Am Donnerstag, den 5. Juli speiste ich zusammen mit Pierre Boulez, Claire Newman und Olivier Baumont bei Michèle Reverdy zu Abend. Michèle erwähnte, das Ensemble Instrumental de Basse Normandie unter der Leitung von Dominique Debart habe ein musikalisches Märchen bei ihr bestellt. Beim Kaffee hatten wir große Schwierigkeiten, einen Block Eis in Stücke zu teilen.
Ich habe ein Messer dabei verbogen.
Boulez, mit einem neuen Messer in der Hand, stand da, setzte an. Das Eis sprang auf den Boden. Es zerplatzte nicht. Wir wuschen den Block unter Wasser ab. Ich erzählte in groben Zügen eine Geschichte, deren Handlung sich aus der Unzulänglichkeit der Sprache entwickelt. Dieses Motiv, so schien mir, bestimmt sie mehr als jede andere Legende für die Musik. Musiker sind wie Kinder, wie Schriftsteller, die Bewohner dieses Mangels. Kinder verweilen mindestens sieben Jahre in dieser Unzulänglichkeit, die das lateinische Wort infantia ja ebenfalls bezeichnet. Musiker versuchen, sich im Lied davon zu befreien. Schriftsteller richten sich für immer im Entsetzen ein. Im Übrigen wird ein Schriftsteller schlichtweg durch diesen Stupor in der Sprache charakterisiert, der zu allem Überfluss bei den meisten von ihnen dazu führt, dass ihnen die Mündlichkeit verwehrt bleibt. Jean de La Fontaine hatte es abgelehnt, seine Fabeln zu rezitieren. Er nahm zu diesem Zweck die Hilfe eines Schauspielers namens Gâches in Anspruch, der ihm stets zur Seite stand, wenn La Fontaine befürchtete, man könnte ihn mit der Bitte um Vortrag demütigen. Doch welcher Mensch hat nicht die Unzulänglichkeit der Sprache zum Schicksal und das Schweigen als letztes Gesicht?
Ein Glas fiel um. Dann rutschte das Eis auf den Käseteller.
Zwei von uns kamen auf die Idee, Michèle Reverdy um ein Brotmesser zu bitten.
Michèle stand vom Tisch auf, wandte sich an mich und sagte, in diesem Fall plane sie, ein Dutzend Streichinstrumente zu nehmen, ein Holzbläserquintett, ein Cembalo, ein Schlaginstrument.
Während ich mich mit meiner Serviette schützte, erwiderte ich Michèle, dass ich in diesem Fall einen Holzstuhl, eine Schauspielerin, einen Tisch, ein Luntenfeuerzeug und eine Kerze bräuchte. Ich sagte, ich bräuchte auch ein Spinnrad, eine Spindel und einen Stickring. Ich fügte einen Apfel hinzu. Am 17. Juli schickte ich ihr das Märchen.
Am Mittwoch, den 7. Oktober 1992 kam ich aus Island zurück. Ich war erleuchtet: Ich hatte den Höllenschlund gesehen, den Platz, an dem die Erde ebenso unwirtlich ist wie das Leben, dem sie übrigens wenig Schutz bietet. Ich hatte den Ort gesehen, an dem Gott nicht existiert. Ich hatte den Ort gesehen, von wo die alten Normannen kamen, die in Caen an Land gingen, Avranches plünderten. Am nächsten Tag, Donnerstag, den 8., setzte sich Michèle ans Klavier und spielte mir die Hauptmotive vor, die sie notiert hatte. Ich bewunderte die Melodieführung der Lieder, die sie rasch mit Bleistift aufgezeichnet hatte und die sie mit ihrer Stimme wiederzugeben versuchte. Wir nahmen uns noch einmal das gesamte Märchen vor in der Absicht, die Abfolge der Pausen unvorhersehbarer zu machen, um so die Kontraste und die durch sie hervorgerufene Wirkung der Verlassenheit zu verstärken, weil wir die Absätze in den Partien hervorheben wollten, in denen die weibliche Stimme als einzige auf der Bühne blieb. Wir änderten den Text ab. An meinen Schreibtisch zurückgekehrt, tippte ich den verdichteten Text, zu dem wir gelangt waren, in meine Schreibmaschine. Am 15. Oktober schickte ich ihn an Michèle Reverdy.
Dieser komprimierte Text wurde mit der Partitur gedruckt. Hier veröffentliche ich nun den kompletten, ausgearbeiteten Text.
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Für jemanden, der sie abschreibt, für eine Sängerin, die sie singt, für eine Schauspielerin, die sie spricht, für den Leser, der ihnen folgt, ohne sie zu sehen, und sich in ihre Bedeutung vertieft, erscheinen die Wörter weniger unbegreiflich als für den, der sie schreibt. Um sie zu schreiben, sucht er sie. Wie das Messer, das über einem Eisblock schwebt, der unter ihm wegrutscht, ist der Schreibende ein Mann, der mit festem Blick und angespanntem Körper die Hände ausstreckt und um Worte ringt, die ihn fliehen. Alle Namen liegen auf der Zunge, oder, im Französischen, auf der Zungenspitze, sur le bout de la langue. Die Kunst besteht darin, sie bei Bedarf herbeizurufen, um den winzigen schwarzen Körpern wieder Leben einzuhauchen. Ringsum warten das Ohr, das Auge und die Finger wie ein Mund auf dieses Wort, das der Blick zugleich intensiv und nirgendwo, weitab vom Körper, in der Tiefe des Raums sucht. Die Hand, die schreibt, ist eher eine Hand, die in der Sprache wühlt, die ihren Dienst versagt, die nach der überdauernden Sprache tastet, die sich verkrampft, erregt, die mit den Fingerspitzen nach ihr bettelt. „Bout“ (Ende, Spitze) und „debout“ (aufrecht) sind Wörter der Gegenwart, die aus der Sprache der fränkischen Soldaten stammen, aus der Zeit, als diese in Gallien einfielen. „Bautan“ bedeutet Druck ausüben im Sinne von drängen und treiben, aber auch knospen, austreiben, sprießen, sprossen (wie in den französischen Wörtern „bouter“ und „pousser“). „Sur le ‚bout‘ de la langue“, auf der Zungenspitze: Etwas keimt, ohne aufzublühen. Etwas sprießt, ohne auf die Lippen dessen zu gelangen, der in die Stille lauscht. Die Knospe („le bouton“) des unsichtbaren Aufblühens der Sprache sitzt im Mund und ist nicht vom Kauvorgang betroffen, ebenso wenig wie von der Atmung, die dazu dient, das Leben aufrecht zu erhalten. Aristoteles meinte, Sprache sei ein Luxus, ohne den man ebensogut leben könnte. Eine Knospe („bouton“) sprießt an Bäumen wie ein Bläschen („bouton“) im Mund, wie ein Knopf („bouton“) an der Kleidung oder ein Pickel („bouton“) im Gesicht. Jugendliche finden zu Recht, dass Pickel hässlich sind, sie fühlen sich durch sie entstellt: Sie verlieren das Gesicht bis ans Ende ihrer Tage. Pickel sind Spuren einer Zukunft, in der der Tod den Nachweis erbringen wird, dass er zu keimen begonnen hat und auf der Erde erschienen ist, wo die Sexualität thanatisch wird, das heißt genital, das heißt hervorsprudelnd, bevor sie in einem Scheintod ihre Kraft verliert. Das eigene Gesicht ist mehr eigen als ein Eigenname, auch wenn es das Leben nicht länger erhält, als die Sprache es sicherstellen könnte. Die Agonie ist der Pickel, den die Sprache gegen die Spitze ihres Gesichts treibt. Knospen auf Bäumen sind Blütenknospen. Knöpfe an Mänteln sind Knospen aus Perlmutt.
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Eingemummt in unsere Mäntel und zugeknöpft bis obenhin drängten wir uns in den Bahnhof von Lisieux. Es herrschten sechs Grad unter null. In Hérouville erwarteten uns die Gewölbe, der Regen, das Moos, die Stille, das Eis. Der Anblick von Avranches wühlte mich stark auf. Ich habe viel von Pierre Daniel Huet kopiert. Er war Musiker, Philologe, Jansenit, Gelehrter, Cartesianer. Von ihm stammen zwei ausgezeichnete Bücher: der Traité sur l’origine des romans (Traktat über den Ursprung der Romane) und eine lange, grausame, freudianische Autobiografie, die er auf Latein verfasst hat mit dem festem Willen, „sie der üblen Nachrede und dem Blick all jener zu entziehen, die nichts davon verstehen“. Im Mai 1680 kehrte er, nachdem er Erzbischof von Avranches geworden war, nach Caen zurück. „Er verbrachte die Sommer in Aunay, die Winter in Paris. Er wollte auch das Land seiner Vorfahren sehen und begab sich nach Dänemark. Von dort gelangte er nach Norwegen und nach Schweden. Er versäumt es nicht, des Ritters Des Cartes an seinem Grab zu gedenken.“ In seinen Briefen beschreibt er jene „Holzhäuser, deren Dachfirste grüne Wiesen mit Blumen sind.“ In Caen regnete es. Le nom sur le bout de la langue entstand am 15. April 1993 in Lisieux, am 18. in Hérouville, am 20. in Avranches. In der Brasserie Le Miroir gab es laut Speisekarte Kaffee-Eis zum Dessert. Michèle Reverdy zögerte. Ich bestellte den Kuchen von der Tageskarte.
geboren 1948, zählt zu den renommiertesten Gegenwartsautoren Frankreichs. Er ist Verfasser eines bedeutenden literarischen Werks aus über dreißig Romanen, Erzählungen und Essays, das in viele Sprachen übersetzt wurde, in Deutschland bislang jedoch weitgehend unbeachtet blieb. Ebenso innovativ wie erfolgreich bedient er immer wieder das historische Genre. Sein Roman »Tous les matins du monde« (dt.: »Die siebente Saite«) lieferte das Buch zu Alain Corneaus gleichnamigem Film. Aufgewachsen in Le Havre in einer Musikerfamilie, lebt Pascal Quignard heute fernab vom Pariser Literaturbetrieb in der Normandie und verfolgt unverbrüchlich sein schriftstellerisches Projekt, das sämtliche Gattungen sprengt und die Gewalt der fernsten Vergangenheit zu unserer nächsten macht.