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Joachim hat ein ganz feines Gespür für Untertöne

Angelika Meier

Joachim Löw wohnt hier nicht mehr

Aus: Stürzen, drüber schlafen. Kleine Geschichten und Stücke, S. 79 – 88

Am zweiten Juli bin ich durch das Tor gegangen. Ich atmete tief durch, weil es doch auch schön ist, wieder draußen zu sein, dann begab ich mich auf direktem Weg nach Neukölln, wo der Joachim Löw im Hotel Mercure sicher schon auf mich wartete. »Sobald du rauskommst, sofort in die Besprechung«, hatte er ein paar Tage vor meiner Entlassung am Telefon gesagt. Ich war ihm von ganzem Herzen dankbar, denn schließlich hatte ich ihn die ganzen letzten sechs Wochen hängen lassen. Es durfte mir einfach nicht mehr alles zu viel werden, ich hatte so große Fortschritte gemacht in den letzten Jahren, war sogar doch noch für mündig erklärt worden, wenn auch nur zur Bewährung, und wenn vielleicht auch nur durch die aus der amerikanischen Ferne über meinen Kopf gehaltene Hand von Jürgen Klinsmann. 


»Da bist du ja endlich«, der Empfangschef, der in der Lobby des Hotel Mercure hinter seinem hohen Tresen wie in einem Pappkarton hockte, begrüßte mich mit einem ungeduldigen Kinnheber über den Rand seines Zuständigkeitsbereichs hinweg und griff hastig zum Hörer, »ich sag ihm, dass du da bist.«


Ohne ihn auch nur eines Nickens zu würdigen, ging ich zügig an seiner Kiste vorbei, weil ich mich so ärgerte, dass er mich noch immer duzte. Im Fahrstuhl wollte ich noch schnell die erste Strophe von I believe I can fly singen, aber schon bei touch the sky spuckte mich der Aufzug wieder aus, und vom Ende des Gangs her hörte ich durch die Tür hindurch bereits die sympathisch unschöne Stimme von Joachim, die jedes seiner Worte ­ordentlich kleinhackte, damit auch der geringste seiner Zuhörer ihn verstünde. Ohne anzuklopfen schlüpfte ich in den halb abgedunkelten Raum hinein und klebte mich platt an die Tür. Joachims drei Assistenten saßen eingesunken und mit hängenden Köpfen auf dem weichen Doppelbett nebeneinander, der mittlere schluchzte leise in seiner tiefen Matratzenmulde, während Joachim, die Ellbogen auf dem Rücken gefasst, vor ihnen auf- und abstolzierte.


»Es gibt ü-ber-haupt-kei-nen-Grund für eine Revision. Schließlich habe ich immer gesagt: Ich äußere mich nicht öffentlich über Minimal- oder Maximalziele. Und – ah, da bist du ja, grüß dich!«


»Hallo, Joachim«, war das erste, was ich seit Wochen von mir gab.


»Weißt, was mich ärgert?«


Ich schüttelte bloß den Kopf.


»Wir haben alles richtig gemacht, und genau dafür werden wir jetzt verurteilt – das ist das Unfaire!« 


»Mhm.«


»Nicht?«


»Doch, doch, doch – keine Frage.«


Joachim hat ein ganz feines Gespür für Untertöne:


»Aber?«


»Es … ähm … entbehrt nicht einer gewissen Logik, oder?« 


»Jaja, der Streber-Malus für den Unkünstlerischen. Weißt, dass sie mir vorwerfen, ich sei ein Ingenieur und kein Visionär, nur weil ich keiner bin, der den dritten Schritt vor dem ersten macht – geschenkt! Aber wegen dieser Ingenieursqualitäten wollten sie mich schließlich unbedingt auf der Eins haben, diese Leute! Hellauf begeistert waren sie doch, als ich damals gesagt hab, es geht nur Schritt für Schritt. Wer zwei oder drei Schritte voraus denkt, der stolpert ja meistens – bravo, Herr Löw, so wird’s gemacht, warum denn nicht?« 


»Mhm.« Endlich löste ich mich von der Tür ab.


»Vorausdenken. Eine hohe Wachsamkeit haben. Jeder Spieler – nimm dir was zu trinken – muss in seinen Gedanken vorbereitet sein, was in der nächsten Sekunde passieren kann – nicht spekulieren, antizipieren.«


»Genau«, ich betrachtete wohlgefällig die feine Sepiazeichnung von dem schönen alten Bauernhaus mit den hohen Schornsteinen auf dem Etikett der Whiskyflasche und goss mir zwei, drei Finger voll ins Glas, »du meinst, jede Gefahr sehen, lang bevor der, von dem sie dereinst ausgehen wird, auch nur geboren ist, schon die Mutter des Gegners …«


»Eben nicht!«


»Aber …? Hast du doch immer …, totaler Kontakt mit dem Gegner, und – «


»NICHT spekulieren! ANTIZI-PIE-REN! Hörst mir nicht zu? Nicht sich im Möglichkeitsraum in mental negativen Sprints verrennen, sondern nur auf die nächste Sekunde sehen. Nie weiter – gibst mir auch noch einen, bitte? –, sonst stolpert man. Und nichts mehr rausschieben, kein läppisches Zeitfensterln mehr! Sich auf eine ganz plane Zeitleiste legen, Aqua quasi, liquid timing, Nahleben, das Jetzt schauen, ver-stehst-du-mich?« 


»J-ja. Hier!« Leicht zittrig reichte ich ihm das nachgefüllte Glas und betrachtete dabei verwundert die Spuren rosa Lippen­­stiftes daran. »Aber weißt du, Joachim, ich denk mir halt so … wenn ich einmal so liquid wäre, dass ich das Jetzt schauen könnte, warum sollte ich dann noch immer bloß alle Passwege zumachen, gefährliche Zonen schließen, das Zentrum versperren? Ist das alles, was uns die Sekunde schlägt?«


»Ich versteh dein Problem«, er nickte heftig und überprüfte dabei überflüssigerweise die perfekte Ärmelaufkrempelung seines engen weißen Hemds, »uns hat’s allen die Seele weggefressen vor Angst, schon klar.«


»Weißt du, Joachim …«, der linke Mundwinkel hatte mir wieder zu zucken angefangen, aber es musste einmal gesagt werden, »obwohl ich da drin war, vollkommen abgeschirmt war, hab ich die ganze Zeit, die ganzen sechs Wochen kein Auge …«


»Schon klar, aber das ist ein quasi tragisches Missverständnis. Denn eigentlich hab ich das so nie – Jungs, lasst uns einen Moment allein. Danke euch!«


Die beiden äußeren Assistenten packten den mittleren, der jetzt hemmungslos aufheulte, und schleiften ihn zwischen sich nach nebenan. Joachim starrte ihnen ein Weilchen durch die längst wieder geschlossene Tür nach, kippte dann mit einem schneidenden Atemeinzieher seinen Whisky runter und sagte leise:


»Verdammte Scheiße!«


»Wird schon wieder«, murmelte ich dummerweise. Ich fühlte mich etwas beklommen, so allein mit Joachim in dem vollgestopften Hotelzimmer, in das durch die zwar durchscheinenden, aber schrecklich dunkelblauen Vorhänge hindurch wenig Licht fiel, und in dem überhaupt alles, von den Vorhängen bis zur Bettwäsche, vom Teppich bis zum Lampenschirm auf dem Schreibtisch, in der gleichen schrecklichen Polyesterausführung von Nachtblau festgehalten war, die jede andere Farbe um sie herum dumpf verschlingt, einem aber auch in der schwärzesten Nacht noch grell ins Auge sticht, und leicht schwitzend flocht ich mir die Finger mal in diese und mal in jene Richtung ineinander. »G-ganz bestimmt. Die wissen doch, was sie an dir …, ein paar Monate, und schon ist wieder der schönste Rasen über die Sache …«


»Nicht diesmal, nein«, er lachte nahezu triumphal auf, bevor er flüsternd hinzufügte, »there’s more to it. Much more.« 


»Wie?«


Am lang ausgestreckten Arm hielt er mir einen gefalteten Bogen unter die Nase:


»Lag heute Morgen unter meiner Müslischüssel, und niemand will wissen, wie’s da hingekommen ist.« 


Durch ein gereiztes Kopfzucken forderte er mich auf, selbst zu sehen, und während sich seine aufgerissenen Echsenaugen durch mich hindurchbohrten, um sich hinter mir in die Wand hineinzuschrauben, entfaltete ich das Blatt und las nach einem peinlich hörbaren Schlucken laut vor:


»Ausgleich! Auf ein halbes Glas Wein und acht volle Zeilen 


mit Jogi Löw.

Freiheit bedeutet für mich … ungestört meine Zeit zu verbringen. 


Auf Reisen sind immer dabei … meine Sportklamotten.


Auf meinem Nachttisch liegt … ein gutes Buch. 


Sport mache ich … am liebsten einmal pro Tag, er ist mein 


wichtigster Ausgleich.«


Erleichtert lockerte ich zuckelnd meine Schultern:


»Ein Vervollständigen-Sie-die-Zeile-Interview, na und? Kenn ich, das hab ich auch schon mal im Radio … Wo ist das Pro- ?«


»Lies weiter!«


»Nicht so schreien, bitte!«


»Ich schreie gar nicht«, er lächelte, und tatsächlich hatte er gar nicht geschrieen, sondern sogar ganz besonders leise gesprochen, »lies weiter, bitte!« 


»Ein gutes Buch bedeutet für mich … ungestört meine Zeit zu 


verbringen. 


Meine Sportklamotten sind … immer auf Reisen.


Ungestört meine Zeit zu verbringen bedeutet für mich … 


auf meinem Nachttisch zu liegen.


Auf meinem Nachttisch liege ich … am liebsten einmal pro Tag, es ist mein wichtigster Ausgleich.«


Rasch faltete ich das Blatt so klein wie möglich wieder zusammen und drückte mit den Daumen auf den störrischen Falzkanten herum. 


»Verstehst jetzt, was ich meine?«


»J-ja – verdammte Scheiße …«


»Du sagst es!« Er ließ sich stöhnend aufs Bett sacken und verkrallte sich in seinen Haaren, die dadurch wie ein Springbrunnen über seiner Stirn in die Höhe schossen, »Bleibt mir nur noch, meinen Rücktritt – «


»Das darf nicht sein! Ist doch nichts Unanständiges, ich meine, wenn du irgendwas Schmutziges …«


»Es wär weit besser für mich«, er grinste mitleidig zu mir hoch, »da stünde was Schmutziges, oder?«


»Das stimmt wohl«, kam es kleinlaut aus mir heraus, und noch kleinlauter fragte es: »Hast du denn das so gesagt?«


»Natürlich nicht! Meinst, ich bin vollkommen bescheuert?«


»N-nein, nur …?«


»Genau! Wer konnte davon wissen?« Mit einem Satz war er direkt vor mich gesprungen, sodass sich unsere Whiskyfahnen unschön vermischten. »Wer zum Teufel weiß, was ich auf meinem Nachttisch mache, hm? Nicht mal meine Frau weiß davon! Wer also, hm?«


»Aber … ich … ich kann’s dir doch nicht sagen«, in meinen Fußgelenken wuchsen wieder die kleinen Äste und gaben laute Knackgeräusche von sich, was ich in den letzten Wochen doch so mühsam unter Kontrolle gebracht hatte, »ich weiß es doch nicht!«


»N-nein … nein«, unschlüssig klopfte er mir schwer auf beide Schultern, rang sich dann aber zu einem entschiedenen Lächeln durch, »natürlich nicht, entschuldige!«


»Ich habe den Ticker immer ganz sauber gefüttert, Wort für Wort, Joachim, da ist nie etwas danebengegangen, ich schwöre!«


»Vergiss es«, er lief wieder auf und ab und rieb sich das Kinn, als störe ihn bloß eine schlechtrasierte Stelle, »ist ja jetzt auch alles eins.«


»Nicht mal deine Frau weiß …?«


»Das verstehst du nicht, du bist nicht verheiratet …, gibt so Sachen, bei aller Liebe, die kann man dem andern nicht – egal«, er goss uns neue Whiskys ein, »die Frage ist, wie ich jetzt vorgehe. Vielleicht haben sie’s ja noch nicht rausgehaun.«


»Also ich glaub, ich würde abwarten, bis …«


»Ich hab dich nicht gefragt, was du machen würdest. Das ist ja klar«, er lächelte wieder, legte mir die Hand auf den Kopf, fuhr fest darüber wie über einen großen Handschmeichler, bog ihn plötzlich mit einem Ruck weit zurück in meinen laut krachenden Nacken und schaute mich dabei mit zusammengekniffenen Augen genauer an, »hast dich verändert da drin.«


»Meinst du?«


»Im Grund tun sie mir einen Gefallen. Kann mir endlich scheißegal sein, was sie von mir denken.«


»Aber Joachim, überstürz dich doch nicht … es lässt sich alles wieder einrenken, alles im Leben!«


»Nein, nicht mit mir«, er lachte unvermittelt auf, »komm, hilf mir!«


Zusammen rückten wir das klobige Nachttischchen vom Bett weg, schoben es ein Stück über den verstockten Teppich, sodass es einigermaßen frei im Raum stand, und Joachim setzte sich darauf, legte die Hände auf die Oberschenkel und konzentrierte sich. Dann knöpfte er selbstvergessen sein enges weißes Hemd etwas weiter auf, um mehr Spiel zu haben, schloss tief einatmend die Augen und ließ sich in Zeitlupe an dem Nachttischchen herabrutschen, bis er ganz mit dem Rücken darauf lag, und warf schließlich seufzend Kopf und Arme in einem anmutigen Bogen weit nach hinten ins Freie. Andächtig sah ich zu, wie sein Mund sich allmählich aus seiner eckigen Verschraubung löste und zu einem feinen Lächeln formte, das das Lächeln der beiden kleineren, liegenden Mondsicheln seiner geschlossenen Augen nachzuahmen schien. Lang verharrte mein Blick auf seinem Gesicht, an dem alles endgültig unergründlich und doch offen lächelte, und dann auf seinen dunkelblau glänzenden Haaren, die zurückgeworfen noch mehr wie die einer altmodischen Puppe ­aussahen, und schon wollte ich ganz versinken in diesen Anblick, als er mir zuzwinkerte:


»Gut so?«


»Wunderschön, Joachim, wunderschön!«


Es machte mich traurig, dies wirklich wunderschöne Bild. Jetzt, wo alle Welt von seiner Passion wusste, würde Joachim sich nie mehr auf die gleiche, köstlich heimliche Weise auf seinen Nachttisch legen können. Als ich sicher war, dass er ganz in seinem Anderen Zustand aufgegangen war, schlüpfte ich ebenso geräuschlos, wie ich gekommen war, wieder hinaus aus seinem Zimmer, hinaus aus dem Hotel Mercure, hinaus aus seinem Leben, und als ich mich ungelenk durch die Drehtür wand, war ich mental darauf vorbereitet, dass mir das grelle Sonnenlicht und der Lärm auf der Hermannstraße nun meine Schuld entgegenschreien würden. Aber ich zog den Kopf nicht ein, nein, genug der Angst, die all das Unheil angerichtet hatte, ich würde mit meiner Schuld Joachim gegenüber leben lernen. Schritt für Schritt, von Sekunde zu Sekunde. 


Doch als ich auf die Straße trat, empfing mich eine seltsam gläserne Ruhe. Ungläubig ins strahlende Sonnenlicht zwinkernd sah ich, dass der geradezu unendliche Verkehr auf der Hermannstraße zum Stillstand gekommen war. Die Straße war voller Menschen, doch niemand bewegte sich mehr, denn sie alle, von Kindern bis Greisen, hatten sich auf ihren Rücken liegend in lächelnde Bögen ausgestreckt. Über Parkbänke, herbeigerollte Schreibtischstühle, Briefkästen, Kühlerhauben und Bierkisten gebogen, hatten sie sich stumm ergeben. Ich wandte mich zurück zum Hotel Mercure, blinzelte unter dem Schirm meiner 

Hand hoch zu Joachims Fenster und sah, dass sein Vorhang jetzt geöffnet war, und die Sonne warf einen kleinen blinkenden Stern auf die blankgeputzte Scheibe.


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Angelika Meier

Angelika Meier

lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Essen. 2016 erhielt sie den Kunstpreis Literatur der Akademie der Künste, Berlin.

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Diskrete Ausnahmezustände, heillose Ausweichmanöver, melancholischer Slapstick und verqueres Glück: Die kleinen Geschichten und Theaterstücke, die Angelika Meier in ihrem dritten Buch versammelt, eint eine höchst amüsante Traurigkeit. Gewissenhaft und mit gebotenem Sportsgeist, mitunter auch kindlich selbstvergessen spielen die Figuren hier ihre komischen Trauerspiele. Neben anderen treten auf: Jack Nicholson und ICH, die sich vom Fernsehsessel aus unversehens als neue Regenten Ägyptens wiederfinden; ein verhinderter »Waldbruder«, der sich von Jürgen Klinsmann geistige Führung erhofft; die Amazonenkönigin Penthesilea, die in Malibu Kleist liest und zaudernd noch einmal den Liebeskampf gegen Achill aufnimmt; oder ein Anwalt, der ein riesiges Loch im Bauch hat und sich daher mit einem »Kleidungsproblem« herumschlägt. Zu gewinnen gibt es freilich nichts, und nicht jeder kommt mit heiler Haut davon. Aber solange man spielt, kann einen niemand zwingen, man selbst zu sein.