In einem Dialog Xenophons erkundigt sich Sokrates bei Parrhasios über das Wesen der Malerei. Sokrates wurde 399 v.u.Z. zum Tode verurteilt und hingerichtet. Xenophon verfasste die Memorabilia um 390 v.u.Z. in Skillus.
Eine Tages betrat Sokrates in Athen das Atelier des zographos Parrhasios. Zographos ist das griechische Wort für Maler (derjenige, der lebendig schreibt). Auf Latein heißt es artifex (derjenige, der Kunst, ein künstliches Werk – artificialis – herstellt).
„Sag, Parrhasios“, begann Sokrates, „ist nicht die Malerei (grafike) eine Abbildung der Dinge, die man sieht (eikasia ton oromenon)? Bildet ihr nicht Vertiefungen und Erhebungen, Helles und Dunkles, Hartes und Weiches, Unebenes und Glattes, Jugend und Alter des Körpers mit Hilfe der Farben nach?“
„Ganz recht“, antwortete ihm Parrhasios.
„Und wenn ihr nun wirklich schöne Gestalten darstellen wollt (kala eide), so fügt ihr, da es nicht leicht ist, einen Menschen zu finden, an dem alles tadellos ist, von mehreren zusammen, was an jedem das Schönste ist. Daraus schafft ihr dann einen Körper, der vollkommen schön ist?“
„In der Tat, so machen wir es“, sagte Parrhasios.
„Wie aber“, rief Sokrates aus, „ahmt ihr nach, was am liebreizendsten ist, was am meisten berührt, was am angenehmsten, am überzeugendsten und am begehrenswertesten ist, nämlich den Ausdruck der Seele (to tes psyches ethos)? Oder kann man es überhaupt nicht nachbilden (mimeton)?“
„Wie sollten wir es denn nachbilden, Sokrates?“, erwiderte Parrhasios. „Die Seele hat weder Gleichmaß (symmetrian) noch Farbe (chroma) noch sonst eine der Eigenschaften, die du soeben genannt hast. Sie ist nicht sichtbar (oraton).“
„Aber“, wandte Sokrates ein, „erlebt man nicht immer wieder, dass Menschen einen manchmal freundlich und ein anderes Mal feindselig (blepein) anblicken?“
„Das mag schon richtig sein“, erwiderte Parrhasios.
„Lässt sich dies nicht durch den Ausdruck der Augen (ommasin) nachbilden?“
„Aber sicher“, sagte Parrhasios.
„Und sind die Gesichter (ta prosopa) von Freunden, die am Glück oder Unglück eines Menschen Anteil nehmen, dieselben wie die Gesichter derer, die sich nicht darum kümmern?“
„Bei Gott, nein!“, sagte Parrhasios. „Beim Glück strahlt die Freude auf dem Gesicht. Beim Unglück legt sich ein Schatten über den Blick (skythropoi).“
„Man kann diese Blicke also nachbilden (apeikazein)?“, fragte Sokrates.
„Aber sicher“, antwortete Parrhasios.
„Sollen im Gesicht (prosopou) und an den Körperhaltungen (schematon), die die Menschen zeigen, wenn sie stehen oder sich bewegen, nicht Erhabenes und Edles, Demut und Unterwürfigkeit, Mäßigung und rechtes Maß, das Übermaß (hybris) und auch das, was keine Vorstellung von Schönheit (apeirokalon) hat, durchscheinen (diaphainein)?“
„Ganz recht“, sagte Parrhasios.
„Dann müssen also auch diese Dinge nachgebildet werden (mimeta)“, sagte Sokrates.
„Aber sicher“, erwiderte Parrhasios....