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Tim Etchells: Carmen von Bizet
Carmen von Bizet
(S. 125 – 132)

Das weiße Rauschen schwarzer Träume mit 9600 kbs

Tim Etchells

Carmen von Bizet

Übersetzt von Astrid Sommer

Aus: Endland, S. 125 – 132

Nachts wird Carmen oft vom Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen, aber am andern Ende ist nicht etwa ein Mensch mit einer Stimme, um mit ihr zu sprechen, sondern nur ein elektronisches Geräusch der »Nacht«. Monatelang geht das so. Sie kann nicht schlafen, kann nicht schlafen: Das Telefon klingelt, sie nimmt ab, und dann ist da nur dieses Gequietsche, weißes Zischen von Träumen aus der Hölle, alles völlig elektrisch.

Egal. Wie’s mit der Beschwerdekultur usw. usw. so läuft, irgendwann kommt ein schwarzer Kerl von der Telefongesellschaft und sitzt für eine Nacht in ihrem Haus, zum Entschlüsseln. Carmen schläft ein bisschen, fühlt sich aber komisch, weil der da im andern Zimmer rumsitzt. Der Schlaf kommt langsam, oder gar nicht; als sie am Morgen aufsteht, sitzt er immer noch an der gleichen Stelle – am Tisch, ein Päckchen nudistische Spielkarten vor sich ausgeteilt.

Er sagt: »Irgendein elektronisches Gerät versucht mit Ihrem Telefon zu kommunizieren.« Keine weiteren Erklärungen. Er geht. Carmen weint.


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Carmen geht eine Zeitlang gar nicht mehr ans Telefon; sie versucht, die Dämonen zu bannen, indem sie alle Anrufe ignoriert. Aber das funktioniert natürlich nicht. Sie muss schließlich doch abermals abnehmen.

Eines Nachts aber wahr alles anders. Sie hat getrunken. Das Telefon klingelt und sie nimmt wieder ab – ihre Ohren treffen auf die gleiche verdammte Melodie – das weiße Rauschen schwarzer Träume mit 9600 kbs – und dieses Mal, zum 1. Mal, versteht sie es.

Offenbarung(en). Wie in dem religiösen Buch. (5 Buchstaben, beginnt mit »B«.)

Carmen sitzt wie gelähmt, lauscht dem Quietschen, Schwall, dem Chaos verrückter Datenklänge – aber ihre Ohren können es entschlüsseln und ihr »böses Herz«© ist hingerissen von den Worten.


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Was immer es ist, dort am anderen Ende, es erzählt Carmen etwas. Sie tinkt (irischer Slang für denken) es sich als verquaste, unschreibbare Chronik Endlands (sic!) – eine Fehlermeldung der Geschichte – keine Kompromisse, keine Bänder gelöscht, keine Akten geschreddert in diesem Keller.


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Stimme spricht:

…eine Kavalkade verlogener, ehebrecherischer Politiker und toter Prinzessinnen, eine Landschaft, in der sich 24-Leinwand-Multiplexe unkontrolliert multiplizieren…

Carmen lauscht, die Arme um sich geschlungen, wie ein zu fest verschnürtes Paket, steht in der Kochnische ihres Apartments, steht still auf Linoleumfliesen.

…die Hinrichtung von Queen Elizabeth II, die Himmelfahrt von Bobby Sands, der Millennium-Strip-Marathon, live übertragen für die ganze Nation, die brutale Dezimalisierung der Zeit mit all ihren uns mittlerweile vertrauten Konsequenzen…

Der Morgen graut. Sprüche spuken durch das Rauschen – Worte: LANGSTRECKE, NIGGER RAUS und HOTEL BINÄR. Das Wort SUBLIMINALISSIMO!, ein T-Shirt mit der Aufschrift LIEBE IST DIE DROGE, BIER IST DAS HEILMITTEL.


Carmen lauscht und lauscht (3 Monate) und als die Bullenschweine schließlich vorbeikommen und sie wegen Mietrückstand und Unkenntnis vom BRITISCHEN GESETZ rausschmeißen, ist sie immer noch am Telefon, lauscht, flüstert.


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Carmen vor Gericht.

In den Fängen eines Justizsystems, lasterhafter und korrupter als irgendetwas, womit ein Charles »Kostümdrama« Dickens je hätte aufwarten können. Das Dezernat für Kapitalverbrechen der West Midlands ist zuständig für ihren Fall, noch strengere Sicherheitsvorkehrungen als in den H-Blocks, und die Verteidiger, die sie vertreten, vergnügen sich bei ihren prahlerischen Schlußbemerkungen mit zahlreichen Wortspielen. Gelangweilte reiche Leute, die es eilig haben, in ihr Doppelnamen-Zuhause zurückzukommen.

Eine von ihnen (eine Frau namens _________ ) ist aufgestanden und spricht. Die anderen Verteidiger übergeben ihr einen Zettel – egal welche Wörter auf dem Zettel stehen, sie muss sie in ihre Ausführungen für die Geschworenen einbauen. Ha ha. Am Anfang ist das nicht so schwer: Sie muss die Wörter »Gerichtsbarkeit« und »Verantwortung« und »Chromoesomen« (sic!) (letzteres etwas schwieriger) einflechten. Aber im Laufe des Tages werden die Anforderungen des Spiels immer härter. (Jedes Spiel geht an die Grenzen.) Ihre Kollegen reichen ihr einen Vermerk mit den Wörtern »schuldig wie Abschaum« und »kongenitale Lügnerin«. Schwer, diese Wörter zu verwenden ohne Verleumdungen zu streuen. Die Geschworenen verknacken Carmen für eine ziemlich lange Zeit.


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Carmen im Gefängnis.

Sie vermisst ihren Freund, das »elektronische Gerät«; sie träumt von ihm/ihr, wie das viele Leute tun. Seine heisere Stimme ruft in der »Nacht«.

Wenn sie im Bett liegt, wenn sie in der Poststelle arbeitet, flüstert Carmen in der gleichen seltsamen Sprache – heisere Elektrik, Hintergrundgeräusch. Andere Häftlinge finden sie seltsam, aber ein paar klinken sich ein in diese mündliche Überlieferung. Insassinnen/Intimas. Carmen sagt, dass es für Leute wie sie Medikamente gibt, aber sie nimmt sie nicht.

Sie spricht davon, dass alles dereguliert wird. Dass die Titanic nochmal untergeht. Sie spricht von damals, als die Soldaten mitten in der Nacht kamen und die ganze »Glückliche Britische Familie des Showbiz« zusammentrieben und alle erschossen – Tarby an »Babs« Windsor geklammert, Chris Evans, Wolf Man, Shane Richie, Leg Blackstone, Paula, Brucie, Pinky und Parky, Emma Thompson und die andere und Sting und Sunny Peterson und alle andern, tief im Shitpop – und die Viehlaster verfrachteten sie in das Vergessen kärglicher Gräber am Straßenrand.

Stell dir eine Szene vor wie dieser Ausschnitt aus »Versprengte Ketten« (PAL EuroVision FSK 18): sie werden alle rausgelassen, um sich »die Beine zu vertreten«, Lenny Henry redet mit einem Veteranen

(R_________) und die Bullenschweine legen die Waffen aufs Stativ und mähen die Ärsche nieder. (»Hab der Erde einen Gefallen getan…«)


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Carmen schläft.

Im Traum versucht sie, einen Umriss der Nation (Endland) zu zeichnen. Grüne Augen, redlich »konzentriert«©.

Aber der Umriss verändert sich, amöbenartig, verschiebt sich und pulsiert, ein wissenschaftliches Experiment (Biologiestunde im Winter 1989) – Eingemeindung von Städten, Zerstörung der Grenzen, Erosion des Raum-Zeit-Gefüges – Straßenbahnen fahren, Zaren werden wieder eingesetzt – Walt Disney als symbolisches Staatsoberhaupt.

Schnauze voll vom weißen Rauschen. Du kennst nicht mal deine EIGENE Geschichte, wie kann ich dir da meine erzählen?

Der Traum endet abrupt, ein video-tauglicher Mann richtet eine abgesägte Schrotflinte auf Carmen (der Engel des Todes, der in all den Träumen herumspukt, jeder kennt das Programm). C. steckt ihren Daumen in den Lauf (der Schrotflinte), um die Explosion zu verhindern… die Kugeln werden abgefeuert, das Ding schwillt schnell an, zerbirst, und Ruß strömt auf den Schützen nieder und das Rauschen in das Schlafzimmer/die Gefängniszelle ihres Morgens.

Immer wenn ich Ding schreiben will, schreib ich Gin.

Endland TRÄUMT.


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Carmen verliert ihren Namen. Im Gefängnis nennen sie sie TOD.

Eines Nachts verlässt C/T ihre Zelle – schlüpft zwischen den Stäben

durch wie Anorektikerinnen das können.

Das Telefon in der Halle läutet.

Sie geht dran. Nicht dass sie wirklich denken würde »Rate mal, wer…« – es ist so klar für sie wie für jeden andern.

Weißes Rauschen am Telefon.

(Versehentlich tippe ich weißer Rausch oder weine Rauch…)

01111 10000 1000901001000101111000110

010101010000 101010 0101010100 101010 0010

01010101010100000101010000001011101101010101010

01010100 01010 01010 0101010 01000010101010101101

010101010 10101111100101010101010101001000010101

0111101010111101001110001110011010100101


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Was der Anruf erzählte.

Die Geschichte Endlands setzte sich in 26 illust. Episoden fort. Abscheuliche Drohungen und frühe Sperrstunde, Gratisschuber und 2 Hunde, eingesperrt auf den Rücksitzen von Autos. Schießbefehl und kostenlose Milch. 2 Idioten, die in einem Museum wohnen. Wegen eitrigem Kneipenschiss, wegen Wetter und Sex in einem Iglu-Zelt, Übelkeit im Chemieklo und »Reform« des »Wohlfahrts«-»Staates« (Wort für Fäkalien, vier Buchstaben, K-nochwas-C-nochwas).

Weil total im Arsch. Und auf die 50 zugehend. Und klassisches Klassensystem und zügel deine Sehnsüchte und weißt du nicht weißt du nicht weißt du nicht, Stehlen von Grabbeigaben für einen bizarren Schrein im Haus. Wegen der Gleichsetzung von Jungs mit Motorrädern. Weil Mädchen in erster Linie über einen Mangel definiert werden. Wegen der Straßenlaternen und langen Fahrten auf der Autobahn und weil Elvis auf dem Weg woandershin hier nur mal kurz hielt. Weil die Drogenfahndung Leicester Forest East überwacht. Wegen der Raststätten des Kreuzwegs. Weil. Weil. Wegen. Erinner dich an diese Geschichte, von der du als Kind gelesen hast: Wenn Frauen ein Rätsel sind, dann sind Männer ein Krimi.


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Miranda. (FALSCHER NAME).

Carmen. Carmen stand in der Halle von Holloway. Hölle der Halle. Lauscht dem Telefon. Endland. ausschneiden. einfügen.

0111101010111101001110001110011010100101


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KEINE GESCHICHTEN NUR EINE (AN)SAMMLUNG VON INDIVIDUEN.

Jedes Spiel geht an die Grenzen.

Der Körper auch.


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Weil explodiert, weil Xplodiert.

Weil.

Du ein Lügnenpack und Mördergesindel.

Lausch der »traurigen Musik« in deiner Nacht. Vergiss alles.

Wegen der sentimentalen Klavierklänge. Märchenmelodien. Cheggers Plays Pop. Karaoke Bar der Insekten.

Hast du je das Gefühl?


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Carmen. Car. Men.

Ulkiges Amen (Name), wenn man‘s so auseinandernimmt.

Dünnschiss haben. Einen Schuss haben.

Stinklaune haben. Einen Ständer haben. Durchblick haben.

Verlust haben.

Nichts haben.

Verloren.

Carmen.


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ERZÄHL DIESE GESCHICHTE ALLEN KLEINEN KINDERN ÜBERALL.

Erzähl ihnen, wie sie an der letzten Straßenlaterne vorbei und in die Dunkelheit ging oder ein Taxi nahm und nicht mehr »war«.

Das ist der wahre Ausbruch aus dem Gefängnis.

Erzähl deinen Kindern, dass es ihre Stimme ist, die sie im Keller hören, dass die Stimme in der Nacht ihre ist, dass es Carmens Flüstern ist, was sie in ihren so versehrbaren Träumen aus dem Kleiderschrank hören, Carmen spricht weiter, flüstert von Endlands Blut und Geschichte.

SAG IHNEN DASS CARMEN die Kinder holt die nie ihre Hausaufgaben machen.

Sag ihnen das.

Sag ihnen irgendwas.

Sag ihnen dies:

DIE MENSCHLICHE SEELE IST NICHTS ALS EIN STRICHCODE.

Die Augen eines toten Mannes sind ein Fluch für die, die sie erblicken.

Ich bin fort von hier.

Ich bin draußen, Mann.

Ich sage: Später, Jungs, später.

Die Kneipe füllt sich mit Bergarbeitern, Windhunden, Kampfhunden und Prolls mit nagelneuen Eigenheimen.

Kerl am Tresen sagt »Verdammt, hier fängt’s doch wirklich an nach Realismus zu stinken.«

Die Reisenden ziehen ihre altmodischen Hüte und Pelerinen an. Beide ab.

Ein Spielautomat spielt Carmen (Remix).

ERZÄHL DIESE GESCHICHTE ALLEN KINDERN ÜBERALL.

Nenn es eine Historiektomie von Endland (sic!).

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Tim Etchells

Tim Etchells

arbeitet als Theaterautor und Performer, Regisseur und Schriftsteller. Einem breiten Publikum ist er vor allem durch seine Arbeit mit der Performance-Gruppe »Forced Entertainment« bekannt, die er 1984 gründete: eines der einflussreichsten Theaterprojekte der letzten Jahrzehnte. Daneben erschloss sich Etchells andere künstlerische Ausdrucksformen als Schriftsteller (»Endland Stories« erschien erstmals 1999, im Jahr 2001 folgte »Dictionary for the Modern Dreamer«) und Performance-Künstler. Tim Etchells lebt im nordenglischen Sheffield und in New York.

Weitere Texte von Tim Etchells bei DIAPHANES
Tim Etchells: Endland

Tim Etchells

Endland

Übersetzt von Astrid Sommer

Gebunden mit Schutzumschlag, 240 Seiten

Maria hat wundertätige Kräfte und setzt den verkorksten Typen aus der Siedlung die Köpfe wieder ein, wenn sie sich aus der Verankerung gelöst haben. Von einem Tag auf den anderen wird Lisa von sämtlichen Automatiktüren der Stadt ignoriert – sie öffnen sich einfach nicht mehr. Wenn Homers »Ilias« nach Endland (sic) verlegt wird, heißen die Götter Haferbrei und Spachtel, Helena, Apollo 12, Aldi und Blowjob, und der Krieg findet in einer »gesetzlich vorgeschriebenen, jeden Samstag auf sämtlichen Kanälen laufenden« Quizsendung statt. Zwischen Sherwood Forest und Computerspiel, den Vorstadtsiedlungen, Einkaufshöllen und namenlosen Schlachtfeldern unserer Gegenwart sind die prekären Landschaften Endlands angesiedelt. Seine Trümmerfelder sind bevölkert von dilettierenden Zeitreisenden, Nacktputzern, Mördern und Fernsehansagern, von Mutanten, herumvagabundierenden Kindern, alleinerziehenden Müttern und marodierenden Söldnern. Virtuos verschränkt Tim Etchells verschiedenste Genres und Versatzstücke, spielt mit abgenutzten Wendungen aus Slang, Fernsehen und Popkultur, Werbung und Klatschpresse. Eine Schreibweise, die bisweilen geradezu körperlich schmerzt und zwischen irrwitziger Komik, äußerster Brutalität und abgründiger Traurigkeit hin und her schaltet. Eine Schreibweise, die sich nicht lange mit Realismus aufhält. Tim Etchells ist hierzulande vor allem durch seine Arbeit mit Forced Entertainment bekannt, »der derzeit brillantesten Theatergruppe Großbritanniens« (The Guardian). Mit »Endland« legt er ein Kompendium sardonischer Kurz- und Kürzestgeschichten, Gruselmärchen und Lehrfabeln für das digitale Zeitalter vor. Für den deutschen Leser wurde die Sammlung um elf bislang unveröffentlichte Texte erweitert.