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Was an ­Dante ist Avantgarde?

Mehdi Belhaj Kacem, Philippe Sollers

Wofür steht der Tod der Avantgarden?

Übersetzt von Michael Heitz

Veröffentlicht am 11.07.2019

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Mehdi Belhaj Kacem: Philippe Sollers, Sie waren 23 Jahre lang Herausgeber der Zeitschrift Tel Quel, wohl die letzte bedeutende Literaturzeitschrift, die man als »avantgardistisch« bezeichnen kann. Sie haben dort die damals bedeutendsten Schriftsteller der sogenannten »Avantgarde«, wie Pierre Guyotat, Maurice Roche, Jean-Jacques Schuhl, aber auch ihre eigenen Texte veröffentlicht, zudem damals noch weitgehend unbekannte Professoren wie Jacques Derrida, Roland Barthes oder Gérard Genette. Darüber hinaus haben Sie Texte von Pierre Boulez oder Jean-Luc Godard publiziert, jeder auf seinem Gebiet eine Schlüsselfigur der Avantgarde. 1983 haben Sie die Editions du Seuil verlassen, den Verlag nicht nur der Zeitschrift, sondern auch Ihrer eigenen Bücher, um daraufhin zu Gallimard zu wechseln, wo Sie die Zeitschrift L’infini gründeten, die sich in mehrerer Hinsicht von Tel Quel unterscheiden sollte. In Ihrem literarischen Schaffen findet dieser Wechsel seine Entsprechung in der Wegstrecke, die von Paradis (1981), einem interpunktionslosen monologischen Schreibfluss von fast 300 Seiten, zu Femmes (1983) führt, das sich mit seiner deskriptiv-psychologischen Schreibweise an einen relativ »klassischen« Romanstil hält. (Ich möchte anmerken, dass ich das keinesfalls abwertend meine, sondern dass für mich die »Form« von Femmes auf eine gewisse Weise mit ihrem »Inhalt« korrespondiert, der bereits so etwas wie einen Totenschein der Avantgarden darstellt.) Diese Geste wurde damals von vielen als Verrat aufgefasst, als Verrat an einem gewissen avantgardistischen Geist zugunsten des Mainstream. In meinen Augen handelte es sich jedenfalls um eine sehr bedeutende Wegmarke beim Untergang der Avantgarden. Das Ende von Tel Quel geht in meiner Lesart einher mit der fast vollständigen Aufgabe Ihres eigenen »experimentellen« Schreibens, was allgemein eines der spektakulärsten Symptome des Scheiterns der Avantgarden darstellt, deren Überreste hier gewissermaßen einer Autopsie unterzogen werden sollen.

Als Sie Anfang der 1960er Jahre gemeinsam mit Jean-Edern Hallier die Zeitschrift gründeten, die später zur wichtigsten avantgardistischen Literaturzeitschrift ihrer Generation werden sollte, verstand diese sich aber keineswegs als eine solche. Das Vorbild schien vielmehr die Nouvelle revue française zu sein, das Gesicht des Verlags Gallimard nahezu das ganze 20. Jahrhundert über.

Nun also zu meiner ersten Frage: Wo würden Sie bei Tel Quel den Wendepunkt hin zur Avantgarde ausmachen?

Philippe Sollers: (schweigt) Ich muss sogleich die Klassifizierung in Frage stellen, die meiner Meinung nach zutiefst normativ und akademisch ist und bereits vom Erbe der Avantgarde beeinflusst. Gerne kann ich ein weiteres Mal tun, was ich immer tue: einen Katalog, oder genauer, eine veritable Enzyklopädie dessen zu entwerfen, was sich im 20. Jahrhundert und eigentlich schon seit...

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Mehdi Belhaj Kacem

Mehdi Belhaj Kacem

ist ein tunesisch-französischer Autor und Philosoph. Bereits mit 20 Jahren schrieb er seinen ersten Roman Cancer. Schon vor dem Erscheinen seines zweiten Romans 1993  begann er sich der Philosophie zuzuwenden und veröffentlichte in den letzten Jahren zahlreiche, kontrovers diskutierte Essays. Auf Deutsch sind u.a. erschienen: Artaud und die Theorie des Komplotts (2017), Protreptikos zur Lektüre von ›Sein und Sexuierung‹ (2012), Inästhetik und Mimesis (2011). ­Gemeinsam mit Jean-Luc Nancy ist er Herausgeber der neuen Reihe ­­anarchies bei DIAPHANES.