohl hinreichend angedeutet, in welche Richtung jener zweite Empirismus geht. Lassen Sie mich zum Schluss ein Gegenbeispiel anführen. Als Otto Neurath seine Bildersprache ISOTYPE entwickelte, versuchte er etwas zu schaffen, was in ähnlicher Weise schon in der Renaissance angestrebt wurde: Es ging um die wirkungsvolle synthetische Verknüpfung einer bestimmten Auffassung von Wissenschaft – dem logischen Positivismus – mit einem bestimmten politischen Ziel – dem Sozialismus des Roten Wien – und einem bestimmten künstlerischen Stil – der Moderne des Bauhaus.39 Als er sein Statistikmuseum aufbaute, wollte er damit die Tatbestände der Ökonomie wieder für diejenigen sichtbar machen, die hauptsächlich unter deren skandalöser Zerstörung zu leiden hatten, nämlich die von der Weltwirtschaftskrise getroffenen Arbeiter.40 Wenn wir seine Initiative von dem Standpunkt betrachten, den ich in diesen beiden Vorlesungen vorgestellt habe, dann bleibt natürlich vom logischen Positivismus, vom Sozialismus und von moderner Ästhetik nicht viel übrig. Und dennoch müssen wir sagen, dass er zumindest die Rechte der Vernunft beachtet hat, indem er für die Fakten eine ganze Szenografie von großer Schönheit und großer Bedeutung erfand. Wir leben heute in einer anderen Welt. Aber Neurath zeigt uns wenigstens exakt die Größe der Aufgabe, die es zu bewältigen gilt. Wenn wir jede Planke seines sprichwörtlichen Schiffes nachbauen müssen, das immer auf offener See repariert werden muss, ohne je ein Trockendock zu erreichen, dann ist das gerade gut genug. Ich glaube, als Europäer hat man die Pflicht, sich zu weigern, in den Ruinen der Szenografie der Moderne zu wohnen, und muss noch einmal den Mut haben, seine Fähigkeiten einzubringen, um für die Dinge von Belang einen Stil zu entwickeln, der dem gerecht wird, was in der Erfahrung gegeben ist.


Anmerkungen


2. Whitehead, Alfred North: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt/M. 1984, S. 75.



3. Visher, Theodora/Naef, Heidi (Hg.): Jeff Wall. Catalogue Raisonné. 1978–2004, Basel 2005.


4. Fried, Michael: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago 1988.


5. Mit Genehmigung zitiert aus einer E-Mail Jeff Walls an den Autor.


6. Ashmore, Malcolm/Edwards, Derek/Potter, Jonathan: »The Bottom Line. The Rhetoric of Reality Demonstrations«, in: Configurations, 2, 1 (1994), S. 1–14.


7. Verwiesen wird auf die Figur Antoine Roquentin in: Sartre, Jean-Paul: La nausée, Paris 1938. (Anm. d. Hg.). 


8. Latour, Bruno/Woolgar, Steve: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton 1986.


9. Siehe dazu die Abbildung in Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.): Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Cambridge/MA 2005, S. 349.


10. Verwiesen wird hier auf: Latour, Bruno: »Nature at the Cross-Roads: The Bifurcation of Nature and its End. Spinoza Lecture I.«, in: Latour 2008, S.7–26. (Anm. d. Hg.). 


11. Sloterdijk, Peter: »Foreword to the Theory of Spheres«, in: Ohanian, Melik/Royoux, Jean Christophe (Hg.): Cosmograms, New York 2005, S. 223–241.


12. Alpers, Svetlana: Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985.


13. Dijksterhuis, E.J.: Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin 1956, S. 482–483.


14. Ebd., S. 484.


15. Whitehead, Alfred North: Denkweisen, Frankfurt/M. 2001, S. 167–168.


16. Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich 2007.


17. Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt/M. 2001.


18. Descola, Philippe: Par-delà nature et culture, Paris 2005.


19. Locke, John: Über den menschlichen Verstand. In vier Büchern, Bd. 1, Hamburg 1976, S. 107–108.


20. Ebd., S. 38.


21. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996.


22. Locke 1976, S. 161–162.


23. Ivins, William Mills. Jr.: On the Rationalization of Sight. With an Examination of Three Renaissance Texts on Perspective, New York 1975, S. 8–9.


24. Ebd., S. 12–13.


25. Latour, Bruno: »Drawing Things Together«, in: Lynch, Mike/Woolgar, Steve (eds.): Representation in Scientific Practice, Cambridge/MA 1990. [Die Doppeldeutigkeit des Titels lässt sich im Deutschen nicht adäquat wiedergeben, da »to draw« sowohl »ziehen« als auch »zeichnen« bedeutet. Anm. d. Übers.]


26. Whitehead, Alfred North: Der Begriff der Natur, Weinheim 1990, S. 16.


27. Ebd., S. 19.


28. Ebd., S. 36.


29. Ebd.


30. Ivins 1975, S. 13.


31. Lowe, Adam/Schaffer, Simon: N01se. Universal Language, Pattern Recognition, Data Synaesthetics. Ausstellungskatalog, Cambridge 2000.


32. Verwiesen wird hier auf: Latour 2008, S. 7–26. (Anm. d. Hg.).


33. Whitehead 1990, S. 20.


34. Ebd., S. 26.


35. Latour, Bruno: »From Realpolitik to Dingpolitik or How to Make Things Public«, in: Latour/Weibel (Hg.) 2005, S. 14–41.


36. Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hg.): Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art, Cambridge/MA 2002.


37. Whitehead 1984, S. 143.


38. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt/M. 1980.


39. Cartwright, Nancy/Cat, Jordi/Fleck, Lola/Uebel, Thomas E.: Otto Neurath. Philosophy Between Science and Politics, Cambridge 1996.


40. Hartmann, Frank: »Humanization of Knowledge Through the Eye«, in: Latour/Weibel (Hg.) 2005, S. 698–707.

Abb. 1: Jeff Wall, Adrian Walker, Artist, Drawing from a Specimen in a Laboratory in the Dept. of Anatomy at the University of British Columbia, Vancouver, 1992, Diapositiv in Leuchtkasten, 119 x 164 cm.

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Bruno Latour

Bruno Latour

ist Soziologe, Wissenschaftstheoretiker, Anthropologe und Philosoph. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Wissenschafts- und Techniksoziologie, er ist einer der Begründer der Akteur-Netzwerk-Theorie.

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Die Verfahren, Produkte und Diskurse der Wissenschaft sowie der Kunst sind in umfassende kulturelle Entwicklungen eingebettet, können zugleich aber auch für diese konstituierend sein. Damit sind sie jedoch aufs Engste an die Problematik der Autorität des Wissens gekoppelt. Schließlich ist die Frage, welche Figurationen des Wissens und der Reflexion sich in beiden Bereichen und gerade an deren Schnittstelle ausbilden und halten können, immer auch daran gebunden, mit welchen Strategien Geltung hergestellt und reproduziert wird. Zwischen Autorität und Subversion vermittelnd, setzen sich die Beiträge des Bandes mit den Transformationen, mit dem Auftauchen und Verschwinden von Wissenselementen im Grenzbereich von Kunst- und Wissenschaftsgeschichte auseinander.