Nutzerkonto

Über literarische Sprengkraft

Mário Gomes

Brandsatz & Ästhetik
Über literarische Sprengkraft

Veröffentlicht am 02.11.2016

Kaum etwas setzt schneller Rost an als Kriegsgerät und Literatur. Da nützt weder Pflege noch Wartung, am besten ist es, man lässt das Material einrosten und rüstet derweil am anderen Ende nach, erweitert Bestände, feilt an Technologien und poliert vor allem die Oberflächen auf Hochglanz, bzw. man nimmt den einfachen Weg und lässt eine Glanzschicht auftragen – einen feinen, seidenen Film –, denn so geht das heutzutage: man trägt auf. Dieser chemische Glanz der Panzer und Bücher kommt von der Sprühdose. Er hält allerdings nicht lange, sondern schwindet, sobald das Auge sich abwendet, und das Auge wendet sich schnell ab. Wo der Blick dann aber als nächstes hin eilt, glitzert und funkelt es wieder: bei jeder Militärparade wie bei jeder Buchmesse.

Dieser Glanz ist jedoch bei weitem nicht das einzige, was Krieg und Literatur verbindet. Ihre Verknüpfungen sind vielfältig und verworren. Wo Gewalt aufhört und das Schriftzeichen anfängt, ist selten klar, denn Krieg und Literatur stehen nicht etwa in einem Verhältnis der Affinität, sondern in einem der Spannung und Überlagerung, was letztlich auch erklärt, weshalb einem Clausewitz sehr viel mehr über Literatur zu entnehmen ist als dem Gesamtbestand literaturwissenschaftlicher Publikationen. Wer die Ilias gelesen und Heraklit noch nicht vergessen hat, versteht, was gemeint ist. Der Vater aller Literaturen ist der Krieg – oder meinetwegen die Gewalt –, alles andere dagegen ist Sand, den man der geneigten Leserschaft in die Augen streut, Sand, der aus den Büchern regelrecht herausrieselt, wenn man nur stark genug schüttelt oder auf den Einband klopft. Es ist, wohlgemerkt, ein äußerst feiner Sand, der zunächst nicht weiter stört und oft genug sogar für ein Gütemerkmal gehalten wird. Dass es um Güte jedoch nicht gehen kann, verdeutlichen allein die Buchtitel. Sie lauten meist Reib dich ein mit meinem Echtsein oder Ich entblöße mich, damit du meine ganze Realität siehst, und machen keinen Hehl aus einer Programmatik, die im Wesentlichen darin besteht, ein moralisches, ja christliches Ehrlichkeitsgebot zum ästhetischen Prinzip zu erheben. Demzufolge ist ein Buch gut, wenn es für ehrlich und genuin befunden wird. Diese Verwechslung krypto-christlicher Werte mit literarischen oder künstlerischen Maßstäben wird gemeinhin als Authentizität aufgefasst. Wer der Authentizitätsillusion unterliegt, verkennt, dass Realität nichts anderes ist als der Widerstand, gegen den die Literatur ankämpft und in den sie, wenn nicht Löcher, so zumindest Dellen zu schreiben hat. Da nun die Robustheit der Realität vornehmlich auf Gewalt gründet, ist ihr nur mit der Gewalt literarischer Verfahren beizukommen. Die Literatur ahmt dabei jedoch nicht nach, sondern passt sich vielmehr an die Umstände an, in einem subtil-empfindlichen Wechselspiel, in das sich längst aber auch der technologische Fortschritt eingeschlichen hat, der – gänzlich unbemerkt aber unaufhaltsam – am jahrhundertealten Bund (am Tau vielmehr) zwischen Literatur und Gewalt reißt und nagt, sodass die Gewalt nun ganz und gar in die Gewässer des Digitalen zu driften droht, und das heißt in die Domäne der Monster.

Wer diese Entwicklung aus einer gewissen Entfernung beobachtet – zigarettenrauchend, zwischen Trümmern verschanzt –, weiß, dass im Kampf gegen den Verbund des Digitalen nicht die geringste Aussicht auf Erfolg besteht. Eine der Hauptschwierigkeiten besteht darin, dass die Monster nicht mehr furchterregend groß sind, sondern – es sind die Errungenschaften der Nanotechnologien – immer kleiner werden, viren- und bakterienartiger. Der Feind ist diffus und unsichtbar geworden. Dennoch bleibt einem nichts anderes übrig, als – etwas hilflos-blind umhertappend – aus der Verschanzung hervorzustürzen, Hals über Kopf in einen Kampf, der einzig und allein mit der Perfidie des Terrorismus und der List der Guerrilla zu bestreiten ist.

Auch ich habe mich schlussendlich für diesen Kampf entschieden und auch ich hatte, wie bei solchen Entscheidungen üblich, meine Paten und Mentoren. Einen davon kann ich nennen, es war ein Mexikaner. Wir saßen – es muss im Spätsommer gewesen sein, vor vier oder fünf Jahren – auf einer Terrasse in Neukölln und tranken Kaffee, er rauchte wesentlich mehr als er trank. Wir unterhielten uns in losen Bruchstücken über die Literatur in Mexiko und allgemein übers Schreiben. Woran er derzeit arbeite, fragte ich in eine längere Pause hinein. Er schüttelte den Kopf und schaute mich an, nicht aus seinen Augen, sondern aus zwei tiefgefurchten Schatten. Nichts. Er schreibe nichts. Er könne nicht mehr schreiben, denn der Gewalt des mexikanischen Drogenkriegs sei längst auch die Fiktion zum Opfer gefallen. Die Fiktion sei tot und begraben, ja mehr noch, die ganze Literatur, Journalismus inbegriffen. Die Narration. Gegen die Ausstellung roher Gewalt, die Schau von abgeschlagenen Köpfen und Leichenstapeln komme das Wort nicht an. Er führte dies alles mit großer Ausführlichkeit und Detailliebe aus, zergliederte und filetierte Honduraner und Guatemalteken mit solcher Akribie, dass Blut in seinem Mund zusammenzulaufen schien. Seine Zähne wirkten bisweilen so, als seien sie von blutdunklem Speichel überzogen. Vielleicht blutete das Zahnfleisch, vielleicht hatte er auch einfach nur am Vortag oder, wer weiß, am Vormittag Rotwein getrunken (wobei seine Lippen, soweit ich mich entsinne, nicht die übliche Rotweinschwärze zeigten). Jedenfalls spürte ich die Überzeugungskraft seiner Worte recht deutlich, was ich in erster Linie an einem Trockenheitsgefühl und einem Kratzen im Rachen festmachte, als hätte nicht er, sondern ich die ganze Zeit über geraucht. Irgendwann konnte ich sogar den mit Blut vermengten Nikotingeschmack, den ich in seinem Mund erahnte, schmecken, einen bleiern-beißenden Geschmack, den ich mit einem kräftigen Schluck Zitronenlimonade ausspülen musste. Was ich jedoch weitaus weniger als die eigentümliche telesensorische Übertragung zwischen unseren Geschmacksknospen verstand, war, weshalb sich dieser gebrochene Mann nach seinem – wie er betonte – »endgültigen« Rückzug aus der Literatur weiterhin als Autor bezeichnete. Er drückte auf diese Frage hin die Zigarette im Aschenbecher aus, seine Augen schimmerten wüstenfarben. Ein Soldat, entgegnete er, sei noch nach der Niederlage Soldat, in Gefangenschaft und im Grab noch Soldat, im Himmel und im Fegefeuer, vor allem aber in der Hölle. Die Finger des Mexikaners waren angeschwollen und vergilbt. Ich begriff in diesem Moment, dass die Literatur in einen Krieg verwickelt war.

Nur wenige Tage nach dieser Begegnung stieß ich in El País – irgendjemand hatte mir die Zeitung von einer Zwischenlandung in Madrid mitgebracht – auf einen Bericht über den Drogenkrieg in Mexiko. Zum Bericht gehörte auch ein Foto, das einen Großteil der Seite einnahm, ja geradezu im Mittelpunkt stand, eingefasst von einem Text, der, je länger der Blick auf der Seite ruhte, mehr und mehr an die Ränder wich, ein Text, der allenfalls noch einen Rahmen hergab. Zu sehen war ein nackter Frauenleichnam, der vor dem Hintergrund großflächiger Werbeplakate von einer Fußgängerbrücke herab über einer Stadtautobahn baumelte. Entlang der Wirbelsäule waren Zeichen in schwarzer Farbe auf die Haut geschmiert, tote Symbole auf toter Haut. Mir wurde klar: So werden Botschaften verfasst. So funktioniert die Kraft der Evidenz. Sie zieht den Körper in den Fokus, hebt ihn aus dem Gewirr der Autobahnschilder und Werbeplakate hervor, die nur noch Geräuschkulisse sind, verschwommen und unleserlich. Das eigentliche Alphabet ist der Körper. Auf einer Fotokopie dieses Artikels, die ich noch immer aufbewahre, notierte ich mir damals »Somatische Semiotik = Kerncode«, und ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass diese Gleichung die Sache recht gut auf den Punkt bringt. Ins Grundrauschen unserer Zeit – und mit »unserer Zeit« ist das digitale Jetzt gemeint – wird vornehmlich mit nackter Haut geschrieben, mit abgehackten Händen oder Köpfen. Mit Blut. Das Foto, das Video, die Kraft der Evidenz lässt den Text zum Rahmen verkümmern, zur Einfassung einer Mitteilung, die nicht mehr als lineares Gefüge erscheint, sondern als Anordnung in einem Raum, in dem Satzglieder und Körperglieder gleichwertig sind. Neben den vertrauten Buchstaben und Symbolen umfasst das Zeichensystem nun auch Leichen, Glieder, Häupter. Genitalien freilich auch. In diesem Modus der Verschaltung gibt es nichts mehr zu erzählen, denn alles ist gleichzeitig Geschehen und Schrift in einem. Erzählungen im engen Sinne sind obsolet, Fiktionen – was auch immer damit gemeint sein mag – leere Hülsen. Insofern nämlich, als sie die Gewalt ihres Drohpotentials beraubt, wirkt Fiktion leer und trocken. Ihr Ort ist folgerichtig die Wüste, wo sich einzig noch Raum und Zeit für die Langsamkeit der Erzählung findet und wo es außerdem keine Straßen gibt, keine Starkstrommasten und vor allem keine Wolken; wo es also noch Licht gibt, richtiges Leselicht, wie es jenseits der Wüste kaum noch zu finden ist, bei all den bleischweren Wolken, die das Jetzt teppichdick verhängen, und aus denen jederzeit biblische Gewalt zu regnen droht. In den Clouds schwebt immerfort die Plötzlichkeit der Zerstörung. Das aufgetürmte Gewölk erinnert daran, dass kein Schöpfer um die Gewalt herumkommt und dass Gewalt wie nichts anderes das Schöpferische prägt und immer schon geprägt hat. Was heute anders ist, ist vielleicht die Plötzlichkeit. Die Schnelligkeit. Einem wie Karlheinz Stockhausen war das sofort klar, als er zwei Flieger an den Twin Towers zerschellen sah. Seine Feststellung, dass der orchestrierte Angriff auf das World Trade Center »das größtmögliche Kunstwerk ist, was es je gegeben hat«, mag kleinen Geistern durchaus zur Empörung gereichen. In der ästhetischen Analyse ist sie jedoch unwiderlegbar akkurat. Sie umreißt das Paradigma mit der Präzision eines Touchscreen-Skalpells.

Für den Wettkampf gegen eine derartige Ästhetik des Zerplötzenden ist die Literatur denkbar schwach gerüstet. Sie hat sich inzwischen auch allem Anschein nach mit einer Nebenrolle abgefunden und in einer Nische, inmitten tonnenschwerer Schuttmassen von Sprache eingerichtet, wo sie nunmehr ein trauriges Onanistendasein fristet. In einer lethargischen Mechanik wiederholt sie immer nur dieselben anachronistischen Muster und verspritzt ihren Samen – eigentlich nur noch fauliger Glibber – auf ein karges Feld, auf dem lange schon nichts Neues gedeiht. Dieses Ausharren in der Endlosschleife verbrieft die Resignation einer kränklich wankenden Literatur, die einzig noch den Weg des Leichenzugs zu gehen imstande ist, eines Leichenzugs, der ohne Pomp und Feierlichkeit auf ein Massengrab zuläuft, tief im Morast. Wer den Weg kennt, kennt die Prozessionen von Zombies und Vampiren, Spektren aus der digitalen Welt, die auf den Bildschirmen bis aufs Mark ausgeschlachtet wurden und denen über den digitalen Tod hinaus ein Fortleben im Buchformat geschenkt wurde. Bücher zum Zeitgeschehen, Reportagen über Kriege, Konfliktherde und Schicksale, Biographien und Blogs, die zwischen zwei Buchdeckel gezwängt werden wie in einen Sarg, nicht etwa um über die Vergänglichkeit von Ereignissen hinwegzutäuschen, sondern um noch aus dem Tod Kapital zu schlagen; um den Tod noch ins Handfeste zu retten und nicht zwischen den Fingern zerrinnen zu lassen, wie der flüchtige Pixelsand des Bildschirms. Mit dem Buch hält man ein Relikt in der Hand, einen materiellen Verweis auf Vergangenes. Insofern mutiert das Buch mehr und mehr zum Grabstein, die Buchhandlung zum Friedhof. Das Buch ist nunmehr Klotz.

Gegen die literarische Massenverklotzung hilft allein die Zerklotzungswut einer Terrorguerrilla. Es bleibt keine andere Wahl jenseits der Gewalt, denn das literarische Territorium ist bereits besetzt, wie es scheint für immer. Selbst die Katharsis ist längst nicht mehr Hoheitsgebiet der Kunst, sondern Teil der Realität. Was angesichts dieser desolaten Lage übrig bleibt, ist, ein paar Autobomben zu zünden, die eine oder andere Entführung zu versuchen, Guerrillagefechte anzuzetteln, die im besten Fall destabilisieren, niemals aber Gebiet zurückgewinnen werden. Dennoch. Für einen festen Glauben zieht man bekanntlich auch in den aussichtslosesten Kampf. Man muss nur bereit sein, auf jedes Trittbrett aufzusteigen oder aber ins Fahrwasser der Realität zu springen und sich im Schlepptau der kollektiven Ängste und Phantasien treiben zu lassen. Es gilt, ein Gefühl für den Kairos zu entwickeln und den Kairos unweigerlich für die eigenen Zwecke zu missbrauchen. Und es geht darum, Literatur nicht zur Mimesis verkümmern zu lassen; die »Realität« weder als Modell noch als Maßstab zuzulassen, sondern ausschließlich als das, was sie ist: als Widerstand. Gegen diesen Widerstand – man kann sich das Ganze, um ein halbes Dutzend Buchstaben verkürzt, auch als Wand vorstellen – muss mit Fräsen geschrieben werden, mit Drucklufthammern, mit Bomben, mit allen Mitteln, mit Raketen. Rastlos muss man dagegen anlaufen, alles aufbieten und zerschellen lassen, das Ziel stets im Rücken (als eine Art teuflisches Geflüster) und nie vor Augen, denn vor den Augen erstreckt sich nichts als die weite Ebene der Vergangenheit, mit ihren Ablagerungen und Genealogien. Mit ihrem Substrat. Denn wie jedes andere terroristische Projekt ordnet sich auch die Literaturguerrilla in eine Genealogie ein und steckt das Feld ab, auf dem sich die Meister tummeln. Zum Beispiel Marinetti, ein faschistisches Arschloch aber brillanter Futurist, der die Wörter rattern hören wollte wie Maschinengewehre; André Breton, der die Massenerschießung zum ästhetischen Ziel erklärte; Richard Huelsenbeck, der ohne einen Revolver im Halfter nicht schreiben konnte; und viele mehr, sie lungern meist im Untergrund. Diesen Kämpfern der Literatur ging es niemals nur um ein Spiel mit Metaphern, sondern um die Umsetzung einer Programmatik. Das Terrain, auf dem sich die Avantgardisten zerbombte Museen und brennende Bibliotheken herbeiwünschten, lag jenseits der Spielwiesen der Metaphern und bunten Tropen. Es waren Phantasien, gewiss, aber keine Metaphern. Phantasien, die bedrohlich in die Realität hineinragten, wie scharfe Zeitbomben. So müssen im Übrigen auch heute noch – heute mehr denn je – Bücher geschrieben werden. Nicht als Klötze, sondern als Zeitbomben. Wenn man das Ohr an den Einband hält und ins Konvolut hineinhorcht, muss man ein leises Ticken hören.

Ein Buch muss eine latente Explosion sein.

Meine Sprache
Deutsch

Aktuell ausgewählte Inhalte
Deutsch

Mário Gomes

Mário Gomes

ist Dozent für Literatur- und Medienwissenschaften an der Universität der Künste in Berlin sowie Dokumentarfilmregisseur und Musiker, vor allem aber widmet er sich unkonventionellen Literaturformaten. Gemeinsam mit Jochen Thermann veröffentlichte er 2016 den Roman Berge, Quallen bei DIAPHANES.