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Wir sind alle Nekronauten, immer schon

The International Necronautical Society

INS-Erklärung zum Begriff der »Zukunft«

Aus: Offizielle Mitteilungen, S. 139 – 154

  Offizielles Dokument 

INS-Erklärung 
zum Begriff der »Zukunft«






Warnungen und Mahnungen für Kulturvertreter 
des frühen bis mittleren 21. Jahrhunderts



Themen: 


Bewusstsein, Spätkapitalismus, glückliche Zeiten, Hegel’sche Narrative der Transzendenz, Hamlet, Joyce, Ballard, Fürstin Gracia von Monaco 



Typ:

INS-Erklärung



Autorisiert durch:

Zentralkomitee, INS



Autorisierungscode:

TMcC010910


[Dokument nachfolgend]




Im elften Jahr des Bestehens der International Necronautical Society geriet das Zentralkomitee unter Druck, dem eigenen avantgardistischen Anspruch zu entsprechen und irgendein »Statement« abzugeben, in dem die Leistungen der INS umrissen und Prognosen für die Zukunft abgegeben werden sollten. Beides lehnen wir ab.


Was den ersten Punkt anbelangt: Was würde es bedeuten, »von« den ersten zehn Jahre der INS zu sprechen? Über sie zu sprechen, eine Art Overdub? Vorstellbar wäre ein Bericht von der Verteilung des Gründungsmanifests auf der Londoner Articultural Fair 1999; von dem raschen Aufgreifen der Thesen des Manifests in der Kunstwelt und ihren Institutionen; von einer Reihe zunehmend ehrgeiziger Projekte – Hearings, Publikationen, Funkübertragungen aus dem Moderna Museet in Stockholm und dem Institute of Contemporary Arts in London (mittels als »Black Boxes« bekannt gewordenen Sendern); von Erklärungen unter der Schirmherrschaft der Tate Britain und des Drawing Center in New York; von der nicht ganz freiwilligen Bereitstellung von Sendeplatz für unsere Propaganda-Programme durch die BBC und andere Medienanstalten, deren Websites wir uns zeitweise bedient haben; und schließlich von der Historisierung der INS – nämlich die Aufnahme als Studiengegenstand in die Lehrpläne von Kunsthochschulen. 


Nur, was hätte man von einem solchen Bericht? Zählt man die Kratzer, die man auf einem Filmstreifen hinterlassen hat, unterstellt man, dass man aus dem Film heraustreten und ihn an Anführungszeichen zum Trocknen aufhängen kann. Ein falscher Maßstab und zugleich ein Denkfehler: Der Film ist überall, immer, schon jetzt – und unser Ziel sollte sein, ihn völlig zu zerkratzen.


Sollten wir also von der Zukunft sprechen? Das scheint Avantgarde-gemäßer. Doch auch das lehnen wir ab, sogar noch vehementer. Warum? Weil die Begriffe, Annahmen und Ideologien, die in diesem überfrachteten und trägen Mem »Zukunft« stecken, dringend einmal gründlich auseinandergenommen werden müssen. Genau das will diese Erklärung unternehmen. Wie jegliche INS-Propaganda sollte sie nach dem Gutdünken der Leser wiederholt, abgewandelt, verfremdet und verbreitet werden.


1. 


Kulturell betrachtet, beginnt die Zukunft mit einem Autounfall. Oder vielmehr mit dem Bericht von einem Autounfall: eine immer schon vermittelte, archivierte und wiedergegebene Katastrophe. »Wir haben die ganze Nacht gewacht – meine Freunde und ich«, schreit Marinetti im Februar 1909 von der Titelseite des...

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The International Necronautical Society

The International Necronautical Society

wurde von Tom McCarthy gegründet. Sie ist ein neoavantgardistisches Netzwerk von Künstlern, Schriftstellern und Philosophen. In ihrem Gründungsmanifest verschreibt sich die Gesellschaft der Kartierung, Erforschung, Erschließung und möglichen Inbesitznahme von Räumen, die unter dem Banner des Todes stehen. Neben ihrem Generalsekretär und einem Chefphilosophen hat die Gesellschaft eine Propagandaabteilung, ein Ausschlusskomitee und einen Nachrufbeauftragten.

Weitere Texte von The International Necronautical Society bei DIAPHANES
  • An alle Agenten ABO

    In: Simon Critchley, The International Necronautical Society, Tom McCarthy, Offizielle Mitteilungen

Simon Critchley, The International Necronautical Society, ...: Offizielle Mitteilungen

Simon Critchley, The International Necronautical Society, Tom McCarthy

Offizielle Mitteilungen

Übersetzt von Michaela Grabinger, Sven Koch, Astrid Sommer, Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck

Broschur, 160 Seiten

Fröhlich-parasitär nährt sich die International Necronautical Society von den verblichenen Avantgarde-Bewegungen des letzten Jahrhunderts, seien sie künstlerischer, kultureller oder politischer Natur. Ihre Manifeste, Berichte und Verlautbarungen, ihre Agenten­tätigkeit, ihre Sitzungen, Nachrichtensendungen und Anhörungen werden seit 1999 penibel dokumentiert. Der Band versammelt eine Auswahl offizieller Mitteilungen der INS aus den Jahren 1999 bis 2010, die hier erstmals in deutscher Sprache zugänglich sind.

»Manchmal fragt man uns: Wie kann ich beitreten? Wie wird man ein Nekronaut? Falsche Frage. Wie Absatz 3, Zeilen fünf und sechs des Ersten Manifests der INS klar zum Ausdruck bringt, schamlos abkupfernd bei der ausgelaugten Sprache der Dekonstruktivisten: ›Wir sind alle Nekronauten, immer schon‹. Unser Auftrag ist die Verbreitung dieser Tatsache: nicht als begreifbares Wissen, sondern eher so, wie Molly Bloom ihrem Gatten den Mund mit Mohnkuchen füllt, diesen Moment dann wiederholt, mit einem stillen Ja.«