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Berichte aus der Fiktion

Peter Ott

Die monotheistische Zelle oder Berichte aus der Fiktion

Veröffentlicht am 07.04.2017

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Ungefähr 2007 hatte ich die Idee, einen Spielfilm über eine deutsche Frau zu machen, die im Irak entführt wird. Es sollte eigentlich ein reines Kammerspiel werden, das mit zwei intradiegetischen Kameras arbeitet: einer Videokamera der Entführer, mit der sie abwechselnd ihre Geisel überwachen und Propagandavideos drehen, und der Videokamera, mit der nach ihrer Befreiung der BND-Mitarbeiter seine Befragung der Entführten dokumentiert. Der Titel sollte „Die monotheistische Zelle“ lauten und einen theologischen mit einem geheimdienstlichen Raum in Deckung bringen.

Ungefähr zur selben Zeit hatte mein Studienfreund Ravin vor, in Halabja im Nordirak einen Spielfilm zu drehen. Ich nutzte die Gelegenheit und reiste mit ihm in den Irak, um Ravin bei der Vorbereitung zu helfen. Das Kulturministerium der KRG (Kurdish Regional Government, autonome Region Kurdistan im Irak) hatte Ravin Förderung für sein Projekt zugesagt, allerdings nur unter der Bedingung, dass aus Europa auch noch Geld käme. Ich sollte den deutschen Produzenten (oder wenigstens dessen Stellvertreter) spielen, der daran interessiert war, Geld in das Projekt zu stecken und sich deshalb Drehorte, Logistik usw. vor Ort ansehen wollte.

Die kurdische Region im Irak ist weitgehend zwischen 2 Parteien aufgeteilt: der PDK im Norden und Westen und der PUK im Osten (mit der Stadt Süleymania). Die PUK hatte sich in den 70ern von der KDP abgespalten und die Intellektuellen mitgenommen. Nach europäischen politischen Skalen wäre die PUK eher sozial­demokratisch/etatistisch und die PDK eher konservativ/neoliberal zu nennen. Nach der aktuellen politischen Skala der Region gehört die PUK eher zum schiitischen und die PDK eher zum sunnitischen Block. Das hat nicht immer mit religiösen Bekenntnissen zu tun: Nach dieser Skala wird auch Russland zum schiitischen Block gerechnet.

Halabja hat knapp 60.000 Einwohner und liegt südlich von Süleymaniya an der iranischen Grenze. ­Gegen Ende des 1. Golfkrieges zwischen Irak und Iran ­hatten PUK-Verbände vom Iran kommend im März 1988 Halabja eingenommen und der Bevölkerung, die vor den anrückenden Truppen der irakischen Armee fliehen wollte, zugesichert, sie zu schützen. Am darauffolgenden Tag bombardierte die irakische Luftwaffe Halabja mit Giftgas. Dabei starben etwa 6.000 Menschen. Ravins Film sollte mit den Spätfolgen dieses Massakers zu tun haben, es ging um eine Liebesgeschichte zwischen einer Frau aus Halabja und einem heimgekehrten Exilanten.






Wir machten unseren Antrittsbesuch beim PUK-Chef von Halabja. Ich hatte in meiner Rolle als deutscher Produzent eine kleine Rede vorbereitet, Völkerverständigung usw. Der PUK-Chef sagte, dass er sich sehr freue, hier in Halabja auf einen so netten Deutschen zu treffen, schließlich sei das Martyrium der Stadt doch mit deutschem Know-How durchgeführt worden.

Etwas außerhalb Halabjas steht das Memorial. Große Tafeln, auf denen die Namen aller Toten des Angriffs eingetragen sind, daneben Schaubilder, ein Park, Räume für Schulklassen usw. Allerdings war die Gedenkstätte eine schwarze Ruine. Sie war ein Jahr zuvor, genau am Jahrestag der Bombardierung, durch demonstrierende Einwohner Halabjas angesteckt worden. Vielleicht hatten sie keine Lust darauf, dass PUK und PDK den Einbruch des Schreckens in ihr Reales als Gründungsmythos des kommenden kurdischen Staates imaginierten. Nach Aussage der PUK waren es Islamisten, die das Andenken in den Schmutz ziehen wollten. Etwas weiter südlich befand sich um 2003 das Territorium der Ansar al Islam, einer kurdischen, mit Al Qaida verbündeten Gruppe, die in dem Macht­vakuum eine Keimzelle eines islamischen Staatswesens errichtet hatten. Die PUK brachte die amerikanischen Verbündeten dazu, die Lager bombardieren zu lassen.

Die Finanzierung meines Filmprojektes zog sich etwas hin. Gelder waren erst zugesagt und dann wieder entzogen worden, Koproduzenten waren erst begeistert ein- und dann frustriert wieder ausgestiegen, und mit meinem Hauptproduzenten hatte ich mich schließlich ganz verkracht. Mein jetziger Produzent Mehmet und ich haben das Projekt 2014 wiederbelebt. Mehmet ist türkischer Kurde und seine Firma mîtos film hat Büros in der BRD (Kreuzberg) und in der KRG ­(Dohuk).

Doch die Lage im Nordirak war mittlerweile eine ganz andere: Jetzt konkurrierten in der Region gleich drei Nation-Building-Projekte miteinander. Die KRG verfolgte weiterhin ihren Weg in eine neoliberal-feudalistische Unabhängigheit. Im Westen hatte sich im Laufe des syrischen Bürgerkrieges Rojava gebildet, das postnationale Projekt der PYD mit einer föderalistisch-sozialistischen Ausrichtung, im Süden sich der salafistisch-djihadistische Islamische Staat etabliert, der von den Leuten, die von der Moderne nichts verstehen, „vormodern“ genannt wird. Spätestens seit der Eroberung Mossuls durch den ­Islamischen Staat war mein vorheriges Konzept sinnlos geworden. Ich war aber in der Lage, mit einem halb finanzierten und einigermaßen durch­recherchierten Projekt schnell auf diese historische Situation zu reagieren und die Sache in den „Arthouse-Agentenfilm“ zu transferieren, den Mehmet sowieso lieber machen wollte und mit dem wir die Finanzierung abschließen konnten. Die Bedingung eines Senders war dabei, dass wir einen anderen Titel wählten als „Die monotheistische Zelle“. Eigentlich schade, weil der Film auf zwei Texten von Prüfungen aufbaut: dem Lehrstück „Die Maßnahme“ von Brecht über eine illegale Zelle, die einen „jungen Genossen“ opfern muss, und dem Mythos, in dem Gott zur Prüfung Abrahams von ihm verlangt, seinen Sohn zu opfern.
Im März 2015 drehten Mehmet und der Schauspieler und Regisseur Hussein einen Film in Dohuk, „Resherba“, bei dem es um eine vom IS entführte junge Jezidin aus dem Shingal-Gebirge ging, die nach Versklavung und Befreiung wieder zu ihrer Familie kommt, die mittlerweile in einem der großen Flüchtlingslager neben Dohuk lebt. Das Filmteam hatte im Lager einige Zelte als Drehorte eingerichtet, ist dann aber dazu übergegangen, die Zelte von Lagerbewohnern zu mieten, denn die sahen einfach realistischer aus.

In einer Szene sieht die Brot backende Mutter ihre Tochter den schlammigen Weg durchs Lager kommen. Die anderen (wirklichen) Flüchtlinge treten aus ihren Zelten und sehen der Szene zu. Viele von den Zuschauern sind junge Frauen, unter ihnen höchstwahrscheinlich mehrere, die zuvor Gefangene des Islamischen Staates gewesen waren.

Mit Helket fuhren wir von Dohuk aus Richtung Westen. Helket ist in der Nähe von Dohuk als frommer Muslim aufgewachsen. Mit 16 hat er eher aus Zufall Sartre gelesen. Das hat ihn gerettet, sagte er. Seitdem ist Helket Atheist und inzwischen Stückeschreiber und Theaterregisseur.






Oberhalb des Stausees überquerten wir den Tigris und bogen nach Süden ab, bis wir nach Zummar ­kamen. Zummar ist eine kurdisch-arabische Stadt, deren arabische Einwohner zum großen Teil mit dem IS ­kooperiert haben, erzählt man uns. Viele Häuser sind zerstört, die Kleinstadt wurde erst 2 Monate zuvor wieder befreit. Die Kollaborateure sind mit den Kämpfern des IS verschwunden. In Zummar lernen wir Newroz kennen. Newroz ist der Kommandant der Asaish in der Gegend.

Im Wesentlichen gibt es in der KRG zwei Sicherheitsapparate: die Peshmerga, die aus der Guerilla hervorgegangene Armee, die vor allem an den äußeren Grenzen kämpft, und die Asaish, die für die ­innere Sicherheit zuständig ist und z.B. die Checkpoints besetzt. Und es gibt den Parastin, den Geheimdienst.
Bei Newroz habe ich zwischen März 2015 und Juni 2016 oft im Büro gesessen. Direkt verständigen konnte ich mich mit Newroz nicht, Kurdisch habe ich nicht gelernt, und mein Arabisch reicht eigentlich nur zur Erheiterung meiner Gastgeber aus. Im Büro von Newroz sitzen immer ein paar Männer in Zivil herum, oft Araber, wahrscheinlich Informanten, man bekommt Tee und schweigt. Auf dem Fernseher läuft einer der kurdischen Nachrichtensender, die damals meistens live von der Front berichteten. Ein Feldkommandant wird interviewt, hinter ihm versammeln sich seine Männer, die nach und nach ihre Mobiltelefone zücken und telefonieren und irgendwann wie wild in die Kamera fuchteln: Jetzt haben die Familien am Telefon den Fernseher angeschaltet. Der Baukasten zum Rückkanal zur Front.

Mit Newroz' Erlaubnis konnten wir nach Rabi'a ­fahren, eine arabische Kleinstadt an der syrischen Grenze. Im März 2015 war Rabi'a noch eine Geisterstadt, gerade von den irakischen und syrischen Kurden befreit. Die Bevölkerung war noch nicht zurückgekehrt. Die einzigen Bewohner waren die kurdischen Sicherheitskräfte und ein paar große, verwilderte Hunde. An den Wänden Graffitis der YPG/YPJ und der PKK, zumeist durchgestrichen und in „PDK“ korrigiert. Die YPG (Yekîneyên Parastina Gel – Volksverteidigungseinheiten) und YPJ (Yekîneyên Parastina Jin – Frauenverteidigungseinheiten) sind Schwestermilizen der PKK in Syrien. Sie hatten Rabi'a zusammen mit den Peshmerga (die hier unter der Kontrolle der PDK stehen) eingenommen und sich dann auf die syrische Seite zurückgezogen. Den Peshmerga, die uns durch die Geisterstadt begleiteten, sagte ich immer wieder, was das hier für ein fantastisches Filmset sei. Sie nickten zustimmend. Helket leitete viele seiner Sätze mit „When Islam came“ ein und damit, was sich dadurch einschneidend verändert hätte. Aber der Islam kam doch schon irgendwann im 7. Jahrhundert? Nein, er meinte den Islamischen Staat.
In Zummar wurden für den Film Resherba die Szenen gedreht, in denen YPJ-Einheiten die junge Jezidin befreien. Eine ganze Nacht wurde dazu in der Stadt herumgeballert. Weil es im Irak keinen Mangel an Waffen gibt, ist auch die Beschaffung von entsprechenden Requisiten kein Problem. Allerdings sind Waffenmeister an irakischen Filmsets eher unüblich: Jeder bringt seine Kalaschnikows selbst mit, und geladen werden sie mit Platzpatronen. Damit es keinen Ärger mit der Bevölkerung (der zum Teil nicht zu trauen sei) gibt, passte die Asaish auf uns auf. Und zwischendurch hieß es: Jetzt feuern wir die Panzerfaust ab. Willst du mit? Ich setze mich mit in den Wagen, neben mir die Darstellerin der YPJ-Kämpferin (die vorher wirklich YPJ-Kämpferin gewesen war) mit der Panzerfaust auf dem Schoß. Vor der Stadt wird das Ding abgefeuert und gefilmt, dann geht’s zurück zum Set. Es ist schon sehr spät, alle sind müde. Die scharf geladenen Kalaschnikows der Asaish liegen dann nicht so weit von den mit Platzpatronen geladenen der Schauspieler entfernt.






Im September 2015 war ich das nächste Mal in Rabi'a. Die Bevölkerung war inzwischen zurückgekehrt. Es stellte sich heraus, dass der Kommandant der Peshmerga ein Schulfreund von Hussein Hassan war, dem Regisseur von Resherba. Ich fragte den Kommandanten, ob ich zur syrischen Grenze fahren könnte. Kein Problem: Wir bestiegen einige Lastwagen und fuhren über die stillgelegten Gleise der Bagdad-Bahn zu einem Vorposten, an dem die Peshmerga sofort Stellung bezogen. Und da hinten ist Syrien? Nein, aber die Gegend war auch mal unter Kontrolle des IS. Wir passen hier auf. Es war eine Stellung, die für ausländische Journalisten eingerichtet worden ist.

Kommandant Newroz in Zummar ist übrigens ein Cousin von Adil. Adil ist Schauspieler, war zwischendurch mal Chef der Cinema Foundation von Dohuk und kennt alle Welt in der KRG. Seine Brüder und Cousins sind wie Newroz entweder wichtige Offiziere der Peshmerga oder der Asaish oder anderer Spezialeinheiten. Ein Bruder ist der Peshmerga-Kommandant im Nationalparlament. Ein Cousin kontrolliert den Mossul-Staudamm.
Im November 2015 wollte Adil mir bei der Drehort­suche helfen. Weil die Russen gerade angefangen hatten, Mittelstreckenraketen nach Syrien zu schicken, und weil deren Flugbahn recht knapp am Flughafen von Erbil vorbeiführte, wurde der Flughafen gesperrt. Der Kameramann Jürgen war noch in Berlin. Und Silke, meine Szenenbildnerin, steckte in Istanbul fest. So arbeiteten Adil und ich auf halber Kraft an der Drehortsuche. Als ich Adil fragte, ob er einen Kellerraum wüsste, den wir als Folterkeller inszenieren könnten, überlegte er lange, um dann zu sagen: »He, warum nehmen wir nicht den Keller, in dem ich gefoltert wurde?«. Adil ist mit 19 vom Geheimdienst verhört worden. In der Zentrale der Ba'ath-Partei in Dohuk, die inzwischen ein Gebäude der Uni ist. »Wir haben aus den ba'athistischen Unterdrückungs­immobilien Häuser der Kultur und der Bildung gemacht«. Der Pförtner führte uns zu den Kellern, die noch im ursprünglichen Zustand waren, denn man wolle die Räume ja erst später zu Museen oder Ähnlichem machen, jetzt waren sie erst mal Abstellkammern. Adil ging durch den Keller und erinnerte sich: »Hier haben sie angefangen mich zu verdreschen, hier haben sie mir die Kapuze über den Kopf gezogen, und dann das ganze Programm: Schläge, Elektroschocks«. Und: »Ach so siehts hier aus« (er hatte ja die Kapuze auf dem Kopf). Adil war nicht sonderlich ergriffen oder berührt, jetzt wieder in den Raum zu kommen, in dem er gefoltert worden war. Aber seine Erinnerungen trügten Adil, der Raum war trotz maximaler Authentizität für einen Filmdreh nicht wirklich gut zu gebrauchen.

In meinem Film spielt Adil übrigens »Omar«, einen vormals ba'athistischen arabischen Geheimdienstoffizier, der nach dem Einmarsch der »Koalition der Willigen« 2003 von den Amerikanern ins Gefängnis gesteckt wurde, dort mit alqaidistischen Häftlingen Kontakte macht, dann in die parallelen Machtstrukturen der Stämme zurückkehrt und schließlich als militärischer Führer seines (sunnitischen) Stammes gemeinsam mit dem Islamischen Staat Mossul erobert.
Im Februar 2016 sind wir wieder in Rabi'a gewesen, diesmal mit Kameramann, Regieassistentin und Produktionsstab im Rahmen der Locationsuche. Mit unseren Beschützern der Asaish und örtlichen Kräften sowie einem arabischen Führer gingen wir zu einer Stellung, die mir als der letzte Posten vor Syrien vorgestellt wurde. Ich wusste aus Bildern von Google Maps, dass die eigentlichen Grenzanlagen woanders waren, nicht weit entfernt an der Schnellstraße, die von Mossul nach Qamischli in Syrien führt. Der Araber führte uns zu genau dieser Schnellstraße, und der Kameramann sagte: »Mensch, das sieht ja echt super aus hier«. Das Problem war nur, dass die andere Straßenseite schon YPG-Territorium war. Wenn wir in Sichtweite des YPG-Checkpoints einen »YPG-Checkpoint« für den Film mit YPG-Fahnen und -Uniformen einrichteten, könnte das zu echten Problemen führen. Da würden dann auch meine politischen Sympathien, die natürlich eher Richtung YPG gehen, nicht mehr so viel nützen. Aber ich kannte den Teil der Schnellstraße, der weiter in irakischem Gebiet liegt, da würde das schon funktionieren.







Unser Trupp (etwa 15 Leute) marschierte also auf der (gesperrten) Schnellstraße zurück Richtung Irak und PDK-Peshmerga-Checkpoint. Bis von einem Hausdach plötzlich Uniformierte winkten. Und schrieen. Mit ihren Kalaschnikows fuchtelten. Dann Gebrüll zwischen unseren Asaish und diesen Uniformierten. Es ging darum, dass die anderen Uniformierten einen Trupp Leute, die Hälfte davon uniformiert, von syrischem Territorium auf sie zu kommen sahen, und niemand hatte ihnen Bescheid gesagt. Das sei verdammt noch Mal eine gefährliche Situation und unverantwortlich von den Asaish. Die ließen sich na­türlich nichts sagen, hier war schließlich ihr Territorium, und außerdem waren sie Asaish und die anderen nur Peshmerga. Später feixte unser Fahrer (der selber 10 Jahre »in den Bergen« (=PKK) gewesen war): Das seien Verräter, syrische Kurden, die zur PDK gehörten, die Revolution in Rojava verraten und bei den Peshmerga der irakichen Kurden eine Hundertschaft gebildet hätten, um irgendwann nach Syrien zurückzukehren.
Abends rief Newroz besorgt an und entschuldigte sich für das Durcheinander.

Im Film spielt der Schmuggel eines MILAN-Panzerabwehrsystems über die Grenze nach Syrien eine Rolle (und so wird der Film denn auch „Milan“ heißen), und diese Szenen wollte ich unbedingt in Rabi'a drehen. Das war nicht einfach.
Mehmet und Jalal (Szenenbildner im irakischen Teil) redeten auf mich ein, wir sollten die Grenzszenen in Zummar nachstellen, Kommandant Newroz wäre da und würde uns mit allem helfen, alles viel einfacher und sowieso eigentlich viel realistischer. Ich entgegenete, dass „realistisch“ oder „glaubwürdig“ ja wohl ein Kino-Effekt ist und vor allem etwas mit Wahrnehmung und kinematografischen Qualitäten zu tun habe und nicht mit dem, was einfacher bzw. einfach da ist. Und die Straße in Rabi'a, mit dem YPG-Silo im einen Hintergrund und dem zerbombten Spital im anderen Hintergrund (in dem sich IS-Sniper während der Befreiungsoperation verschanzt hatten) war einfach das fettere Bild.

Um das endgültig hinzukriegen, dass wir in der verworrenen Lage in Rabi'a (inklusive der Nutzung von Symbolen politischer Gegner) Dreharbeiten durchführen könnten, reichte Newroz' Einfluss alleine nicht mehr aus.

Scheich Ali ist einer der 3 oder 4 Peshmerga-Generäle Kurdistans. Einen Termin bei ihm zu bekommen ist nicht leicht. Scheich Ali hat sein Büro in einem abgesperrten und geräumten Quartier in Zummar. Wir standen vor einem größeren Einfamilienhaus, um uns herum Peshmerga und Eliteeinheiten in Schwarz mit G3 statt Kalaschnikows. Ein schwarzer Humvee hält, Leibwächter springen heraus, ein älterer Herr mit schwarzer kurdischer Tracht und Sonnenbrille läuft an uns vorbei, ohne uns zuzunicken. Wir werden ins Haus gebeten und sitzen im Flur im Kreis, bekommen Tee. Aus dem Badezimmer kommt der ältere Herr, jetzt nur noch in Hose und T-Shirt, geht an uns vorbei ins Wohnzimmer. Wir werden ins Wohnzimmer gebeten. Der ältere Herr (es ist Scheich Ali) liegt barfuß auf dem Sofa und sieht fern. Sein T-Shirt hängt halb aus der Haushose. Wir setzen uns, bekommen neuen Tee, Scheich Ali sieht fern. Eine Demonstration von Kurden in Köln, der Ton vom Fernseher wird lauter gestellt. Mehmet und Adil tragen das Projekt vor. Es ist nicht klar, ob Scheich Ali uns überhaupt wahrnimmt. Sein Telefon klingelt, er macht den Fernseher leiser und nimmt das Gespräch an. Mehmet und Adil unterbrechen ihren Pitch. Als irgendwann alle einmal draußen beim Rauchen sind, sitze ich mit Kameramann und Regieassistenten alleine bei Scheich Ali. Ich sage ein paar Floskeln auf Arabisch, Kurdisch kann ich ja nicht. Die anderen kommen wieder rein, unser line producer und der Adjutant von Scheich Ali sind inzwischen auch eingetroffen. Der Pitch wird noch mal wiederholt, Scheich Ali wendet sich vom Fernseher ab und liest in einem Buch. Irgendwann sagt er halblaut in Richtung Fernseher einen Satz, dann wird noch eine Zeit lang kollektiv geschwiegen, Tee getrunken und Ferngesehen, und wir verlassen das Haus. Mehmet ist erleichert: Das war die Zusage von Scheich Ali, die bedeutet, dass wir auf die Unterstützung der Peshmerga zählen können, dass wir in Rabi'a und auf dem Mossul-Damm drehen können, dass wir an beiden Orten sowohl YPG- als auch IS-Symbole, -Fahnen und -Uniformen benutzen dürfen.

Es gibt eine Szene in dem Film, in dem die deutsche Ärztin »Martina« nach Syrien in ein YPJ-Lazarett fährt und dort eine deutsche Kämpferin behandelt. Kommandant Newroz hatte uns zugesagt, dass wir diese Szene in Zummar in einem ehemals ba'athistischen Militärgebäude drehen dürften. Mittlerweile wurde zwar eine Peshmerga-Einheit in dem Gebäude untergebracht, doch sollte diese dann für einen Tag den Ort verlassen. Nun saßen die Männer in einer Ecke des Hofes und sahen uns bei den Dreharbeiten zu. Einer der Hauptleute war ziemlich sauer: auch er ein syrischer Kurde, der als PDK-Parteigänger bei den Peshmerga war. Er hatte angekündigt, dass er auf die YPJ-Fahne schießen würde, wenn wir es wagen sollten, sie auf seine Kaserne zu setzen. Da wir das aber mit Scheich Ali über den chain of command regeln konnten, saß der Kommandant den ganzen Drehtag über missmutig auf seinem Stuhl.
Am Ende des Films wird »Omar« von »Abu Sadiq«, dem militärischen Emir des Islamischen Staates, in einem Keller gefoltert. Ein halbes Jahr nachdem wir den echten Folterkeller besichtigt hatten, haben wir dann die Szene in einem anderen leerstehenden Keller gedreht: der ehemaligen Disco des Hotel Jihan. Die Disco musste vor drei Jahren geschlossen werden, weil es »wegen der Ukrainerinnen« einfach zu viel Ärger und Schießereien gab.






Wir hatten inzwischen 4 Wochen Studioaufnahmen in Köln und 4 Wochen Aufnahmen on location im Irak hinter uns. Ich hatte Adil gesagt, dass er in der Szene keine Klamotten anhaben solle. Adil hatte aber abgelehnt, ganz nackt zu sein, was zu größeren Diskussionen führte. Apo z.B. protestierte lauthals. Als die Türken ihn in den 90ern gefoltert hätten, sei er natürlich nackt gewesen, jeder faschistische Geheimdienst würde seine Gefangenen nackt foltern, Adil könne ihm nicht erzählen, dass das im Irak anders gewesen sei. Apo spielt in dem Film übrigens »Serhat«, den örtlichen Chef des Parastin. Was er mit großem Spaß gemacht hat, insbesondere, weil der Parastin als Machtinstrument der neoliberal-feudalistischen PDK im Nordirak auf der anderen Seite der politischen Skala anzusiedeln ist als Apo, der vom PKK-Umfeld aus Kultur im kurdisch-türkischen Krieg organisiert. Adil und ich haben uns darauf geeinigt, dass Unterhose als Nacktheit ausreicht. Er musste dann erst mal in die Maske zu Christine. Christine ist eine ausgezeichnete Wunden-Maskenbildnerin: Das Herstellen von Hautabschürfungen, offenen Wunden, Stich- und Schussverletzungen beherrscht sie in allen Varianten meisterhaft und so, dass sie auch wirklich Close-up-­fähig sind. Das Hin und Her zwischen fiktiver, erlebter, berichteter und gegenwärtiger Wirklichkeit hat schließlich Christine von der Seite erwischt. Dass Adil ihr aus eigener Erfahrung Tipps geben konnte für Arbeiten, die sie normalerweise für den besonders fiktiven Anteil an Film­produktionen (an dem sich deshalb auch besonders die Fähigkeit der ­Maskenbildnerin zeigt) herstellt, hat ihr ziemlich zugesetzt.
Resherba, der Film über die Jezidin, den Hussein von März bis September 2015 gedreht hat, wird übrigens sowohl von frommen Muslimen als auch von Jeziden angegriffen. Beide sehen sich falsch dargestellt.




Titel: Das Milan-Protokoll
Filmstart: 2017
Regie, Buch: Peter Ott
Kamera: Jürgen Jürges und Jörg Gruber
Musik: Ted Gaier
Darsteller: Catrin Striebeck, Bengin Ali, Adil Abdurrahman,
Christoph Bach
Produktionsfirma: mîtos film in Kooperation mit WDR, hr, arte
Verleih: Real Fiction

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Peter Ott

arbeitet als Filmemacher in unterschiedlichen ökonomischen Konstellationen. Seit 2007 ist er Professor für Film und Video an der Merz Akademie, Stuttgart. Filmauswahl: Die Präsenz Gottes in einer falsch eingerichteten Gegenwart (2014), Gesicht und Antwort (2010), Hölle Hamburg (2007, zus. Mit Ted Gaier).
Weitere Texte von Peter Ott bei DIAPHANES