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Warum soll das Kunst sein?

Sandra Frimmel

Ich hasse die Avantgarde
Eine Bildhinterfragung

Veröffentlicht am 08.09.2019

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Ich hasse die Avantgarde. Wenn ein derart selbstironischer und selbstreflexiver Künstler wie Yuri Albert solch eine Aussage über Kunst trifft, dann sind Zweifel angebracht. Wie seine gesamte Serie Elitär-demokratische Kunst spielt auch dieser Werktitel bewusst mit einfachen Bejahungen und Verneinungen und rückt zugleich das Rezeptionsdilemma der Serie ins Bild: Ein (Groß-)Teil der künstlerisch vorgebildeten Betrachter sieht die Arbeiten in Stenografie als abstrakte Formen, ohne den Text zu verstehen, und nur die wenigen, die (russische) Stenografie lesen können, nehmen einen Text wahr, der für sie jedoch nicht zwangsläufig Kunst sein muss.

Ich hasse die Avantgarde entstand 2017 nach einer Skizze von 1987 als Reaktion auf eine veränderte Rezeptionssituation der nonkonformistischen Kunst. Mit Beginn der Perestroika konnte die inoffizielle Kunst, die bislang aus dem staatlichen Kunstbetrieb, d.h. aus der offiziellen Infrastruktur von Museen und Ausstellungsräumen sowie aus den Diskursen von Kunstwissenschaft und -kritik ausgeschlossen war, plötzlich in größeren, öffentlich zugänglichen Ausstellungen gezeigt werden. Betrachter, die jahrzehntelang an den Sozialistischen Realismus gewöhnt waren, wurden nun mit einer Kunst konfrontiert, die sich nur schwer als solche zu erkennen gab und die sie erst zu lesen lernen mussten. Sie fragten die Künstler: »›Wir verstehen das nicht. Warum soll das Kunst sein?‹ Nur ein sehr enger Kreis von Insidern stellt keine solchen Fragen«, beschreibt Yuri Albert die Situation. Und weiter:

»Die Sätze geben nicht meine eigene Meinung wieder. Sie geben eher die Meinung möglicher Betrachter wieder über das, was sie in einer Ausstellung sehen oder gerne sehen würden. Damals strömten auf den unvorbereiteten sowjetischen Betrachter gleichzeitig Modernismus und Postmodernismus, Avantgarde und Neoavantgarde, Bestätigung und Widerlegung ein. Anstelle einer schrittweisen Entwicklung und Bewusstwerdung bekam der Betrachter eine bunte Mischung aus allem. Die Leute diskutierten über Dinge, über die man in anderen Ländern schon lange nicht mehr diskutiert, z.B. darüber, ob ein Künstler malen und zeichnen können muss, ob abstrakte Kunst wirklich Kunst ist, ob Kazimir Malevic ein Betrüger ist usw. Für die damaligen sowjetischen Betrachter und auch für die Künstler kam alles auf einmal, alles war gleichzeitig neu, und alles war Avantgarde. Daher ist der Satz ›Ich hasse die Avantgarde‹ sehr ambivalent.

Was bedeutet er? Vielleicht steht dieser Satz für die Einschätzung der postrevolutionären Avantgarde als totalitärer bolschewistischer Kunst, wie sie damals unter antisowjetisch eingestellten nonkonformistischen Künstlern weitverbreitet war. Vielleicht ist er ein Ausdruck der Unzufriedenheit des ›einfachen Betrachters‹, weil die Künstler versuchen, ihm diese unverständliche Kunst anstelle der gewohnten Landschaften und Porträts anzudrehen. Vielleicht steht er für die ablehnende Haltung des erfahrenen Künstlers gegenüber dem naiven Glauben an das ›Neue‹ und ›Progressive‹. Vielleicht habe ich mir diesen Satz gar nicht selbst ausgedacht, sondern die Stenografistin, die die Sätze für mich aufgeschrieben hat.

Und ist das Gemälde selbst – diese Imitation abstrakter Malerei – avantgardistisch oder konservativ? Auswählen und entscheiden soll der Betrachter, vorausgesetzt natürlich, dass er Stenografie lesen kann. Ohnehin heißt es ja, dass avantgardistische Kunstwerke unverständlich sein sollen.«

Vielleicht spricht aus dem Satz »Ich hasse die Avantgarde« aber auch die gekränkte Eitelkeit des Moskauer Konzeptualisten Yuri Albert, dessen elitäre, in der Sowjetunion auf den immer gleichen Kreis aus Betrachtern, Kritikern, Kunsthistorikern und Ausstellungsmachern beschränkte Kunstströmung der postrevolutionären Avantgarde ihre – wenn auch gerade einmal 15 Jahre währende – Existenz als demokratische Staatskunst neidet.

Genau dieser Zweifel ist für ihn die treibende Kraft der zeitgenössischen Kunst, das, was das Gespräch über die Kunst als eine Art Perpetuum mobile am Laufen hält, und damit auch der Antrieb seines Bilddenkens. Die Frage nach der Kunsthaftigkeit von Kunst wird selbst zum Kunstwerk: »Wenn ein Werk, eine Aktion oder irgendetwas anderes beim Betrachter Zweifel und Diskussionen hervorruft, ob es sich um Kunst handelt oder nicht – dann ist es zweifelsohne Kunst.«

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Sandra Frimmel

Sandra Frimmel

ist Kunsthistorikerin. Sie ist wissenschaftliche Koordinatorin des Zentrums Künste und Kulturtheorie (ZKK) an der Universität Zürich und Projektmanagerin bei der artasfoundation, Zürich.
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