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Zur Kritik der generischen Vernunft

Zoran Terzić

Die Verallgemeinerung des Menschen
Zur Kritik der generischen Vernunft

Veröffentlicht am 03.12.2019

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»Eine eigene Technologie zu haben ist nicht das Gleiche wie eine eigene Geschichte zu haben«, schreibt Jonathan Franzen. »Es ist vielmehr das Gegenteil davon: Es bedeutet, die gleiche Geschichte zu haben wie alle anderen auch.« Franzen kritisiert den Einfluss der neuen Medien auf unsere Weltwahrnehmung und reagiert allergisch auf alle Spielarten der generischen Vernunft. Kunstschaffende verweigern sich notgedrungen dem Generischen: Sie haben eine Geschichte, die niemand sonst hat. Aber ist es deswegen eine eigene Geschichte? Jede Kunstform schafft einen gesellschaftlichen Tatbestand, der letztlich allen und niemandem gehört. Die Zentralperspektive gehört weder Brunelleschi noch Italien. Eine eigene Geschichte bezieht sich aber auf etwas anderes als auf Idiosynkrasie oder kulturelles Eigentum: Sie hat mit der Aneignung von Zeit zu tun, mit der Appropriation des Geschehens und Erlebens unter den Bedingungen einer mündigen Sicht auf eine unmündige Welt. Sie ist Ausdruck der Souveränität. Kafka schreibt über den Panther, der im Käfig den Hungerkünstler ablöst: »Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen, dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, daß es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten.« Nicht Einzigartigkeit, sondern innere Gültigkeit zeichnet das eigene Tier. Sein Individuelles ist etwas, was auf die Kunst folgt – wie der Panther auf den Hungerkünstler folgt.

Wer eine einzigartige Geschichte hat, hat niemanden, der sie verstehen kann, ist also sinnlos einzeln. Und wer eine Geschichte wie alle anderen hat, verliert jede Distanz zum Verständnis, ist also kollektiv sinnlos. Gleichwohl beruht jede Kultur, jede Kommunikation auf generischen Regeln. Es ist nicht ›individuell‹, eine eigene Grammatik zu benutzen. Und obige Kritik der generischen Vernunft bezieht sich nicht auf Fälle, in denen Technoalgorithmen – von Malmaschinen bis Lyrik-Bots – zu künstlerischen Ausdrucksmitteln werden. Denn jede Überwindung von Kunst ist künstlerisch, jede Überwindung der Vernunft ist vernünftig, und jede artifizielle Intelligenz, die vernünftig ist, ist notwendigerweise ›natürlich‹. Idiosynkrasie an sich oder Generik an sich schaffen keine Geschichten. Wie die Idiosynkrasie ein Archetypus der Singularität ist, ist die Generik ein Archetypus der Reproduzierbarkeit. Sie bestimmt die Grammatik des biologischen Lebens, wie sie auch die DNA der Herrschaft strukturiert. Die Architekturlehre des Vitruv etwa liefert generische Anleitungen für Repräsentationen der Zeitmacht: steinerne Algorithmen,...

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Zoran Terzić

Zoran Terzić

geboren 1969 in Banja Luka, studierte Soziologie, Jazz-Piano und Kommunikationsdesign in Nürnberg und Wuppertal sowie Bildende Kunst in New York und widmete sich danach dem Schreiben. Promotion zum Dr. phil. 2006. Er lebt seit 2001 in Berlin.