Die Wirklichkeit vor das Tribunal der Kunst zerren
Ein Gespräch von Andreas Tobler mit Milo Rau
PDF, 18 Seiten
»Man soll nicht probieren in der Kunst, man soll wetten«1 – Milo Rau mag kein Theater mit geregelten Arbeitszeiten. Statt ums ›Probieren‹ geht es um Recherchereisen, Suche nach Zeugen, Archivarbeit, langwierige Interviews, um Aktion, Herausforderung und Risiko. Die im Jahr 2007 von ihm gegründete Produktionsgesellschaft International Institute of Political Murder (IIPM) hat bisher über ein Dutzend theatrale Projekte hervorgebracht: Performances und Theateraufführungen, begleitet von multimedialen Dokumentationen und Supplementierungen – mit Büchern, Kongressen, Filmen und Ausstellungen. Formate, in denen die »Bearbeitung historischer oder gesellschaftspolitischer Konflikte«2 am IIPM erfolgt, experimentieren mit unterschiedlichen Formen des Dokumentarischen sowie mit verschiedenen Effekten des theatralen Realismus. Wie vielfältig die künstlerischen Zugänge zum Realen im Theater Milo Raus auch sind, lassen sie jedoch eine ›Signatur‹ erkennen, die seine Projekte von anderen gegenwärtigen ›Dokumentarismen‹ im Theater unterscheidet, etwa von der dokumentarischen Collage-Technik Hans-Werner Kroesingers oder von Rimini Protokolls Theater der ›Experten des Alltags‹.
Was ist es aber, woran man Milo Raus Theater erkennt? Es ließe sich als einen Überschuss bezeichnen: Dieser entsteht, wenn durch die Intensität der Vorbereitung und der Arbeit mit den Darstellern – Laien und professionellen Schauspielern – ihre ›Rollen‹ Teil ihres Lebens werden, wenn durch rekonstruktive Wiederholungspraktiken, die einigen Projekten Raus zugrunde liegen, das Wiederholte ›gespenstisch‹ zurückkehrt oder Phantasmen des Reversiblen freisetzt, wenn die multimediale Dokumentation der performativen Arbeiten diese spiegelnd vervielfältigt und dabei auch ihre Widersprüche beleuchtet, wenn mit jedem neuen Projekt die Arbeitsweise des vorherigen erweitert, transformiert oder überwunden wird. Milo Rau setzt auf die affektive Wirkung jenes Überschusses: der emotionalen Aufladung der ins Spiel investierten Arbeit und ihrer Effekte. Der Realismus seines Theaters gründet in einer dezidierten Abkehr von der Postmoderne: »Es hat sich auskritisiert, es hat sich ausdekonstruiert. Vielmehr muss etwas konstruiert werden aus dem ideologischen Trümmerfeld, vor dem wir stehen.«3 Es gibt keine Rückkehr in die ›Unschuld‹ der vergangenen Repräsentationskunst, es geht aber auch nicht darum, dieses kritische Bewusstsein im ständigen Verweisen auf die Nähte zwischen Wirklichkeit und Darstellung, Fakt und Fiktion zu manifestieren. Die Aufgabe der Kunst nach der Postmoderne sei vielmehr eine andere: »der existenziellen Realität des Lebens auf Augenhöhe zu begegnen«.4
Milo Rau hat selbst einen Begriff für seine Kunst in einem Manifest von 2009 gefunden: die Unst: »Die Unst sammelt, kopiert, zeigt. Die Unst ist der Resteverwalter jener Wirklichkeit, die im Vorwissen der Kunst vergessen gegangen ist.«5 Wird darin einerseits der überzeitliche Wunsch der Kunst offensichtlich, ihr den Zugang zum Wirklichen störendes »Vorwissen« auszuklammern, aus ihm herauszubrechen, so lässt sich andererseits die Unst – als Kunst des Echos – mit der damaligen Faszination Milo Raus am Reenactment als »reine Wiederholung« in Verbindung bringen: »Die Unst ist die Betrachtung des GENAU SO.«6
In der – nach langen Recherchearbeiten vor Ort – akribisch einstudierten, detailgetreuen Nachstellung des Blitzprozesses gegen das rumänische Diktatoren-Ehepaar Ceauşescu im Jahr 1989, die Ende 2009 als Die letzten Tage der Ceauşescus zunächst in Bukarest und danach auch in Deutschland und der Schweiz auf die Bühne kam (während die Filmdokumentation und das Buch noch weitere Kreise erreichten), wurde ein historisches Ereignis der Wende naturalistisch rekonstruiert. Der Ausgangspunkt des Reenactment waren allerdings mediale Bilder: die Fernsehbilder des Prozesses, die im Dezember 1989 um die Welt gingen. »Es geht darum, in die Bilder hineinzukommen ...« – steht als Motto vor Milo Raus Einleitung zum Buch, das diese Arbeit dokumentiert.7 Das Reenactment sucht den Zugang zu historischem Realem, indem er die simulakre Welt der Medienbilder in die Realität der körperlichen, performativen Wiederholung überführt. Um ein weiteres Phantom der Vergangenheit zu produzieren? Ja, aber Rau findet darauf eine Antwort: Das mimetische Simulacrum des Reenactment erinnere an das Barthes’sche Herstellen von Simulakren als Kern der theoretischen und analytischen Praxis – und nicht an das Simulacrum als künstliche Zeichenwelt ohne Referenten im Sinne Baudrillards.8
Eine ›Überprüfung‹ des Realen in der Nachstellung findet auch in der Inszenierung Hate Radio (2011) statt – in einer freien und in der dramaturgischen Bearbeitung bis ins Unerträgliche verdichteten Rekonstruktion des Sendematerials des ruandischen Radiosenders RTLM während des Genozids, wobei Überlebende auf der Bühne die mörderischen Hetzer im Studio verkörpern. In der Performance Breiviks Erklärung (2012) wird das Skript der Rede des Terroristen vor dem Osloer Amtsgericht, die für die Öffentlichkeit gesperrt wurde, wortwörtlich vorgelesen: So viel ›Reales‹ führt in Weimar zur Verhinderung der Premiere. Nach den Wiederholungsexperimenten kommen die Prozesse: 2013 veranstaltet Milo Rau im Sacharow-Zentrum in Moskau einen ›gerechten‹ Gerichtsprozess für die in Putins Russland in inszenierten Schauprozessen verurteilten Künstler, darunter die Band Pussy Riot, die im künstlichen Setting der Performance – mit ›authentischen‹ Beteiligten als Angeklagte, Verteidiger und Staatsanwälte – eine Chance bekommen, die künstlerische Freiheit vor Gericht zu verteidigen. Die Moskauer Prozesse transformieren die Idee performativer Wiederholung von der mimetischen Rekonstruktion hin zur konstruktiven Aktion. Der Akt einer politischen Intervention in Form eines inszenierten Gerichtsprozesses als künstlerische Performance wird auch in den Zürcher Prozessen (2013) vollzogen, in denen ein Schweizer Blatt wegen rassistischer Hetze auf der Anklagebank sitzt. Inspiriert von den historischen kommunistischen Schauprozessen, inszeniert Rau seine Gerichtsverhandlungen mit involvierten bzw. gecasteten Laien als theatrale ›Reality-Show‹ mit offenem Ausgang. Das 2015 in Ostkongo und Berlin wiederum inszenierte Kongo Tribunal erkundet Hintergründe des inzwischen zwanzigjährigen, von der Weltöffentlichkeit weitgehend verdrängten Krieges in Afrika, der inzwischen mehr als sechs Millionen Opfer forderte.
Die letzten Produktionen des IIPM – die Europa-Trilogie – betreiben eine »politische Psychoanalyse« des durch politische Krisen erschütterten Kontinents.9 Milo Rau arbeitet hier wieder mit professionellen Schauspielern auf der Bühne, jedoch gleichsam gegen ihre Schauspielkunst, indem sie sich selbst – ihre biographische Erfahrung vor dem Hintergrund der jüngsten politischen Geschichte Europas – thematisieren. Mit Mitleid. Geschichte des Maschinengewehrs (2016) hat Milo Rau ein Stück inszeniert, das in einem Doppelmonolog, zusammengeschnitten aus Interviews mit verschiedenen NGO-Mitarbeitern sowie Opfern der Kriege in Europa und Afrika, die Grenzen des Mitleids auslotet. Rau rechnet dabei nicht nur mit der Zwiespältigkeit der politisch leicht zu instrumentalisierenden, ambivalent begründeten Empathie ab, sondern auch – selbstreflexiv – mit der eigenen Art des politischen neuen Realismus im Theater.
2014 erhielt Milo Rau den Schweizer Theaterpreis. Im April 2016 wurde er zum Welttheatertag mit dem Preis des Internationalen Theaterinstituts (ITI) ausgezeichnet.
Andreas Tobler: Kürzlich erschien ein Buch zu Ihren Theaterarbeiten, dem ein Lacan-Zitat vorangestellt ist. Diesem Zitat zufolge ist das unverhüllte Reale das »Angstobjekt par excellence«. Woher kam bei Ihnen das Interesse, die Faszination oder gar das Begehren nach dem unverhüllten Realen, angesichts dessen – Lacan zufolge – »alle Worte aufhören und sämtliche Kategorien scheitern«?10
Milo Rau: »Aufhören der Worte«, das gefällt mir. Meine Stücke sind ja extrem wortlastig, und obwohl ich immer bei den Bildern beginne, lande ich am Ende bei der Sprache, den Wörtern. In Die letzten Tage der Ceauşescus (2009) oder in Hate Radio (2011) wird zwei Stunden lang geredet, es sei denn, es läuft Musik oder jemand wird erschossen. Die Wortlastigkeit ist natürlich durch die Themen bedingt: Während Die letzten Tage der Ceauşescus vom Schauprozess gegen das Ehepaar Ceauşescu im Dezember 1989 handeln, geht es in Hate Radio um eine Radiostation, die während des Genozids in Ruanda 1994 eine zentrale Rolle gespielt hat.
AT: Die Fixierung und die Konzentration auf die Sprache erweckt den Eindruck, Sie wollen die Theaterbühne zu einer gut frequentierten Außenstelle der historischen Archive machen, auf der Schauspieler Dokumente reanimieren, also mit Fleisch und Blut versehen und so zum Leben erwecken.
MR: Das ist das ewige Missverständnis, das meine Arbeiten begleitet. Denn obwohl in Hate Radio und in Die letzten Tage der Ceauşescus dauernd geredet wird, ist die Verwendung der Sprache in beiden Stücken auf radikale Weise unbefriedigend: Vom Standpunkt der Information her bleiben die Wörter gleichsam leer. Deshalb wehre ich mich ja auch immer wieder gegen den populären Begriff des »Dokumentartheaters«, der für mich eine contradictio in adiecto ist: Es geht in der Kunst und der Dokumentation um völlig unterschiedliche appellative Funktionen. Die Enttäuschung, die sich für den Zuschauer bei all meinen Arbeiten einstellt und bei Publikumsgesprächen dann in Hasstiraden entlädt, hängt mit dieser Verweigerung zusammen. Die Süddeutsche Zeitung schrieb einmal, ich sei ein Betrüger, man würde in meinen oft ja mehrere Stunden langen Stücken weniger erfahren als in einem 1-minütigen Fernsehfeature zum jeweiligen Thema. Aber Theater kann nicht informieren, kann nichts anderes als pure Präsenz mitteilen: Man »erfährt« nichts in meinen Stücken. Denn wie ich im Gründungsmanifest meiner Produktionsgesellschaft geschrieben habe, ist historische Wahrheit ein »Mehrwert«, aber nicht das Ziel meiner Arbeit.
AT: Dann darf man Ihre Theaterarbeiten also nicht als Infoabende missverstehen, bei deren Besuch man sich als wohlinformierter Bürger ein Surplus in Sachen Wissen über die jüngere Zeitgeschichte abholen kann?
MR: Nein, man sieht in meinen Stücken die Sprache und die Menschen in Aktion, so ungefähr wie man eine Lawine oder eine Gewitterfront »in Aktion« sehen kann. Die Sprache, wie ich sie in meinen sogenannten Reenactments verwende, ist hermetisch. Sie scheint völlig die Fähigkeit zur Analyse verloren zu haben. Anders ausgedrückt ist das Reale in diesen Stücken nicht deshalb beängstigend, weil es durch irgendwelche postmodernen Schweigsamkeiten, durch Ironisierungs- oder Präsenzeffekte »dunkel« wäre und weil deshalb die Symbolisierungsprozesse an ihr »scheitern« würden. Das Reale in diesen Stücken ist deshalb beängstigend, weil alles auf der gleichen Ebene stattfindet, weil sie eine totale Demokratie der Dinge und der Menschen zeigen. Meine Stücke sind alle völlig platt naturalistisch – und gleichzeitig ergibt irgendwie nichts Sinn, es baut nichts kausal aufeinander auf. Anders ausgedrückt: Es gibt in meinem Theater kein Handeln, nur Verhalten. Was ich also mit diesen Stücken versucht habe, ist eine apokalyptische Demokratie nach dem Menschen, zum Zeitpunkt der Auflösung des Menschlichen. Es ist eine Semiosis, in der Menschen, Dinge und Ideen, das Lebende und das Tote, Technik und Organik völlig gleichberechtigt sind.
AT: Die letzten Tage der Ceauşescus oder Hate Radio sind also nur scheinbar realistische Stücke mit Akteuren, die ein historisches Ereignis abbilden. Man könnte sie aber auch als Geschichtszoo und historiographische Freakshow verstehen, in der Schauspieler Ereignisse der jüngeren Vergangenheit reanimieren, damit wir vom sicheren Zuschauersitz aus der Untaten der wilden Diktatoren, Völkermörder und anderer Verbrecher nochmals gewahr werden – sei es zur Erweckung moralischer Abscheu oder zwecks Lustgewinn, den die Konfrontation mit dem Bösen erzeugen kann.
Szenenfoto aus Milo Rau: Breiviks Erklärung.
MR: Das kann man, und wenn man das klug filmt und montiert, dann funktioniert das auch: Zu einigen meiner Stücke gibt es Dokumentarfilme, die das Fernsehen produziert hat und in denen man sich ein bisschen Info und Grusel abholen kann. Aber in Wahrheit sind meine Inszenierungen Musikstücke, materialistische Partituren aus Wörtern, aus Stimm- und Lichtqualitäten, aus Sound und aus Zu- und Abgewandtheiten der Körper auf der Bühne, die nur dem Schein nach eine Handlung haben. Diese Unvermitteltheit und Unverbundenheit, diese Unmotiviertheit, wie zum Beispiel in Hate Radio die »Aktionen« der »Figuren« verbunden sind, stellt die eigentliche Problematik dar, sie zu »spielen«. Für mich ist das die Problematik des Humanen überhaupt: Denn der Mensch ist ja ein Wesen, das immer gleichzeitig im Symbolischen und im Körperlichen, in der Semiosis und der Praxis, im Entwurf und im Verhängnis, im Bewussten und im Unbewussten steht. Und es ist die Spannung zwischen diesen Komponenten und deren Darstellung, die mich interessiert. Man hat in Bezug auf Hate Radio zum Beispiel oft von der »Banalität des Bösen« gesprochen. Ich glaube, das ist in dem Sinn, wie Hannah Arendt den Begriff geprägt hat, durchaus zutreffend: Was mit diesem Radiostudio gezeigt wird, ist das reine Tun ohne analytische Ich-Instanz. Der Hauptakteur in Hate Radio ist das Radiostudio, nicht die »Figuren«, die sich in diesem Studio befinden und sich zu ihm verhalten. Und das Gleiche gilt für Die letzten Tage der Ceauşescus: Das Diktatorenpaar und seine Richter sind Teil einer Partitur, der alle im genau gleichen Moment quasi bewusstlos unterworfen sind. Es ist ein bewusstloser Moment, in dem sie mit all ihrer situativen Intelligenz improvisieren. Und genauso ist auch der Umgang mit der Sprache: In den Letzten Tagen der Ceauşescus haben wir sehr lange an der Art und Weise gearbeitet, wie ständig alle gleichzeitig sprechen. Durch dieses Übereinandersprechen wird jeder Sprechakt für sich betrachtet »leer«. Ich inszeniere also eher orchestral als dramatisch, eher rhythmisch als sinngemäß, eher explizit als implizit. Umso amüsanter finde ich es natürlich, wenn man in Bezug auf meine Arbeit vom »Dokumentarischen« spricht.
AT: Die Besonderheit einiger Ihrer früheren Arbeiten wie etwa Hate Radio oder Breiviks Erklärung, in der eine Schauspielerin die Rede des Massenmörders Anders B. Breivik performte, bestand meines Erachtens darin, dass sie das Publikum mit Ereignissen und Situationen konfrontierten, die so monströs und verstörend waren, dass sie sich – zumindest im Moment der Aufführung – nicht ohne weiteres rational bewältigen ließen. Ihr jüngstes Theaterstück The Civil Wars stellt nun eine wichtige formale Neuorientierung Ihrer Theaterarbeit dar. Worum geht es in dieser Produktion, die Sie im Mai 2014 am Kunstenfestival in Brüssel uraufgeführt haben und die seither durch Europa tourt?
MR: The Civil Wars spricht von den letzten dreißig Jahren und vom Wahnsinn des Jetzt: Klimawandel, Identitätsverlust, Fundamentalismus. Verhandelt werden diese Themen mit vier Schauspielern, die aus ihrem eigenen Leben erzählen. Das Setting von The Civil Wars ist extrem einfach, so wie ja all meine Stücke extrem einfach sind: Vier Schauspieler sitzen in einem Wohnzimmer, erzählen aus ihrem Leben und werden dabei gefilmt – ihr Gesicht erscheint auf einer riesigen Leinwand über ihnen. Einer der vier Schauspieler ist Sébastien Foucault, der bereits in Hate Radio mit dabei war. In The Civil Wars erzählt er von der Vernichtung der Firma seines Vaters, die in den 1990er-Jahren von einem Multi geschluckt wurde. Sébastiens Vater konvertierte in der Folge zum Neokatholizismus. Er wurde von paranoiden Krisen heimgesucht und starb schließlich an Krebs … Das alles ist natürlich sehr emotional, aber aufgrund des Live-Videos auch sehr vermittelt. Im Grunde ist es so authentisch und so unauthentisch zugleich wie nur irgendwie möglich. Ein Kritiker der französischen Libération nannte das Stück denn auch treffend eine »politische Psychoanalyse«: Es geht ums Individuelle, aber nur in dem Aspekt, wie dieses leer ist, durchströmt von den Kollektivkräften und den großen Energien unseres Zeitalters.
AT: Anders als in Ihren früheren Stücken geht es in The Civil Wars also um Formen des alltäglichen Wahnsinns, mit dem wir zu leben gelernt haben – also nichts, was unsere Vernunft übersteigt. Entsteht damit ein Stück Ratio-Theater im Sinne Brechts?
MR: Ich weiß nicht, was Brecht genau im Sinn hatte, aber Ratio-Theater ist kein schlechter Begriff. Denn in The Civil Wars verweisen wir mehrfach auf das Zeitalter des Barock, das Zeitalter von René Descartes. So etwa mit der Fugenstruktur des Stücks, mit der Musik – Händel, Pergolesi, Bach – und mit dem Bühnenbild, das auf der Rückseite aus einer riesigen barocken Loge, also der Theatermetapher schlechthin besteht. Ein Akt trägt sogar den Titel einer Abhandlung von Descartes: Diskurs über die Methode.
Szenenfoto aus Milo Rau: The Civil Wars.
AT: Descartes gilt als Begründer des neuzeitlichen Rationalismus, weil er mit seinem Cogito das Ego ins Zentrum des Weltverständnisses rückte.
MR: Genau, und bei Descartes gibt es diesen starken Wunsch, alles zu kartographieren, alles auf etwas zurückzuführen. Das ist für mich die absolute In-Authentizität des Barock. Und ich glaube, dass mir die leichtfertige Obszönität des Ich, des Redens in der ersten Person Singular, nur durch diese rationalistische Formalisierung erträglich wurde, die sich auf Descartes zurückführen lässt. Mit ihr wird jede Sentimentalität, aber auch jede Ironie vermieden. Es wurde plötzlich extrem schwierig, von sich selbst zu sprechen. Doch das alles erzähle ich aus dem Nachhinein, also nachdem The Civil Wars bereits zur Uraufführung kam.
AT: Wie war es denn während der Arbeit am Stück?
MR: Die Arbeit an The Civil Wars war sehr irrational, ging über viele Stationen und war äußerst anstrengend. Ungefähr so, als würde man abends betrunken in einen Farbenladen stolpern, dann nachts unter Albträumen um sich schlagen, und morgens, wenn man erwacht, ist an die Wand ein geometrisches Bild in dunklen Farben gemalt. Aber so sind meine Inszenierungen ja leider immer: sehr viel Durcheinander, sehr viel Chaos, Streit und Skandal …
AT: Warum »leider«? Im eingangs zitierten Buch sagen Sie doch, dass man in der Theaterarbeit »nicht probieren, sondern wetten« soll!11
MR: Stimmt, es gibt in der Theatersprache diesen kleinbürgerlichen Begriff: probieren. Man will sich mit einem Schauspieler zum Kaffee verabreden, und er entschuldigt sich: »Tut mir leid, dann bin ich am Probieren.« Ich glaube, damit will man zum Ausdruck bringen, dass Theater etwas Spielerisches ist. Dass die Kunst nicht ganz ernst gemeint ist, anders als das richtige Leben. Im richtigen Leben dürfen ja nur die Kinder oder die Pensionierten auf der Kaffeefahrt etwas probieren, die anderen müssen die ganze Zeit Mehrwert schaffen. Daher ist »probieren« für mich der Inbegriff dieses infantilen Greisentums, dieser krampfhaften, pseudo-antikapitalistischen »Wir spielen doch nur«-Haltung geworden, für die ich den sogenannten Theaterbetrieb – ehrlich gesagt – hasse. Ich habe eine völlig andere Konzeption von der Kunst.
AT: Welche?
MR: Für mich ist die Kunst der einzige Ort, an dem es wirklich ernst ist. Wenn Schauspieler, die Überlebende des Genozids sind, die Mörder ihrer eigenen Familie spielen, wie es in meinem Stück Hate Radio der Fall ist, oder wenn bereits verurteilte Künstler versuchen, ihren Fall zu gewinnen, wie in Die Moskauer Prozesse (2013), dann kommt man mit »probieren« nicht weit. Diese Menschen gehen eine Wette ein, und ich meine das genau in dem Sinn, wie Blaise Pascal in Bezug auf den Glauben von einer »Wette« sprach.
Szenenfoto aus Milo Rau: Die Moskauer Prozesse.
AT: Nach Pascal ist der Glaube an Gott eine sichere Wette: Wenn man an Gott glaubt und er existiert, gewinnt man alles. Wenn es ihn nicht gibt, verliert man nichts.
MR: Ja, aber der entscheidende Punkt bei Pascal ist: Es gibt keinen Beweis, dass es Gott gibt. Trotzdem an Gott zu glauben ist also ein acte gratuit: Man tut es einfach, und dieses reine Tun ist für mich der Kern der Kunst. Bei der Arbeit an The Civil Wars konnte ich den Schauspielern nicht erklären, warum sie das tun sollen: von ihren intimsten Geheimnissen erzählen, in der völlig absurden Hoffnung, dass daraus so etwas wie künstlerische Wahrheit entsteht. Es funktioniert oder es funktioniert nicht, aber einfach mal »probieren« kann man es nicht. Manchmal bin ich etwas eifersüchtig auf jene Regisseure, die ein bisschen herumprobieren und immer neue tolle Ideen haben, so wie ich es am Anfang meiner Arbeit im Theater ja auch gemacht hat. Wenn man Macbeth oder Die Bakchen macht, dann kann das mal besser oder schlechter aufgehen, aber es bleibt immer Shakespeare oder Euripides. Und wenn man dokumentarisches Theater im alten Stil macht – also etwa in der Art, wie es in den 1960er-Jahren von Peter Weiss oder Rolf Hochhuth entworfen wurde –, dann bleibt am Ende auf der Bühne immerhin ein gerütteltes Maß Expertenwissen, eine Analyse dieses oder jenes Problems übrig. Wenn man aber Stücke wie Hate Radio oder The Civil Wars aufführt, dann bleiben, wenn es nicht aufgeht, am Ende nur ein paar Verrückte, die sich damit beschäftigen, ihren Ruf zu ruinieren: ruandische Schauspieler, die sich über das Leid ihres Volks lustig machen, oder französische Schauspieler, die vor dem Publikum ihre Hosen runterlassen. Aber so mag ich es eben: Man stürzt sich völlig schutzlos in die ganze Sache, und wenn eine Sicherheit um die Ecke kommt, dann schafft man sie schnell weg.
AT: Dann sind Sie also ein Anhänger einer Ästhetik des Risikos: Sie entziehen sich alle Sicherheitsnetze, um ernsthaftes und existenzielles Theater zu machen.
MR: So ist es. Wenn das fehlen würde, diese Angst, dieser Terror, dann würde ich das nicht machen wollen. Es geht darum, eine reale Situation zu schaffen, eben eine Situation der Entscheidung, der totalen Verunsicherung. Sie haben am Anfang Lacan zitiert, es gibt aber noch ein anderes Wort, das – glaube ich – von Godard stammt, nämlich dass es nicht um die Repräsentation des Realen geht, sondern um die Realität der Repräsentation. Nun klingt das wie ein rein rhetorisches Manöver, aber ich habe das immer ganz wörtlich verstanden: Es geht darum, dass das, was auf der Bühne passiert, real ist – für die Schauspieler, aber auch fürs Publikum. Wenn es zugleich ein Abbild von etwas ist, das unabhängig von Godard oder einem anderen Regisseur in der sogenannten Wirklichkeit existiert, wenn es also Dokumentcharakter hat, umso besser. Das ist aber eine nachgeordnete Funktion, eine Folge von technischen Entscheidungen und von Genauigkeit. Künstlerische Wahrheit hat kaum etwas mit historischer Wahrheit zu tun. Natürlich hilft die Tatsache, dass »das wirklich so gesagt wurde« und dass Teile einer Inszenierung Dokumentcharakter haben, den Schauspielern und den Zuschauern beim kollektiven »Durchqueren des Phantasmas«. Es ist aber für die Wirkung nicht entscheidend.
AT: In Hate Radio oder Die letzten Tage der Ceauşescus brachten Sie mit Schauspielern recherchiertes und montiertes Material auf die Bühne. In The Civil Wars ist das nun ganz anders. Hier sprechen Schauspieler über ihre eigenen Erfahrungen. Wie kam es dazu, dass Sie Ihren Zugriff auf die Wirklichkeit veränderten?
MR: Ich glaube, ich führe in The Civil Wars zwei Linien zusammen, die meine Arbeit der letzten fünf bis sechs Jahre geprägt haben: Einerseits habe ich in dieser Zeit mit Schauspielern von mir geschriebene Skripte inszeniert, so etwa in Hate Radio, das streng genommen ein fiktionales, wenn auch auf Quellen basierendes Stück ist. Andererseits habe ich immer wieder Menschen ohne schauspielerische Ausbildung gebeten, in Gerichts- oder Politinstallationen sich selbst zu spielen und ihre eigene Meinung zu vertreten, so etwa in den Moskauer Prozessen, einer dreitägigen Gerichtsshow mit Anwälten, Zeugen und einer Jury, in der wir unter anderem das Verfahren gegen die Punkband Pussy Riot nochmals aufrollten.
AT: Die Zugriffe in Hate Radio und den Moskauer Prozessen sind also geradezu antithetisch.
MR: Genau, denn einmal haben wir ein bewusst fatalistisches Format: der Genozid findet in Hate Radio noch einmal statt, nur eigentlich noch besser als 1994. Hate Radio ist in der Verdichtung und der Rhythmisierung die bessere, die perfektere Radiostation, als es das RTLM jemals gewesen ist. Denn es geht nicht um das »historisch korrekte« RTLM – das für heutige Ohren ein langweiliger Propagandasender wäre. Es geht um die traumatische Qualität des Senders, um seine »Realität« im oben beschriebenen Sinn, um eine Aktualisierung: nicht um das »wirkliche« RTLM, sondern um das »wahre« RTLM, eben um Hate Radio. Die Moskauer Prozesse dagegen funktionieren genau anders herum: Rein atmosphärisch betrachtet sind sie ein erbärmlicher Abklatsch der zugrunde liegenden, schrecklich bedrückenden, traumatischen Schauprozesse, die Putin gegen die Künstler in den letzten zehn Jahren angestrengt hat. Der Hass, die unablässigen antisemitischen Beleidigungen, die religiösen Gesänge, auf all diese atmosphärischen Zugaben habe ich in Die Moskauer Prozesse verzichtet, während genau diese Dinge in Hate Radio die Essenz der Inszenierung ausmachten. Was ich in Moskau versucht habe, ist eine völlig offene, antagonistische Situation zu finden, die jede traumatische Qualität der Wiederholung vermeidet.
AT: Aber trotz aller Unterschiede: Sowohl in Hate Radio als auch bei den Moskauer Prozessen gab es eine reale Vorgeschichte, einen historischen oder medialen Mythos.
MR: Das ist richtig. In den Moskauer Prozessen ging es um medial äußerst breit verhandelte Prozesse gegen Künstler; in Hate Radio waren es die ikonischen Songs von Nirvana und die Körpersprache von Kurt Cobain, die ich zum Ausgangspunkt meiner Inszenierung gemacht habe. In The Civil Wars mache ich nun beides über Kreuz und verzichte dabei auf einen medialen Mythos. Ich bitte Schauspieler (und nicht Laien), sich selber (und keine Figur) zu spielen. Und zum anderen tue ich das ohne den Akt der Wiederholung, der für mich in der Zeit von Hate Radio und den Moskauer Prozessen sehr wichtig war, aber bereits nicht mehr bei den Zürcher Prozessen (2013). Denn Die Zürcher Prozesse, die wir drei Monate nach den Moskauer Prozessen veranstaltet haben, brechen völlig mit der Grundverabredung des Reenactments: dass etwas bereits einmal, ein erstes Mal stattgefunden hat. Hier ging es um Fälle, die noch nie verhandelt worden waren. Denn trotz unzähliger Versuche konnte die rechtsnationale Schweizer Wochenzeitschrift Die Weltwoche nie vor Gericht gebracht werden – und wir taten das dann auf der Bühne.
AT: Anders als in Ihren früheren Projekten sind in The Civil Wars nun Schauspieler auf der Bühne, die von ihren eigenen Erfahrungen sprechen. Warum dieses, wie Sie sagen, »übers Kreuz« nehmen von Inszenierungsstrategien, die Sie in früheren Stücken angewendet haben?
MR: Mir geht es dabei zunächst um etwas rein Formales, nämlich darum, mein eigenes realistisches Konzept der Darstellung zu verändern. Also keine Überidentifikation, keine Wiederholungssstruktur, aber auch keine offene, antagonistische Situation. Der Dramaturg Ivo Kuyl sagte: »Bei The Civil Wars geht es nicht darum, etwas zu repräsentieren, das bereits da ist, sondern etwas so zu präsentieren, damit es Bestand bekommt.« Besser kann man es nicht beschreiben – und es gleichzeitig von meinen Reenactments abgrenzen, in denen es um die Revision von etwas Dagewesenem ging.
AT: Dann geht es bei The Civil Wars also in erster Linie um eine formale Weiterentwicklung?
MR: Nein, es geht vor allem um ein existenzielles Experiment: Wie können wir eine zufällige – unsere, meine – Geschichte so erzählen, dass es gleichsam die einzige Geschichte wird, die sich zu erzählen lohnt? Wie können wir eine möglichst einfache, eine genauso persönliche wie kollektive Sprache finden für das Drama unserer Zeit? Wie können wir über »Europa«, über die »Identität«, über den Wahnsinn und unsere Angst vor dem Tod sprechen? Was wäre, haben wir uns gefragt, die Sprache eines »Mythos des 21. Jahrhunderts«, um den schönen Buchtitel von Alfred Rosenberg zu paraphrasieren.
AT: Was unterscheidet aber dann The Civil Wars noch von den Stücken von Rimini Protokoll, die seit bald zwanzig Jahren sogenannte Experten des Alltags auf die Bühne bringt, die einen starken Bezug zu einem Thema haben, etwa zu Karl Marx’ Kapital?
MR: Für ein so grundsätzliches Experiment wie The Civil Wars brauche ich keine »Experten« wie bei Rimini Protokoll, die in erster Linie gecastet werden, weil sie über ein bestimmtes Thema Bescheid wissen. Denn wie gesagt, »Wissen« ist in meinen Projekten völlig irrelevant. The Civil Wars funktioniert eher wie ein antikes Drama: Es sprechen vier ganz durchschnittliche, durch nichts ausgezeichnete Menschen, die aber – im Rahmen des Stücks, des Abends – für uns alle, für »die Menschheit« stehen, was auch immer das sein mag. Dafür brauche ich Künstler, die bereit sind, sich diesem Theaterexperiment in seiner ganzen Problematik auszusetzen. Ich brauche gewissermaßen Menschen, die sowohl Experten für ihr Leben wie dafür sind, wie man darüber spricht. Und natürlich castete ich, wohl unbewusst, ausschließlich Schauspieler, die wie ich selbst eine ebenso große Abneigung dagegen hatten, auf der Bühne »Ich« zu sagen – für die das ein echtes Problem war.
AT: Für den Mainstream des postdramatischen Theaters war es nie ein Problem, auf der Bühne »Ich« zu sagen, im Gegenteil. Die Rede in der ersten Person Singular wurde gerade dafür genutzt, um Erfahrungen auf die Bühne zu bringen, die Kontingenz des Realen und die Manipulierbarkeit der Wahrnehmung zu reflektieren. »Nicht das Vorkommen von ›Realem‹ als solchem, sondern seine selbstreflexive Verwendung« kennzeichne eine postdramatische »Ästhetik des Realen«, heißt es in einem Schlüsseltext des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann.12 Sie haben sich gegen die erste Person Singular und eine »selbstreflexive Verwendung« des Realen auf der Bühne früher stets verwehrt, warum?
MR: Ich verstehe meine Arbeit als eine Stufenleiter: Am Anfang stand die radikale Dekonstruktion, die dem Alten den Boden unter den Füßen wegzog – ich habe ja vor Die letzten Tage der Ceauşescus sehr viele Klassikerbearbeitungen gemacht, in völlig postdramatischer Tradition, also zum Beispiel Euripides mit Texten aus Talkshows gemischt, was man eben in den Neunzigern so gemacht hat. Dann kam, mit meinen sogenannten Reenactments, das Repräsentationstheater: die Darstellung dessen, was ist. Und nun könnte man vom allegorischen Theater sprechen: Es ist formal absolut einfach, jeder versteht es sofort. In The Civil Wars geht es, um noch mal den großartigen Ivo Kuyl zu zitieren, um Präsentation, nicht um Repräsentation. Der ganze Abend ist eine reine Ekstase der Präsenz, der Präsentation. Es geht schlicht und einfach darum, eine tragische, das heißt: eine bewusste Sprache zu finden für das, was in Stücken wie Hate Radio unbewusst abläuft, eine Sprache für die Schrecken unserer Zeit. Was nun dabei die Verwendung des Biographischen angeht, das »Ich-Sagen«: Das hat mich bisher tatsächlich nicht so wahnsinnig interessiert, und zwar einfach deshalb, weil dieses »Ich« seit zwei Generationen eine Art Obsession der Performance-Szene ist. Oder anders ausgedrückt: ein halbgares Thema für Theaterstudenten und Kuratoren, die sich an irgendwelchen Versetzspielchen über Wirklichkeit und Fiktion ergötzen. Und plötzlich interessiert mich das doch, diese »Was heißt Theater?«-Frage, diese »Wer bin ich?«-Problematik. Aber ganz existenziell, also eher so wie Hamlet, der den Mord an seinem Vater nachspielen lässt, um den Mörder seines Vaters zu entlarven. Das Individuelle ist für mich eine Kondensation des Objektiven, es gibt das Individuelle gar nicht. Wir sind Maschinen, Marionetten, angetrieben von Energien und Kräften, die wir nur erahnen können. Dafür will oder muss ich beim biographischen Ansatz bleiben – und an der Tatsache festhalten, dass es Schauspieler sind, die erzählen. Denn beides gehört zwingend zusammen: das Nadelöhr des Individuellen, die »Ehrlichkeit«. Und die Unehrlichkeit – die Bühne, das Theater, diese letztlich natürlich völlig albernen Metaphern der Existenz.
AT: Wir haben nun viel über Theater gesprochen. Aber Sie verwenden für Ihre Arbeiten ja fast alle denkbaren Formate: Film, Fernsehen, Bücher – und seit einiger Zeit moderieren Sie eine Talkshow, »Die Berliner Gespräche«. Was lässt Sie ein bestimmtes Medium wählen, wenn Sie sich mit einem neuen Thema beschäftigen?
MR: Ich denke, dass jedes Format – Film, Theater, Fernsehen – seine Notwendigkeit und seine innere Gesetzmäßigkeit hat: Zum Beispiel steckt im Fernsehen ein aufklärerisches Potential, etwa die Dinge zu vereinfachen und auf den Punkt zu bringen, die im Theater oder im Kino nur lächerlich wirken würde. Das Gleiche gilt für den Umgang mit Fakten, um noch mal auf die »Wahrheit« zu kommen: Im Theater kann man umarrangieren, man kann transponieren oder etwas erfinden. In einem eher journalistischen oder gar wissenschaftlichen Format wäre ein solches Arrangieren oder Erfinden kontraproduktiv. Dessen muss man sich natürlich bewusst sein. Man kann die jeweiligen Formate aber dehnen und sie an eine Grenze führen, an der sie interessant werden. Für mich ist in dieser Hinsicht Alexander Kluge maßgebend, der ohne Unterschied Kunstfilme, Bücher und seine recht seltsamen und enorm geduldigen Gesprächsformate fürs Fernsehen macht. Kluge hat jedes Genre, dessen er sich angenommen hat, zum Experiment gemacht. Einmal, als er mich als Gast in eine seiner Gesprächssendungen eingeladen hat, war ich fasziniert von seiner Ruhe und seiner Vorbereitung. Kluge wusste alles, wirklich alles über meine Arbeit und wollte immer noch mehr wissen. Er transzendierte gewissermaßen das Faktische in eine andere, fast halluzinatorische Ebene des Sinns hinein. Wir sprachen über Ceauşescu, über Bucharin und Stalin, über die Darstellbarkeit von Geschichte, über Justiz und die Macht der Bilder. Seine unstillbare, seine genauso großzügige wie zwanghafte Neugier hat mich tief beeindruckt. Ich hoffe, das lässt bei mir nicht irgendwann nach und ich bin mit achtzig auch noch ein bisschen wie dieser geniale Doktor Kluge ...
Szenenfoto aus Milo Rau: Die Zürcher Prozesse.
AT: Was ist es denn, was Sie in Ihrer Arbeit antreibt?
MR: Im Zentrum meiner Arbeit steht immer das Erkenntnisinteresse und eine große Neugier, weshalb ich mich zur Verzweiflung meiner Mitarbeiter jeweils mit tausend Dingen abgebe, die mit dem Thema der jeweiligen Arbeit nur äußerst vage zu tun haben. Ich muss alles gelesen haben, jeden verfügbaren Zeugen getroffen haben, alles mit eigenen Augen gesehen haben, um es dann wieder vergessen zu können. Die Wahrheit liegt jenseits des Wissens, und wenn ich mich über das Dokumentarische oder das »Dokumentarische Theater« lustig mache, so natürlich nur im dialektischen Sinn. Der dokumentarische Zugriff ist notwendig, aber es kommt irgendwann der Zeitpunkt in jedem Projekt, in dem alles »Informative« synthetisiert werden muss. Ich glaube also, das Ziel der Kunst sollte absolute Offenheit sein – und damit auch der Wunsch nach der Alternative, danach, die Dinge, die man beschreibt, zu verändern. Was für einen Sinn würde es machen, sich im Miserablen zu suhlen, wie ich es ja berufsmäßig tue, wenn man damit die Welt nicht verändern will? Und das ist dann natürlich die revolutionäre Wahrheit. Also der Wille, die Dinge nicht nur darzustellen, sondern in sie einzugreifen. Die Wirklichkeit vor das Tribunal der Kunst zu zerren. Alles andere ist Kunsthandwerk.
1 Milo Rau im Gespräch mit Rolf Bossart: »Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt«, in: Rolf Bossart (Hg.): Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013, S. 22.
2 Vgl. die Selbstbeschreibung des IIPM: http://international-institute.de/?page_id=175.
3 Milo Rau: »Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt«, a.a.O., S. 29.
4 Ebd., 35.
5 Milo Rau: »Was ist Unst« (2009), in: Bossart, Die Enthüllung des Realen, a.a.O., S. 116–117.
6 Ebd.
7 Milo Rau: »Du côté de chez Ceauşescu. Eine Geschichtsbesichtigung«, in: ders.: Die letzten Tage der Ceauşescus. Materialien, Dokumente, Theorie, Berlin 2010, S. 9–33, hier S. 9.
8 Milo Rau im Gespräch mit Sylvia Sasse: »Das Reale des Simulacrums«, in: Bossart: Die Enthüllung des Realen, a.a.O., S. 54–69, hier S. 68f.
9 Vor allem mit dem ersten Teil der Trilogie, The Civil Wars (2014), setzten sich die Gesprächspartner im nachfolgenden Interview auseinander.
10 Rolf Bossart (Hg.): Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013, S. 7.
11 Rolf Bossart, Milo Rau: »Das ist der Grund, warum es die Kunst gibt«, a.a.O., S. 22.
12 Hans-Thies Lehmann: »TheatReales. Notizen«, in: Theater der Welt, hg. v. Theater der Zeit und dem Internationalen Theaterinstitut, Berlin 1999, S. 65–69, hier S. 66. Die Formulierung findet sich auch in: ders.: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999, S. 176.
Magdalena Marszałek (Hg.), Dieter Mersch (Hg.)
Seien wir realistisch
Neue Realismen und Dokumentarismen in Philosophie und Kunst
Broschur, 400 Seiten
PDF, 400 Seiten
Dokumentarische Kunstpraktiken haben derzeit Hochkonjunktur, ob in Fotografie, Film, Theater, performativen Kunstexperimenten oder Literatur. Über einen »neuen Realismus« wird in der Philosophie ebenso wie in der künstlerischen Produktion diskutiert. Ein postkonstruktivistischer Realismus misstraut der Repräsentation, weiß um die Gemachtheit der Darstellung und will auf die Selbstreflexivität künstlerischer Praktiken nicht verzichten. Doch weder ist den gegenwärtigen Realismen das Begehren nach unmittelbarer Wirklichkeitserfahrung fremd, noch verzichten sie auf Wirklichkeitskritik und politische Intervention. Immer wieder geht es um die Herstellung einer Berührung mit Wirklichkeit und einer Wirklichkeit der Berührung, des Affekts – in der Einflechtung des ›Rohmaterials‹ ins Artefakt, der Restitution einer Erfahrung im Reenactment oder der Arbeit mit Zeugen und ›Experten des Alltags‹ in Film und Theater.