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Bruce Bégout: Meine Melancholie
Meine Melancholie
(S. 69 – 74)

Neo-Phantastik par excellence

Bruce Bégout

Meine Melancholie

Aus: Sphex. Krankhafte Phantasien, S. 69 – 74

Für Bernard Quiriny 


Ruhig, stumm, einsam, dinierte V in einer Pariser Brasserie. Er bedauerte es nicht, allein zu sein. Wie ein romantischer Betrachter auf einem Felsengipfel beobachtete er erstaunten Auges die Welt um sich herum. Er delektierte sich an dieser besonderen Atmosphäre von urbaner, leerer und hypertropher Erregung, die den Eindruck erweckt, mit der Welt phasengleich zu sein, voll an ihrem Lauf teilzuhaben. Die Passanten auf der Straße gingen mit der Entschlossenheit derer, die jede Erfahrung, selbst die banalste, bis auf den Grund durchleben wollen, die Autos bewegten sich im stoßweisen Rhythmus der beginnenden abendlichen Verstopfungen, und unter den falschen Weinlauben der Gipsgesimse aßen die Gäste des Restaurants, tranken sich zu und diskutierten mit einer Begeisterung, als ob sie unbewusst versuchen würden, mit diesem ganzen abendlichen Wirbel eins zu werden. Während er seine Austern schlürfte, bemerkte V jedoch an der anderen Seite des Saals in einer Ecke, die ruhiger und abgeschiedener war, einen unauffälligen Mann mittleren Alters, der an der allgemeinen Frenesie nicht mitzuwirken schien, sondern in eine ganz persönliche Angelegenheit vertieft war.


Wenn er nicht mit dem Schneiden seines Stücks Fleisch oder mit seinem Glas beschäftigt war, hörte der seltsame Gast in der Tat nicht auf, sich heftig den Bauch zu reiben. Unter seinem Hemd verborgen, kam und ging seine rechte Hand, wechselte den Rhythmus, knetete energisch, lockerte dann ihren Griff. Niemand schien sein obszönes kleines Spiel bemerkt zu haben. Weder die anderen Gäste noch die Kellner. Außerdem machte der Mann sich gar nichts daraus, er berührte sich, ohne sich um den Blick der anderen zu kümmern, ohne auch nur eine Kopfbewegung oder ein Stirnrunzeln zu gewahren, das ihn hätte beschämen können und zweifellos verpflichtet hätte, mit dieser einsamen Manie aufzuhören. Zwar führte er seine Berührungen diskret und leise aus, aber er versuchte sich auch nicht unbedingt zu verstecken. Gelassen, mit einer Art schwebender, aber präziser Aufmerksamkeit, wie ein griechischer Hirte, der im Schatten eines Olivenbaums sitzend die Perlen seines alten Rosenkranzes abbetet, streichelte er sich den Bauch. 


V dachte sofort, dass der Mann masturbierte, aber nach reiflicher Überlegung verwarf er diese rohe Vorstellung. Erstens lag die Partie des Bauchs, die er streichelte, zu hoch; zweitens gehörte der Gesichtsausdruck, den die Streicheleien auslösten, nicht dem Register des Genusses an. Und drittens dauerte dieses Gehabe schon zu lange, es war zu monoton und führte zu keinem Höhepunkt. Es handelte sich also um etwas anderes. V glaubte also, der Gast würde sich...

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Bruce Bégout

Bruce Bégout

ist Schriftsteller und Philosoph phänomenologischer Ausrichtung und hat sich als Autor literarischer Essays und Erzählungen einen Namen gemacht. Er forscht zur Urbanität, zum Allgemeinplatz und zum Alltäglichen, hat das amerikanische Motel in all seinen Facetten beschrieben und unterrichtet derzeit an der Universität Bordeaux.

Bruce Bégout: Sphex

Bruce Bégout

Sphex
Krankhafte Phantasien

Übersetzt von Heinz Jatho

Broschur, 256 Seiten

In siebenunddreißig giftigen Mikro-Fiktionen erweist sich Bruce Bégout als Spezialist für den Horror des Alltäglichen, als kalter Sezierer unguter Seltsamkeiten. Was man nicht mehr sieht und spürt, was uns aber maximal bestimmt und überwölbt, wird binnen weniger Sätze zum Protagonisten der Handlung und bringt auf drei, vier Seiten wie beiläufig die Welt zum Kippen. Vor dem Hintergrund postindustrieller Nicht-Orte, den Gewerbegebieten, Altenheimen, Autobahnen, Möbelhäusern, Baustellen und Seelenlandschaften unserer Zeit laboriert ein menschlich-allzumenschliches Personal an seinen ganz und gar zeitgenössischen, will sagen: so beliebigen wie zwanghaften Obsessionen. Bégouts »krankhafte Fantasien«, eines David Cronenberg und J.G. Ballard ebenbürtig, sind geformt an jenem »Spleen de Paris« Charles Baudelaires, der dem Ennui des 19. Jahrhunderts seine Figuren und Szenen gab. Im grellen Licht dieser Prosa zeichnet sich ab, was Literatur – jenseits des so sorgsam unterhaltenen Identifikationsangebots – gegenwärtig einzufordern im Stande ist.