Gesicht zeigen im Akkord
Kein persönlicher Besuch bei Marina Abramović
Aus: Lichtmächte. Kino – Museum – Galerie – Öffentlichkeit, S. 189 – 204
Human evolution has two steps – from being somebody
to being nobody; and from being nobody to being everybody.
This knowledge can bring sharing and caring throughout the world.
Sri Sri Ravi Shankar, Art of living
Eine Studentin lässt in einem Augenblick, als sich alle anderen mächtig einig sind, erschöpft die Schultern fallen und sagt: »Ich bin traurig über meinen eigenen Kunstblick. Immer dann, wenn die anderen sagen, dass sie so offensichtlich überzeugt sind von der Qualität eines Kunstwerks, bin ich gelangweilt.« Dann passiere bei ihr gar nichts, und sie warte immer auf die Eingebung, doch sie komme nie. Wir resümierten gerade einen gemeinsamen Besuch in der Ausstellung »Letzte Bilder« in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Einig waren wir uns, dass die Ausstellung ganz schrecklich missfällt, dass das Konzept und die tragödienhaften Biografien die Wahrnehmung der Bilder versperren und dass man ohne Kenntnis des jeweiligen Gesamtwerks keine Chance hat, diese Auswahl wirklich einzuordnen. Alle waren ergriffen von der Kraft der Black paintings von Ad Reinhardt im kathedralenartigen letzten Raum, der gut gestört wurde von Bas Jan Aders Diaprojektorgeräusch seiner letzten Reise, von der er nie zurückkehrte. Die Studentin aber schwärmt für Georgia O’Keeffes wolkenflockige Horizontbilder. Im Museum hatte sie sich nicht getraut, ihre Selbstzweifel zu äußern, geschweige denn ihre Überzeugung. Jetzt aber sprechen wir über den Weg zu einem überzeugenden, argumentativ nachvollziehbaren Urteil – über Verfahren, die Subjektivität einer Kunstkritik zu vermitteln und dabei mutig zu sein. Die Anlage dazu zeigte sich gerade in jenem Augenblick, als die Studentin zu ihrem Urteil stand, es nicht verheimlichte, sich nicht der Gruppe, dem Schwarm anschloss, sondern widersprach. Sie hatte ihre Argumente und formulierte sie: Warum, zum Beispiel, die pastelltonfarbigen Wolken von O’Keeffe mehr Tiefe in ihr erzeugen als die schwarzen Bilder von Ad Reinhardt, in deren klaren Grenzen ich mich so gerne aufhalte. Manchmal ist es so, dass wir nicht die Kunst, sondern uns anschauen müssen, diesen Seitenblick wagen müssen, um vom Schauen zum Sehen zu finden.
Zu oft wird laut geseufzt, respektlos der Kopf geschüttelt, wenn kunsthistorische Regeln, ästhetische Normen missachtet, gebrochen werden. Doch die Festlegung auf gut und schlecht, auf richtig oder falsch wird immer heikler. Wir sind umstellt von Spiegeln, die Spiegel spiegeln und darin immer wieder neue Perspektiven öffnen. Die Dauerbespiegelung (durch Film, Fotografie, Internet, Twitter & Co) sorgt für eine neue Form des »Anwesenheitsgestus«. Ganze Gemeinwesen lernen und verwerfen Formen der Selbstvergewisserung. Gestern noch als demokratisch...
Abonnieren Sie
diaphanes
als
Magazin
und lesen Sie weiter
in diesem und weiteren 1399 Artikeln online
Sind Sie bereits Abonnent?
Dann melden Sie sich hier an:
ist Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin, Kennerin des Kunstmarkts und Redakteurin bei der F.A.Z. Sie hat in Bonn und Leicester, England, Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie studiert und in Berlin die Journalisten-Schule besucht. Sie lehrt in Frankfurt beim Studiengang »Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik«, in Berlin an der Humboldt-Universität am Institut für Kunst- und Bildgeschichte sowie an der Martin-Luther-Universität Halle.