Am 22. Februar 1969 – nicht zuletzt in Reaktion auf Roland Barthes’ zwei Jahre zuvor lanciertes Diktum vom »Tod des Autors« – warf Michel Foucault in seinem Vortrag »Was ist ein Autor?« am Pariser Collège de France die Frage nach zukünftigen Orten auf, an denen Texte nicht durch die Namen und persönlichen Attribute ihrer Autoren reguliert würden. Ob Literatur, Dichtung, Fiktion, wissenschaftliche Texte oder politische Schriften: Welche anderen Faktoren als die historisch tief verankerte »Autorfunktion« würden in zukünftigen Gesellschaften einmal über Status und Geltung, Wirkung und Deutung von Texten entscheiden? Ist die von Foucault eröffnete Frage heute noch aktuell, überhaupt relevant oder gar schon beantwortet?
Die hier ausgewählten und abgedruckten Texte stellen einen ersten, fast ausschließlich deutschsprachigen Ausschnitt aus dem weiterhin wachsenden vielsprachigen Korpus aus Originalen und deren »Geschwistern« in Übersetzung dar. Dieser Präsentation werden in rascher Folge andere folgen, neben und auf der Website 100000words.net auch in einer weiteren sprachlichen Dimension: der Stimme. Mit Tonaufnahmen sowie Livedarbietungen der laut gelesenen Texte fügt sich deren Diversität eine weitere hinzu, was nicht zuletzt alte Fragen neu aufwirft: Was ist ein Kanon? Was wäre eine in Resonanz versetzte Vielzahl »Ich« sagender Stimmen aus der und für die Literatur? Was erzählen von der Autorfunktion befreite Erzählungen? »Wen kümmert’s, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmert’s wer spricht?«, hat jemand gesagt… Wie jedes Experiment ist auch dieses nicht nur mit Fragen, sondern mit einer Hypothese verbunden. Die hier in den Raum gestellte lautet: Je eigener eine Dichtung, je allgemeiner ihre Individualität, desto zwingender ihre Enteignung durch und für dieLiteratur. Eine solche Literatur ist der gegenwärtige Ort für zukünftige Leserinnen und Leser.