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»Können Sie sich so etwas vorstellen?«

Axel Dielmann

Die Schneiderin
Model’s Cut

Veröffentlicht am 25.10.2018

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Wahrscheinlich mussten die Kuratoren fürchten, jemand stolperte über die Stufen beim Blick an ihre Wände, unachtsam vom Bilderansehen – kann es sein, dass ich eben unten an dem ersten Objekt der Ausstellung einfach vorbeigegangen bin? Nummer 1, »Schleier ohne Form. Vorhang…«. Muss an der Wand direkt zwischen Eingang und Abgang… »Lieber Herr Kollege…!«, und Aufgang angebracht gewesen sein, »… Vorhang. Höhe 310 cm, Breite 475 cm«, ich müsste das doch vom letzten Gangabschnitt her schon gesehen haben, wandhohes Ding. Was ich hier übersehe, geht mir durch den Kopf, wäre das Wesentliche. Was noch die schlichteste Form von Analyse ist. Eigentlich müsste ich, weiß ich, zurückgehen im sacht aufsteigenden Wendelstein. Aber er ist zu Ende, vor mir öffnet sich entlang einer letzten flachen Stufe das Anatomische Theater. Licht.

Dem rechteckigen Raum eingeschrieben ist das Oval einer hölzernen, braun glänzenden Balustrade, von der aus sieht man nach unten. Irgendwo wird hier geflüstert. In drei enger werdenden Ovalen senkt sich der Trichtersaal konzentrisch ab, auf jeder Etage eine hölzerne Sitzreihe für die Studierenden, die von allen Seiten auf das Zentrum hinabsehen, in dem unten der anatomische Tisch steht. Ist dort unten die 37? Ein Tuch ist über den Seziertisch gehängt. In diesem Raum werden lange keine Sektionen mehr stattgefunden haben, aber seine Intimität, denke ich, in mir ein Impuls, das zu notieren, der dichter werdende ovale Raumtrichter passt zu den Mull- und Blutobjekten meiner Künstlerin perfekt, in einer Sitzung müsste ich das nun selbstverständlich festhalten, sofort habe ich beim Hereinkommen das Bild gegenüber dem Eingang gesehen, Nummer 29, und mit Sandra B. assoziiert, ich schaue wieder hinunter ins Rund, Gemurmel, schaue wieder hier oben im Rechteck um mich her, schaue hinüber – was denn?

Ich weiß nur zu genau, dass beides schöne Fehlleistungen sind, die »Mull- und Blutobjekte« und der Gedanke: »meiner Künstlerin«. Von wegen! Ihre Mulle werden hier nicht ausgestellt sein, »Menschenkette« habe ich gelesen, seltsamer Titel, und es ist schon dreimal nicht von ihr, was da gegenüber aufgehängt worden ist. Dennoch, was beim Hereintreten aus dem Wendelstein in den oberen Umgang des Anatomiesaals ins Auge springt, und jetzt wieder, das ist wie ein Zitat auf Sandras Wundabdrucke. Auch wenn dieses Bild eines Kopfes schon deshalb nicht von ihr sein kann, weil sie nichts simuliert. Weil ein Portrait, denke ich, das sie machen würde, kein Zweifel, ihrem eigenen möglichst ähnlich sein müsste, autobiographisch. Sicher?

»Können Sie sich so etwas vorstellen?«, hat sie gefragt, als sie vor einigen Wochen von einem »Leichentuch« angefangen hat: »Ich meine: räumlich! Können Sie sich das räumlich vorstellen? Geometrisch, einfach als Tuch?« Wo soll das nun wieder hingehen, habe ich gedacht. Nein. »Dann stellen Sie sich doch einmal vor, sie wickeln ein Tuch um einen…« Sie sah mich an, als sei nun ich der Patient, der sich zu seiner Enthüllung voranarbeiten sollte: »… einen Fußball. Können Sie sich das vorstellen?« Biest. Dachte ich. Grinsen unterdrückte ich. Na klar. Und dann? »Sie wickeln ein Tuch um einen nassen Fußball. Dann…« Ich durfte in das Bild nicht einsteigen, musste sie sprechen lassen: »Dann wickeln Sie ihn wieder aus. Verstehen Sie?« Ich verstand. Hatte ich genickt? »Das Tuch wird Ihren Fußball zeigen«, sie umriss mit ihren Spitzfingern einen Ball zwischen uns, »und es wird alle Nähte«, sie machte eine Pause, ich notierte das, »alle Nähte und, wie sagt man, das Ventil abbilden, auch alle Kratzer«, sie machte keine Pause, und ich notierte das, »auf dem Ball, sogar die Struktur im Leder selbst. Das werden Sie alles auf dem Tuch sehen. Als Abdruck.« B. seufzte, habe ich notiert. »Können Sie sich jetzt bitte«, später las ich »eine verblüffende Wendung: die Freundlichkeit ihrer Einladung« in meinen Notizen, »einen genauso hergestellten Abdruck«, kam mir sehr aufgeräumt vor, »von einem gesamten Körper vorstellen?« Ich konnte mir das vorstellen. Oder hatte Sandra »von meinem Körper« gesagt? Ich stellte mir das vor. Und der Körper war nicht nass, war kein Ball. »Lieber Herr Kollege…!« »Wenn der jetzt… sagen wir mal«, Pause, »… Wunden hat…«, notiert, aber »so viel Körperfläche haben Sie gar nicht«, rechnete es in mir, »um das wirklich auszuprobieren« – zum Wahnsinnigwerden, wie pathogene Logik sich überträgt und einen einnimmt! Sie schnitt mir, »Können Sie sich jetzt dieses Tuch dazu vorstellen?«, die Gegenübertragung ab, »Haben Sie das Bild?«, vernähte damit ihre Übertragung, fuhr nun mit ihren gespreizten Fingerspitzen um ihren Körper herum, sehr langsam, wieso »vernäht?«, »Lieber Herr Kollege…!«, sehr konzentriert, ertastete ein viel zu konkretes Feld von Linien, als führe sie sensible Handgeräte zu einer Personenkontrolle um sich herum, würden gleich fiepen, Suche nach Spuren, Detektoren für Schnitte, um schon einmal, was sich demnächst auf einem überlebensgroßen Tuch abbilden sollte, zu sondieren, zu erspüren. Und ganz leise: »Können Sie sich das vorstellen?«

Nichts antworten!

Sie: »Ich, die Projektionsfläche!« – Und im bipolaren Umschwung von meiner Patientin dann wirklich laut herausgestoßen:

»Aber die Leinwand schlägt zurück!«

Sie hat solche Sätze unvermittelt gesagt. Wie auch sonst? Ich hatte anfangs keine Ahnung, wen oder was die B. gemeint hat. Und wieso gesagt »hat«? Wenn das überhaupt jemanden meinte, oder etwas. Habe es durchaus auch auf mich bezogen. »Schach dem Brett, ihr armen Irren.« Dieser Ausbruch hat sich, dieser Ausspruch hat sich mir, nein, dieser Ausbruch hat sich mir besonders eingeprägt. Er fällt mir manchmal, naja, einfach so ein. Ist ja auch witzig: »Schach dem Brett, ihr armen Irren.« Haben ohnehin zu wenig zu lachen, »Lieber Herr Kollege…!« Obwohl ich ausgerechnet nicht erinnern kann, ob es eine ästhetische Aussage gewesen sein sollte, Sandra damit ihre Arbeiten – Vorsicht hier: Objekte, beschrieben haben wollte, »Lieber…!«, oder ob das von ihr ohne diesen Bezug gesagt war.

»Was halten Sie von dem Arbeitstitel«, hat Sandra B. mein Abwarten beendet: »Leichentuch?«

Ich will mir das nicht ausmalen! Starre in die Augen da drüben.

Das ist wirklich einmal stark, die Nummer 29. Direkt gegenüber dem Wendelstein, auf einem vergammelten Brett, »34 cm x 48 cm«, ich rette mich in den Katalog, sind quadratische Mullstücke aufgetuckert. Sie überlappen sich, überdecken einander, bilden eine Gesichtsfläche, die Tuckernadeln schauen derb aus dem weißen Verbandszeug hervor, zerhacken das entstehende Gesicht, Schmisse. Beängstigend. Denn irgendwie, durch die Anordnung der Mullteile zu einer rundlichen Form, mit einem Halsansatz nach unten hin, aufgebauscht im Zentrum einige Läppchen zu einer Nase, sieht man zwei quer aufgeworfene Lippenwülste, ein Schopf von ausgefransten Tupfern, einen Kopf, seitlich abstehende Stoffteile für die Ohren. Das wäre beinahe spaßig. Beängstigend ist es nicht wegen der ungewöhnlichen Materialien des Reliefs, nein, oder wegen irgendeiner Ähnlichkeit. Die Betonungen durch die Krampen, die das halten, die Ballungen der Tuckernadeln, man sieht sofort das Angesicht darin. Und aus den vielleicht zehn Metern über die engen Reihen des Anatomischen Trichters hinweg sieht der rundliche Kopf auch noch wie Picasso aus, weiß nicht, wie der aussah, abstehende Ohren, kugeliger Kopf, Glatze, ist es das? Irre, dass man an abstehende Ohren denkt, wo nur weiße Gazestücke zu sehen sind und silbrig graue Drahtklammern darin.

Aber die Augen. Die ganz besonders müssen einen gruseln. Zusammengekniffen, Mullflicken. Tuckernadeln, stechend.Eine Erstarrung hat sich mir in den Nacken gesetzt, Augenbogen, Jochbeinrand aus Stoffstücken, Pupillen, Glanzlichter aus Draht, ich werde das gar nicht mehr los. Die Augen bilden sich erst richtig aus dem Getuckere im Verbandsstoff und sind sogleich, kaum durch den Mull entstanden, mit den Krampen ausgestochen. Hineingetuckert ist in die Augen im Moment, da sie sich formulieren. Wie bei Sandra Blei.

»Lieber Herr Kollege…!«

Verdammt!

Langsam jetzt – ist mir ja wirklich noch nie passiert sowas…

Ich sehe über die hölzerne Brüstung hinunter, in der Mitte des Theaters, Nummer 37.

Nein, nein, langsam!

Und wo kommt das Gebrabbel her? Kein Mensch hier drinnen.

Ich schaue doch hinunter in den Kessel, da, direkt unter mir, an der untersten Sitzreihe für die Zuhörer stehen die Eltern. Waren wohl zurückgegangen und haben sich nicht durch die Gruppenführung kämpfen müssen. Allerdings sind die zwei ganz still, schauen sich da etwas an. Von irgendwoher aber das Gerede, expressiv, ein Dozieren, das einen ganz kirre macht.

Langsam jetzt!


Links herum. Und entlang dem Ausstellungsplan. Okay.

Der Anatomiesaal, der obere Umgang. Hier, genau, Nummer 26.

Bondage-Fotographie. Einer, der »Nobuyoshi Araky, Japaner« heißt. Knackig selbst die Farben vorm tiefschwarzen Hintergrund. Ich lasse das unbeachtet an seiner Wand. Interessiert mich nicht, wie ein Fotograph einen Frauenkörper ästhetisiert, durch Einschnürungen in Parzellen teilt, an eine Fleischhauerkarte muss ich denken, wie man sie in älteren Metzgereien zwischen Wurstringen und Abgehangenem sehen konnte, dem schematisierten Schlachtvieh eingezeichnet mit gestrichelten Linien wie hier von den Seilen und Schnüren: Kotelett, Hinterschinken, Rücken, Hüftsteak, Vorderkeule, einmal in Italien mit Katja bei Cecchini, dem Fleischkünstler, noch auf den papierenen Platzdecken diese Portionierung, die hier nun Kordeln und Seile schaffen, der gefesselte Körper aufgehängt im Netz von Fraktionierungen, und das ausdruckslos dreinblickende japanische Opferlamm am Strick legt seinen Stolz darein, zum Objekt genommen und ausgestellt zu sein, und der Bildmacht des Künstlerfotographen so ergeben, dass ihr nichts wehtut, die Einschnitte des Stricks nicht, die Verbiegung der Gelenke nicht, der kopfunter hängende Blutkreislauf nicht. Gehässig denke ich, während es mich zum nächsten Exponat in der Ecke des Umgangs zieht, es fehlte nur noch, dass der Fotokünstler, hinter seiner Kamera ganz Auge geworden, sich mit ins Bild holte, indem er sich auf einer der zum Fischauge aufgewölbten öligen Fleischpartien seines Fesselmodells selber spiegelte. Ich schaue kurz zurück, vermeide den Blick nach rechts unten. Nein, alles meine Vorstellung. Nicht einmal die Ölung der Arschbacke, des Oberschenkels, der Schulterpartie zu einem Konvexspiegel gibt es. Nirgends ein Fotograph. Wäre nicht das Bild selbst.

In der Ecke die Nummer 27, ich stelle mich davor. Da höre ich den kleinen Kubin die langen Treppenstufen herunterhüpfen, er ist es. Wo hat er denn gesteckt?

Er bleibt irgendwo entlang des Wendelsteins stehen, höre ich, das Gewisper, das ich nicht verorten konnte, macht Pause – habe ich entlang der Treppe doch ein Exponat übersehen, das er sich gerade anschaut?

Unsinn, der Junge hüpft weiter, quietscht zu mir herein in den obersten Umgang des Theaters. Das ihn verblüfft. Er sieht sich um, ich rutsche durch seinen Blick, in die nach unten gestaffelte Grube schaut er hinein. Dass seine Eltern darinnen stehen, macht ihm nichts aus, blickt geradeaus über den Hörsaal hinweg – und ist erneut wie abgeschaltet. Er stiert in die Mullaugen, die sich auch mir vorhin entgegenbohrten, sein Blick in die Augen-Pads eingeschlagen wie drüben die Krampen. Steht wie angenagelt.

Dass ich ihm einen Moment lang zusehe, einen langen Moment lang, scheint ihn kein bisschen abzulenken. Er schaut nicht, fällt mir auf, in diesem Stehen und Schauen und Angehaltensein, es ist anders, er steht dem, was er sieht, entgegen – und mir ist, als müsste mir endlich einfallen, an wen er mich wirklich erinnert. Aber kommt nicht. Ich stehe noch vor der 27:

»Orlan«, führt der Katalog aus, »The Second Mouth / 7th Operation-Performance / Omnipresence«, ertappe mich dabei, wieder am Glas des Bildes stecken zu bleiben, »21. November 1993«, je bösartiger die Bilder oder eine Aktion, desto genauer wird datiert, wie man einen Vorgang anlegt, wo kommt das denn her? »Während Pjotr Pawlenski (# 18) sich in politisch motivierter Aktion den Mund mit grobem Garn vernäht hat, lässt sich die französische Körperkünstlerin Orlan einen zweiten Mund in ihr Kinn operieren.« Nicht zu fassen. Ich bleibe vor dem Glas.

»Immer löst sich auf, was man gesehen hat.« Stimmt das?

Aber nicht in die Mulde hinuntersehen jetzt. Ich lese »Nummer 28«. Ich sehe Ulay & Abramovic, »Rest Energy«. Ich lese nicht mehr. Ich sehe mir das Bild an. Eine Frau, ein Mann, Pfeil und Bogen zwischen ihnen. Gespannt zwischen dem Mann und der Frau, der gertenschlanken Künstlerin. Mir kommt sie vor wie eine Gouvernante in ihrem langen, schwarzen Rock und der weißen Bündchenbluse, starr und dabei weit zurückgelehnt, den Bogen in der Hand. Hält ihn aber von der falschen Seite, vor ihrer Brust droht die Spitze des Pfeils. Der ist vom anderen Ende her bis an den Bogengriff gezogen, und je weiter weggezogen von ihr, desto gefährlicher. Den Schafft des Pfeils, auf der Sehne bis zum Gehtnichtmehr gespannt, hält ihr Gegenüber zwischen seinen Fingern. In schwarzer Hose, weißem Hemd steht er starr zurückgelehnt wie sie. Ein V die zwei. Verbunden durch den Pfeil, tödliche Achse, durch den Bogen und die Spannung zwischen ihnen, beide verkrampft, stocksteif, die Arme in den Ellenbogen eingewinkelt, er wie sie. Er hält den Pfeil auf der Sehne, sie hält den Bogen auf sich an. Gemeinsames Zielen. Kaum auszuhalten, diese Spannung. Ich trete ein Stück zurück, stoße an die Brüstung hinter mir, bleibe aber von dem Bild eingenommen. Nur, daß allein sie Ziel ist, zerlegt noch die Gemeinsamkeit, die Energie, spaltet die Ballung zwischen den beinahe Identischen, und das Foto hört auf, Momentaufnahme zu sein, es ist gedehnte Spanne.

Das muß, ich verschaffe mir Abstand durch die Betrachtung, höchst genau konstruiert worden sein, man kann es sehen: Kamera und Fotograph sind so postiert, daß sie dem Pfeil folgen, der Blick, mein Blick ist auf die Brust ausgerichtet, der Betrachter trifft mit, und so lösen sie die Spannung in ein Ziel auf. – Bekommen wir denn kein besseres Modell hin als die Achse? Ist ja nicht gesagt, daß Achse immer Pfeil und Spitze bedeuten muß. Oder entsteht Entspannung wirklich erst, wenn eins getroffen wird? Kommt auf die Geschwindigkeit der Entladung an, fällt mir ein.

Und wie haben das die beiden, Ulay und Abramovic, ganz praktisch aufgelöst? Die Spannung langsam entladen?

Kein gutes Konzept, dieses »Rest Energy«, die angehalten ist, 1980, schlafende Energie, alles schon eine Weile her, eingehalten. Wie jetzt ich, in meinem Erinnern.

Auch wenn ich kurz denke, daß alle diese Fotos von den Performances hier herinnen minutiös auf Wirkung hin geplante Inszenierungen sind, nichts weiter, weit ab von den vorgespielten Schnappschüssen, so trifft das einen doch – ich halte die Spannung nicht aus. Weiter. Wann schließen die hier eigentlich? Durchsichtige Selbstablenkung. Ja, schon, und ich höre das Murmeln wieder ansetzen, etwas wie Rebhuhn auseinandernehmen.

Kurzhals Kubin streift an mir vorbei, quietscht und bollert auf dem Holzboden des Umgangs, ich knarze langsam hinterher in Richtung 29, kurz bleibt er vor dem Tucker-Pads-Kopf stehen. Unten tuscheln seine Eltern. Das andere Flüstern im Raum kommt von einem Band, erkenne ich, Also – man nimmt das Rebhuhn, meine Schritte knarren. Ich schaue mich um, schaue in den Trichter, unbeteiligt wie ein Tourist beobachte ich mich selbst, und klemmt es zwischen den Beinen ein. Der Junge quietscht weiter, richtig fest klemmt man es ein. Auch ich gehe am Mull-Krampen-Kopf vorüber, grusig.

Kubin hat im Umgang das Treppchen entdeckt, Lücke in der Balustrade, durch die er zur nächst tieferen Etage hinunterhüpft, welche schon die Rundung der untersten Ebene um den Anatomietisch herum annimmt, »Pssst!«, kommt diesmal von seinem Vater. Der Kleine hüpft unbeeindruckt die Stufen zu Ende, quietscht durch den zweiten Umgang oberhalb des Leichentischs, mit abgezirkelten Schritten wie ein kleiner Soldat im Kreis, und gleich noch mal, ich zögere hier oben im Eck. Zwei Fotos links vor der Raumkante, rechts dahinter noch einmal zwei, aber es hat mich bereits weitergezogen, aus der Ecke heraus, als ich »Nummer 30. Kira O’Reilly« lese, »Performance Succour. 2002«. Der Junge, der mich an etwas erinnern will, marschiert im Kreis, ich vor der Wand weiter, es fällt mir nicht ein, »Till…!«, verstärkt die Mutter die väterliche Ermahnung mit reduzierter Stimme. Der vollführt ungerührt eine weitere Umrundung. Das Gemurmel im Plauderton, du könntest es natürlich auch in den Schraubstock klemmen. Ich schaue nach der Nummer 31, »I miss you« und »Still life«, dann könnte es keinen Wank mehr tun, erneut Fotos. Aber wir legen Wert auf Tradition. »Franco B.«, steht da, eigenartig. Aber ich unterdrücke den Impuls, links unten nach Sandra zu sehen, schaue voraus, genau, diesmal ist das Objekt als solches zu lesen, richtig, ich muß den Katalog nicht konsultieren, brav, ein billiges Späßchen, zugegeben: Ein Buch hängt, machst mir Freude, in einem Rahmen an der Querwand. Till unter mir dreht eine neue Runde, an den Ausstellungsstücken des zweiten Umgangs vorbei, mache ich, seltsam unbekümmerte Eltern, das Kind dem allem auszusetzen!

»Überschreibung einer Autobiographie.« Ist das nun von seinem Autor selbst gemacht worden?

Auf dem Buchumschlag ist rot mit einem fetten Edding fast der gesamte Autorenname ausgelöscht, darunter wurde in groben Lettern »Didier Eribon« geschrieben. Ist das der Vater? Der Bruder? War der nicht gestorben? Also, oder doch sein Vater? Ich habe von dem Buch gelesen. Man nimmt es zwischen die Beine.

»Rückkehr« eine Zeile drunter ist mit zwei dünneren grünen Linien durchstrichen, und dann zieht man ihm den Hals lang, und mit »Flucht« überschrieben worden, wie zur Vergewisserung doppelt, und dann sperrt man ihm den Schnabel auf und sieht hinein, unbeholfen wirkt das, ein gedankenverlorenes Kritzeln am Telefon, und da unten aus der Tiefe muß heiter die Sonne.

Zuletzt herausscheinen ist mit drei blaßblauen Strichchen »Reims« ersetzt siehst du durch »hause«, wie sie scheint Alte-Leute-Handschrift, ja, die nachgezogen werden mußte, schön, sich selbst noch einmal versicherte golden und noch einmal, wie sie da herausscheint, was sie dem Verschwinden entgegenhält, ganz schön

Ziemlich viel Interpretation, ja, ich verstehe das Machwerk nicht, blöde Kopfgeburt. Und ich will, ist doch klar genug, mich mutwillig ablenken.

Ich drehe mich um, habe nun selbst die Lücke in der Hörsaalbrüstung vor mir, sechs Stufen hinunter ins Oval, gut einen Meter staffeln sich die Zuschauerreihen, Till beendet seine Umrundungen, schlüpft in die Aussparung für das nächste Treppchen ganz nach unten, und ich schaue, während ich absteige, direkt in die Mitte mit dem Tisch. Das Leichentuch, eindeutig. Schaue in den Katalog, völliger Irrsinn, »Die Exponate 26 bis 42 sind im historischen Anatomiesaal, den Sie…«, Vorsicht! Nicht auf der letzten Stufe noch fallen! Und wieder links herum jetzt im mittleren Umgang. Es ist lauter geworden hier, das Sprechen, das Belehren kommt von gegenüber, dann kann man es auseinandernehmen, von der anderen Seite des Umgangs, dann kann man es essen, ein Monitor dreht irgendwelche Werkzeuge im virtuellen Raum, aber zuerst nimmt man den Stichel. Drunten Nummer 37, und dann sticht man ihm von beiden Seiten die Augen aus, ich habe den Ringfinger noch immer an ihrer Stelle im Katalog stecken, mit ein wenig Übung kommen sie ganz ring heraus. Langsam. Hiergeblieben, siehst du. Der Reihe nach, da haben wir sie.


Offenbar die Abteilung für Video-Installationen, zwei wunderschöne Augäpfel, dieser Umgang hier, die tust du separat in ein Schüsselein. Links vom Durchschlupf, in so eines, gleich vier kleine Bildschirme, ja, jenseits der Theatersenke das brabbelnde Ding, genau so eines, von dem das Dozieren kommt, da tust du sie hinein, aber es geht rechts herum weiter, und das gibt nachher ein wunderbares Dessertlein, ebenfalls ein flacher Fernseher. Augencreme. Ein beau-hafter Mensch mit genug aufgeschäumtem Eiweiß zupft und viel Zucker an einem an einer Stellwand angebrachten Airbag herum, flachgedrückt, aber beim Dessert sind wir noch nicht, gefaltet dieser Airbag. Ein Versuchsaufbau, den der Beau zu erklären scheint. Ich müßte den Kopfhörer aufsetzen, der sich unter dem handtaschengroßen Bildschirm anbietet, um seine Erklärungen zu hören. Wieso »Handtaschen«? Umständlich schminkt sich der gefilmte Künstler, wieder in weißen Klamotten, der Schweizer Singsang derweil scheint Luft zu holen, diese Langsamkeit, die mich vom Abstieg fernhält und mich, ich weiß es, zuerst reißt man ihm alle Federn aus, von der Annäherung an die 37 trennt, man rupft es wie alles, der Beau pinselt sich gelben Puder ins Gesicht, was man rupfen kann, die Augenpartie, Nase, es geht ganz ring, die Wangen, tupft sich die dicke Quaste, man kann die Federn büschelweise nehmen, mehrfach unter die Nase, so, auch das Kinn immer noch einmal nachgepudert, Stirn und wieder die Augen, und dann reißt man sie einfach weg. Er spricht derweil zu einem nicht gezeigten Publikum, macht es umständlich, und dann setzt man das Häutmesser an, er schiebt ganz deutlich etwas vor sich her, hier, nimmt einen Drücker, gerade hinter dem Schnabel, eine Art Auslöser zur Hand, und zieht schön fein durch bis zum Bürzel, spricht und erklärt und zeigt. Und alle zwei Finger breit setzt man wieder an und zieht durch. Dann tritt er zu dem Airbag, bis man rundherum ist. Macht einige Schritte vor, nähert sich dem schlaffen Sack, man kann die Hautstreifen ganz leicht lösen, tänzelnd wie ein Boxer, vor und zurück, diese kann man nachher an den Salat tun, die Kamera traut sich nicht mit heran, ganz etwas Feines, die Perspektive sinkt auf seine Beine, da ist jeder Speck, und die Schuhe hinab, und jeder Schinken gar nichts dagegen, der Mann mehrmals ran und weg von seiner Wand, so ein Geschmäcklein hat diese Hühnerhaut, man sieht ihn den Auslöser halten, und dann nimmt man das Schöpfmesser, den er anhebt, sieh jetzt, er stellt sich noch einmal zurecht, wie das schön rosig ist, hält an, das Fleisch, hält still. – Er drückt ab.

Eine gelbe Wolke füllt den Bildschirm. Der Mann ist getroffen und durchs Bild gestoßen. Er dreht, er krümmt und windet sich, ist nur mühsam noch auf den Beinen, umwabert vom Puder, der Ballon des Airbags protzt im nachjustierenden Bild. Eine Zeichnung auf der prallen Ballonfläche, grob ein Gesicht, viel mehr Maske. Die Kamera fokussiert noch, als könnte sie es schärfer bekommen, hält das Bild. Blendet, wie zur Entschleunigung der ausgelösten Explosion, langsam weg.

Man kann dafür das Häutmesser brauchen.

Während der Abspann in den dunklen Bildschirm läuft, und dann nimmt man die Strünke mit den Wurzeln, »William Hunt, Galerie Petra Rinck«, und knetet und dreht sie, »Düsseldorf. You’re gonna pay for it now, man knetet und dreht sie, Now you’re gonna pay for it, Performance mit Airbag«, bin ich bereits von dem explodierten Luftkissen weggestoßen, bis es schöne Kugeln daraus gibt, mein Daumen noch zwischen den Seiten des Katalogs, und dann tut man die Kugeln auf die Seite, ich schaue hinein, und paßt gut auf darauf, »Nummer 34. William Hunt«, ganz von selber werden die Kugeln dann Eier, »Galerie Petra Rinck, Düsseldorf« und dann ist auch schon wieder für Nachwuchs gesorgt, »Performance«, lese ich blöde, man will ja nicht, ich muß mich zusammenreißen, dass das erste Rebhuhn, mir kommt das alles, das man auseinandergenommen hat,
wie ein unsagbarer Leerlauf vor, auch das letzte ist.

Und bei all dem mußt du immer gut zusammenklemmen, hier,

bei den Beinen,

das braucht Kraft,

so ein Rebhuhn hat Kraft.

Wenn sie aber dann hervorkommen aus den Eiern.

Irgendwo quietscht es, die Kleinen, hinter dem beschwörenden Rebhuhn, dann drückst du ihnen, zwei Bildschirme weiter, am Gescheitesten gerade von Anfang an ein wenig in die Augen. Wo ist denn mein Kubin abgeblieben? Auch seine Eltern sind verschwunden.

Im untersten Rund sind sie nicht mehr, der Leichentisch mit Tuch steht verlassen in seiner Mitte. Auch zu hören sind sie nicht, das Quietschen war etwas anderes. Kam auch sicher nicht von den glatten Bildschirmen, die ihre Bilder stumm inszenieren. Mit Ausnahme des übernächsten: »Ja aber das dünkt mich doch bald ein wenig grausam«, tönt der in kindischer Empörung, »sie sind doch dann erst frisch auf die Welt gekommen«, was insistiert, hat schon immer, und sind noch so klein, meine Opposition provoziert, meine Verweigerung. »Grausam«, brüllt der Monitor, »was heißt hier grausam«, und ich wende mich zu dem Exponat neben mir, will das, ich kann dir noch viel Grausameres erzählen, wegblenden, nicht blöd getan, komm. Hoppla!

Das sieht aus wie… Ich blättere um:

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Axel Dielmann

Axel Dielmann

1982 Gründung der Zeitschrift für Literatur Schritte. Ab 1987 Kunst-Arbeiten: Galerie Klaus Werth, Der Blaue Kompressor, Kunstbahn Hamburg. 1992/93 Gründung axel dielmann – verlag. 1997 erste Multiples, ab 2007 Kunst-Erzählungen. 2011 Übernahme der Frankfurt Academic Press. 2013 erscheint sein Erzählband Nizza oder Die Liebe zur Kunst, dessen 3. Teil derzeit verfilmt wird.
Weitere Texte von Axel Dielmann bei DIAPHANES