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HER

DJ Helioglobal, 12.04.2017

 

Andreas L. Hofbauer, René Luckhardt: HER
Wien: Der Konterfei 2015
limitierte Ausgabe, 50 Seiten

 

In einem Onlineforum, das sich mit dem Umzug ins 40 Lichtjahre von uns entfernte Planeten-system TRAPPIST-1 beschäftigt, antwortet mir kürzlich einer, als ich anmerke, dass es ohnehin egal sei, auf welchem fliegenden Steinhaufen man herumkrieche, mit einem Zitat: »Es gibt in den Parawissenschaften bisweilen merkwürdige Sommermorgen, da sollte der Leser, der nur als Gast hier verweilt, beizeiten hineinwandern in hermetische Räume und sprachlos vor Staunen an grün-goldnen Anamorphosen sich erfreuen. Nah ist fern und nichts als sattgrüne Trance.« Das hätte Herman Melville  geschrieben, in einem Brief an einen Freund und sich dabei auf ein Buch zweier alter Jungfern (oder Großmütter?) bezogen, die dem Kreis um B. P. Randolph nahe gestanden haben sollen. Ausgerechnet diesen Band über Hermetik, Raumüberbrückung, Magie der Lachenden Fenster und der Kunst verzerrter Vorahmung, hätten bei einem Wiener Subkultur-verlag zwei Typen dreist -plagiiert. Der Band sei vergriffen, gleichwohl der Verlag schon ein HER 2 ankündige. Kurz: Ich solle das mal lesen (besser noch das Original, dieses sei allerdings noch schwerer aufzutreiben) und dann ausprobieren, ob es nicht doch einen Unterschied mache, auf welchem Gestein man dahinschreitet. Ich habe mir das Buch beschafft und es gelesen.

Shut your eyes and see!

Jede Weltsicht ist an ästhetische Entscheidungen geknüpft, jeder ­Gedanke an seine Form, ­alles Urteilsvermögen an Wahrnehmung und Affekt. Dass es dabei immer eines ­Mittleren, Vermittelnden ­bedarf, ist angesichts der Allgegenwart des Multi- und Massen­medialen eine ebenso triviale wie tiefreichende Erkenntnis, deren feinste Triebe vom Diaphanen bei Aristoteles über Joyce bis in eine Gegenwart ­reichen, in der eines eklatant ist: Wie und was durch ein anderes zur Erscheinung kommt, darf weder den ­Techno- noch ­anderen Ideologien überlassen werden.

 

Denn das, was heute überpräsent, nicht zuletzt in Gestalt von Kriegen um Bilder und Territorien, und ebenso opak wie diffus als die ­Gegenwart, Wirklichkeit, Zukunft erscheint, hat den Anschein… einen mächtigen Anschein, dem zu entgegnen es neben kritischer Durchdringung und gedanklicher Volte auch sprachlicher Empfindlichkeit und ­ästhetischer Reizbarkeit bedarf. Ein kleiner Weltausschnitt sei deshalb hier und in Folge in ein Spiel harter und weicher, klingender und irisierender Differenzen und Interferenzen versetzt; Kunst und ­Denken, Kritik und Produktion ins Verhältnis, und für ein noch zu ent­werfendes »Denken von Abweichungen« ­ineinander und auseinander gesetzt – im Spiel, mit Ernst, aus ­Leidenschaft.

 

Um KUNST im Plural soll es also gehen, um Sehen ­ma­chende, die Sinne öffnende, den Körper zwingende. Um ­LITERATUR, wenn das zu trennen und so zu nennen ist, um Schreiben und Überschreiten: Fiktion, Erfindung, Poetik und Poesie. Und um DISKURS: ­Vortrag, Rede, Gespräch, was alles in allem heißen will: um eine ­Vielfalt von Imaginations- und Ausdrucksformen in einem ebenso subjektiven wie pluralen Raum: ­DIAPHANES als MAGAZIN.

 

Mit dieser ersten Nummer ist vor allem eines, ein Anfang gemacht. Ein Anfang, der ohne das große Engagement und das noch größere Vertrauen der Beitragenden nicht möglich gewesen wäre. Von nun an gibt es DIAPHANES vier Mal jährlich als Heft im Handel und im Abonnement, dazu online ­stetig um weitere Artikel und Über­setzungen ergänzt sowie in die Resonanzen eines sich weiterhin entfaltenden Buchprogramms gestellt. Ausstellungen, Lesungen, Diskussionen in unserem alten, neuen Berliner Projektraum: espace DIAPHANES ­ergänzen das Treiben.

Corona Park, Nabel der Welt

Barbara Basting, 28.08.2021

Globen haben mich schon immer fasziniert. Deswegen fotografierte ich 2011 dieses ganz besondere Exemplar, das mir der FB-Algorithmus jüngst wieder präsentierte. Es gilt als weltweit grösstes Modell der Erdkugel. Ich entdeckte es im Corona Park im New Yorker Stadtteil Queens, dem Terrain der Weltausstellungen von 1939 und 1964. Ins Queens Museum, dessen überrankte Mauer die rechte Bildhälfte zeigt, ging ich vor allem, um dort das Stadtmodell von New York zu sehen. Das Imponierstück hatte Robert Moses 1964 als deren Leiter für die Weltausstellung in Auftrag gegeben. New York sollte als urbanistisches Wunderwerk, als grandioseste Metropole des 20. Jahrhunderts, als Nabel der Welt erscheinen. Facebook hatte das Bild aus den Tiefen seines Archivs gefischt, während ich über die Hinterlassenschaften eines Künstlers nachdachte, dessen Atelier ich geräumt hatte. Zu diesen gehörte ein ramponierter Globus. Hm, überlegte ich, kann der FB-Algorithmus inzwischen Gedanken lesen? Wird damit ein Menschheits- und vor allem Diktatorentraum definitiv zum Alptraum? Dann fiel mir auf, dass ich in der Legende zum Foto den „Corona-Park“ erwähnt hatte. Daran erkennt man die menschlichen Seiten des Algorithmus: Er spricht, wie wir alle, auf Reizwörter an.

 

 

 

Der Globus aus dem Künstleratelier war im Vergleich zu jenem im Coronapark ein bescheidenes Exemplar. Immerhin kam er aus gutem Hause. Die bis heute bekannte Firma Columbus, früher Berlin, heute Krauchenwies, musste ihn in den frühen Zwanzigerjahren verkauft haben. Denn er bildete die komplette Koloniallandschaft des 19. Jahrhunderts ab. Als Wirtschaftsglobus zeigte er alle Länder mit den Rohstoffen und Produkten, die dort nur noch auf den Abtransport zu warten schienen: ­Baumwolle, Kaffee, Ananas, Diamanten, Kamele oder auch Schwämme (letztere gab es in Libyen). Herrschaftswissen, durchgereicht an die bürgerliche Studierstube. Allerdings nur teilweise: Migrationsströme etwa werden ebenso wenig gezeigt wie Kapitalströme. Öl, das im 20. Jahrhundert Geschichte schrieb, spielte offenbar noch keine Rolle.
Seit die antike Skulptur des Atlas Farnese eines der ersten bekannten Exemplare einer Weltkugel in der Hand hielt, waren Globen ein Symbol der Macht. Ab der Renaissance wurden sie, ähnlich wie Karten, Prestigestücke für Herrschende. Wer die besten Karten und Globen hatte, konnte besser navigieren, regieren und ja, ausbeuten. Irgendwann sank der Globus zum Dekorationsgegenstand für Weltaustellungen und Wohnzimmer, Hotel- und Firmenlobbies, zum Signet für Speditionen und Reisebüros ab. Als Machtinstrument lösten ihn die immer besser gefüllten Datenbanken ab, durch die seither pausenlos Such- und Verarbeitungsprogramme hindurchcrawlen. Die Datenkrake Facebook ist insofern entfernt verwandt mit dem Wirtschaftsglobus. Das Bild weckte bei mir auch Erinnerungen an eine New-York-Reise, die mir heute vorkommt wie ein Märchen aus einer fernen Zeit. Eine Bekannte aus New York meinte kürzlich, die Stadt, wie man sie kenne, als Legebatterie mit angegliedertem Freizeitangebot für 9 Millionen Dienstleistungs-Pendler täglich, könne man in Zukunft vergessen. Somit wäre Robert Moses‘ auftrumpfendes Modellstadt-Stadtmodell schon Teil einer Archäologie der Zukunft.  Das Queens Museum ist derzeit geschlossen. Corona, you name it. Der Globus, vor einigen Jahren ebenso aufwändig restauriert wie das Stadtmodell, steht noch. Einen Moment lang stelle ich mir vor, dass bald alles von den Ranken auf der Museumswand überwuchert wird. Übrigens befindet sich der Corona-Park auf einstigem Indianer-Territorium der Algonquin. Sumpfland, das New York lange Zeit als Müllkippe diente.

 

 

PS: Grosse Konzerne haben jüngst mit Werbeboykotts auf Facebook begonnen, weil sie die mangelnden Vorkehrungen der Plattform gegen Hassreden nicht gutheissen.

Der Algorithmus fördert seit 2017 Gruppen und schützt deren Diskussionsräume. Dies kommt auch gefährlichen rechtsextremen Verschwörungstheoretikern wie QAnon zugute.


Und ja, die FB-Aktie hat sich jüngst deutlich verteuert. Langsamer zwar als die von Tesla oder Amazon. Aber immerhin.

 

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I remember

Johanna Went, 08.06.2021

What do I remember? My memories of my life have always been very limited. I only remember single fragments, good and bad. Nothing wrong with that, it just means that my life isn’t particularly important.
The mill’s loud noises don’t bother me, although they make an unbelievable din. The mill looks like a monster with huge jaws and a wheel with a rubber strap. It’s so intimidating you can barely look at it. But we can’t do without it, as it’s the only mill in the village and all the villagers come to us to grind dried wheat to make bulgur. There’s nothing like the smell of clean parboiled wheat that’s been dried in the sun for several days. When the women marinate the wheat in a large pot in a little water, so that the husks fall off, it’s a heavenly aroma you don’t get anywhere else in the world, only at home. How proud we are to have a smell that doesn’t exist anywhere else!
Once—it was summer—Mrs. Jawaher came to us. Mrs. Jawaher is small in stature, but a strong personality. She likes her wheat ground very fine. For this the mill has to work twice as hard, and this means a higher power consumption.
Once a year she grinds about twenty kilos of wheat, which she stores for the winter.
This time her husband came with her, the man with the blue eyes, who always wears the religious clothing of our community. He’s a very devout man. His eyes are an unusual blue. We were on the last five kilos when he came into the milling room. Mrs. Jawaher suddenly fell silent. So did we all, catching her sudden stillness. The man with the blue eyes wished us a good evening, looked first at his watch, then at the mill and said: “I didn’t think you’d finish so soon.” He was addressing his wife directly, having tapped his wristwatch emphatically. For me this was a sign of his admiration.
Almost as soon as he had spoken, the mill suddenly stopped working. His wife stopped washing the bulgur for a moment, paused. Her eyes flashed in anger. “I’ve told you a thousand times not to follow me. You like that, do you? You’ve stopped the mill! Do you want to spoil the last load of wheat with your blue eyes?” The man with the bright blue eyes didn’t say a word, turned on his heel and left. We were astonished.
My father, the man who laughed out loud to cover up his embarrassment, went to fetch the only electrician in the village. He laughed and laughed, and said to Mrs. Jawaher: “You have to use your husband’s powers to get revenge on everyone who annoys you. Just get him to take a look at them.”
Then the only village electrician came. He’s a deeply religious man, who wears the religious clothing of our community. He has unusually green eyes that lie deep in their sockets, which gives them more force. He said good evening, looked at his watch, and gave it a thoughtful tap. This meant he would finish his work in record time. What for him was record time was too long for us.
With the wire cutter in his hand he pointed to the main cable that connected the mill with the electricity. It was cut through as if someone had done it deliberately. Starting to restore the power, he looked up to us and said: “Envy has much and little effect. The eye of envy is razor sharp.” The man with green eyes carried...

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Künstliche und andere Intelligenzen

Barbara Basting, 04.12.2019

Facebooks Bilder-Waschtrommel erinnert mich derzeit an meine erste China-Reise vor einem Jahr. Ich war beeindruckt: So viele Hochhäuser, so viele Menschen, so viel Technologie! Und so tolle Nudelsuppen! Manche Eindrücke deponierte ich auf meiner Facebook-Timeline. Dies, obwohl Facebook durch Chinas Great Firewall gesperrt ist. Die Gucklöcher in der Mauer, so genannte VPNs (virtual private networks), sind offiziell sogar für Ausländer verboten. Doch wehe, wenn man die kleinen Helfer nicht vor dem Grenzübertritt auf seinen Geräten installiert hat: Dann wird der Aufenthalt ohne solide Chinesischkenntnisse anspruchsvoll. Denn Google samt Maps ist in China ebenso gesperrt wie die gesamte Facebook-Twitter-Wiki-Welt und weitere Keimherde der freien Meinungsbildung. Chinesen sind ans Alibaba-Baidu-Universum gebunden. Sicher, die smarteren haben alle VPNs. Aber die Kommunikation läuft hauptsächlich via WeChat, die (ausgebautere) chinesische Variante von WhatsApp. Im Westen benutzt WeChat nur, wer Kontakte mit Festlandchinesen halten will. Der Zensor liest mit.
Google ist in China seit seinem Verbot 2014 eine heiße Kartoffel. So war ich verblüfft, in Shanghai auf dieses Google-Logo zu treffen, vor dem die chinesische Jugend scharenweise für Selfies posierte. Es stand vor einem der neuen, zumeist privaten Museen für Gegenwartskunst, dem Long Museum Westbund. Westbund ist ein etwas steriler Vorzeige-Stadtteil mit abgeriegelten Luxus-Hochhausanlagen, neuen, menschenleeren Boulevards, Flusspromenade zum Joggen und großem Audi-Händler. Überall riecht es nach Aufbruch und Boom.

 


Vor dem Long Museum stand die chinesische Selfie-Jugend dann Schlange. Denn dort fand die World Artificial Intelligence Conference WAIC statt. Leider war das Museum dafür geräumt worden. Meine lange Anreise war für die Katz gewesen. Obwohl, nicht ganz. Denn ich lernte einiges: In China kann ein Kunstmuseum für ein Event einfach mal rasch leergeräumt werden. In China finden junge Menschen Google cool, Verbot hin oder her. Außerdem braucht es für eine World Artificial Intelligence Conference in China offenbar keine Westler. Ich rätselte, wofür das Wort »world« stand. Vielleicht für »Weltbeherrschung« durch Überwachung mit AI? Meine chinesischen Freunde, so aufgeklärt sie sich geben, hören sowas ungern. Wie arrogant von den Westlern, Chinesen für digitale Gefängnisinsassen zu halten! Eine üble Beleidigung! Die Traumata aus der Kolonialzeit sitzen tief und werden, so mein Eindruck, gepäppelt. Schließlich lernte ich sogar die offizielle Sprachregelung kennen. »Überwachung«? Nein. Wir haben es hier nur mit der »fortgeschrittenen chinesischen Technologie« zu tun. Vordergründig ähnelt sie den keinesfalls harmlosen Algorithmen von Google und Facebook. Am Ende jedoch zählt, wer die Instrumente mit welcher Autorität in der Hand hält – und welche Möglichkeiten es gibt, sich dagegen wirkungsvoll zur Wehr zu setzen.

 

PS: Eine laufend aktualisierte Liste der in China gesperrten Websites bietet: https://de.wikipedia.org/wiki/Gesperrte_Websites_in_der_Volksrepublik_China
Mark Zuckerberg findet trotz vehementer Kritik an seiner Datenkrake, das FB im Vergleich mit dem aktuellen chinesischen Angebot noch das kleinere Übel ist: https://www.bloomberg.com/news/articles/2019-10-17/zuckerberg-warns-china-s-censored-internet-could-still-win-out. Die FB-Aktie dümpelt vor sich hin, Tendenz abwärts.

 

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Karl der Große reitet durch Paris

Barbara Basting, 04.12.2019

Facebooks Algorithmus hat mir oft genug Erinnerungen an meine ­Türkei-Reisen serviert, gibt nun aber Gegensteuer und präsentiert plötzlich ganz andere Einträge aus meiner sogenannten Timeline.
Zum Beispiel diese verwackelte Aufnahme eines Reiterdenkmals Karls des Großen, leider nur ansatzweise sichtbar, mit Vasallen. Karl war mir aufgefallen, als ich vor einigen Jahren zu später Stunde die Pariser Île de la Cité querte, während er von Notre-Dame gen Westen ritt. Sein Schöpfer Louis Rochat folgte dem Rezeptbuch der historischen Bühnenbildnerei, mit dem man sich im 19. Jahrhundert Geschichtshelden und, wie nach dem Großbrand von Notre-Dame nun alle Welt weiß, auch Kathedralen zurechtbastelte. Man nehme zum Beispiel ein Szepter, wie es der Louvre für solche Reenactments vorrätig hält. Egal, dass es dem erst 700 Jahre später geborenen Karl V. gehörte. Man füge Komparsen namens Oliver und Roland hinzu. Wer weiß denn noch, dass Roland zum Zeitpunkt der Krönung Karls des Großen schon längst tot war? Man bitte Viollet-le-Duc, der eh grad in Notre-Dame am Werkeln ist, um einen Sockel. Et vive Charlemagne!

 

 


Schon die Zeitgenossen hatten allerdings so ihre Mühe mit dem Koloss. Konzipiert noch unter Napoléon III. und für die Weltausstellung 1867 in Gips modelliert, nach 1870 umstritten wegen des Kriegs mit Deutschland, 1878 dann doch in Bronze gegossen, wurde er erst 1895 von der Stadt Paris erworben und 1908 platziert. Jenem Jahr, in dem Picasso und Braque mit dem Kubismus die Moderne und damit die Dekonstruktion jener opernhaften Wirklichkeitseffekte einläuteten, die das 19. Jahrhunderte so s­chätzte.
Der Kirchplatz war menschenleer, als ich Karl fotografierte. Keine Patrouille, es war vor den großen Terroranschlägen. Während ich mit dem Smartphone hantierte, hörte ich ein Rascheln. Und sah in den Rabatten fette Ratten, die Reste aus weggeworfenen Imbiss-Verpackungen fraßen. Ich stampfte kräftig auf. Sie fraßen ungerührt weiter.
Ich machte auch von ihnen ein Foto, nicht ohne an die unangenehme Lektüre von Camus’ Pest zu denken. Das geblitzte Auge eines riesigen Exemplars leuchtete rot. Später stellte ich die Aufnahme des Denkmals und der Ratte nebeneinander auf Facebook, frei nach Jean-Luc Godard, demzufolge 1 + 1 Bild ein drittes ergibt. Das von mir herbeifantasierte diffuse dritte Bild hatte irgendwas mit der unheimlich heroischen Pose der Zivilisation und der nicht minder unheimlichen Macht resistenter Nager zu tun.
Doch Facebook kassierte bei der erneuten Präsentation die Ratten. Es blieb einzig der Held. Ok, Facebook mag das dritte Bild nicht. Entweder ist das Erinnerungszensur, oder der Algorithmus ist überfordert mit Bildpaaren und der Fantasie, die in ihrem Zwischenraum siedelt. Das lässt hoffen.


PS: Für Infos zum Denkmal danke ich: https://lindependantdu4e.typepad.fr/arrondissement_de_paris/2009/06/la-statue-de-charlemagne-et-ses-leudes-une-statue-qui-a-eu-du-mal-%C3%A0-trouver-une-place-.html
Ach ja, die FB-Aktie hat sich deutlich berappelt trotz der Skandale um ›fake news‹. Hierzu der Untersuchungsbericht des britischen House of Commons: »Disinformation and ›fake news‹: Final report«: https://publications.parliament.uk/pa/cm201719/cmselect/cmcumeds/1791/1791.pdf

 

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Hinter der Great Firewall

Barbara Basting, 26.10.2018

Ich sitze in der Lobby eines Hotels in China. Zum Hotel inmitten einer toskanisch anmutenden Landschaft, in das ich mit anderen Gästen eines wissenschaftlichen Kolloquiums einquartiert wurde, gehören ein Golfplatz, ein Thermalbad sowie eine weitläufige Ferienhaus-Kolonie. Am Horizont Hochhäuser und das Gelbe Meer. Die Gegend gilt als Riviera Chinas und grenzt an die Stadt Qingdao. Unter Kaiser Wilhelm II. war sie für kurze Zeit deutsche Kolonie. Heute boomt die Stadt nicht nur wegen der damals gegründeten Brauerei.
In der Lobby steht ein Glücksspielautomat für Kinder. Man kann Plüschtiere von Walt Disney angeln. Die Bilder von ausgebeuteten Arbeiterinnen in chinesischen Fabriken kommen einem hier schneller als sonst in den Sinn. Als ich kurz darauf meine Facebook-Seite aufrufe, meine ich zu halluzinieren. Denn der Facebook-Algorithmus präsentiert mir ausgerechnet ein Erinnerungsbild mit Plüschtieren. Haben die inzwischen Umgebungssensoren in ihrer App?
Die Aufnahme hatte ich am 10. September 2013 auf dem Taksim in Istanbul gemacht. Ich war für die Istanbul-Kunstbiennale angereist. Im Mai zuvor waren die Gezi-Park-Proteste gewaltsam niedergeschlagen worden. Die Stimmung war spürbar angespannt. Zwar standen die Simit-Verkäufer mit ihren altmodischen Wägelchen wie gehabt auf dem Platz, als sei nichts geschehen, und wie in früheren Jahren kaufte ich einen der spottbilligen Sesamkringel bei einem Verkäufer, der erzählte, ein geflüchteter Ingenieur aus Syrien zu sein. Ringsherum zog bedenklich viel Polizei auf, postierte sich neben den zahlreichen Absperrgittern. Die zuvor zahlreichen Passanten verflüchtigten sich in Windeseile.

 

 


Einer der Straßenhändler ließ Plüschtiere tanzen. Ich erinnere mich, dass ich sie fotografierte, weil sie mir symbolhaft erschienen: Ablenkung und Beschwichtigung angesichts einer ungemütlichen Lage. Zügig lief ich zur Fußgängerzone Istiklal zurück. Gruppen von Demonstrierenden kamen mir entgegen. In den Seitengassen warteten schwere Panzerwagen mit Wasser­werfern. Busse entließen nervöse junge Polizisten in Kampfmontur, halbe Milchbärte, die Gebetsschnur in der einen, die Knarre in der anderen Hand. Auf der Höhe der englischsprachigen Buchhandlung von Galatasaray, in der ich kurz verweilte, stach mir Tränengas ins Auge. Fast im Laufschritt suchte ich mein nahegelegenes Domizil auf. Unterwegs rasselten vor den Läden schwere Eisengitter herunter. Später hörte ich Geknalle, Rufe und Getrappel. Am nächsten Tag las ich, dass es keine Toten gegeben habe.
Das Bild der Tiere vom Taksim ruft diese Erinnerung wach und schiebt sie vor den Anblick der Tiere im chinesischen Glücksspielautomaten, während ich zugleich damit beschäftigt bin, meine Eindrücke aus ein paar wenigen Tagen in China zu sortieren. Gibt es nicht gewisse Ähnlichkeiten mit der Türkei, wie ich sie nach 2000 zuerst kennengelernt hatte? Ein futuristisch gestimmtes Land, das sich mit Haut und Haaren dem Fortschritt verschrieben hatte. Eine stolze Gesellschaft, deren Gewinner ihre Privilegien demonstrativ genießen, als könnten sie auf diese Weise allen, die es noch nicht geschafft haben, als Vorbild dienen. Künstlerische und intellektuelle Eliten, die sich behutsam Freiräume zu schaffen versuchen. In der Türkei war es eine Zeit, in der viel möglich schien. Vorbei. Wie sich eine prosperierende Konsumgesellschaft auf den zentral gelenkten chinesischen Staat auswirken wird, kann niemand sagen. Manche unken, es komme darauf an, ob der Automat genügend Tiere für alle bereitstellt.

 

PS: Der FB-Aktie geht es nicht mehr wirklich gut seit dem Absturz im Sommer. ­Dauernd tauchen neue Probleme auf, zuletzt ein Hackerangriff auf 50 Millionen Profile:  https://www.wired.com/story/facebook-security-breach-50-million-accounts/
Anzeichen einer FB-Dämmerung? Chinesen haben andere Sorgen. Für sie liegen Facebook & Co. hinter der Great Firewall.

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Facebook ist auch nur ein Nagelstudio

Barbara Basting, 10.04.2018

Diese Muster für Fingernagelschmuck fielen mir vor vier Jahren im Fenster eines »Nailstudios« in Salisbury, Südwestengland, auf. Nail­studios begannen mich damals zu interessieren, weil ich vermutete, sie seien so etwas wie soziologische Zeigerpflanzen. Wie bescheuert oder verzweifelt muss eine Frau sein, um sich mitten im Sommer Weihnachtsbäume auf die Nägel applizieren zu lassen?
Inzwischen richtet sich mein Augenmerk mehr auf die Parallelität des Aufschwungs von »Nailstudios« und sozialen Medien. Für den Zusammenhang spricht ein Blick auf das Hashtag »Nailart« auf Instagram (das Facebook gehört). Hier gibt es um die 35 Millionen Beiträge (Stand September 2017).
Man wird melancholisch angesichts der Kreativität, die im digitalen Nirvana verpufft. Wäre ich Kuratorin, würde ich eine Nail-Art-Ausstellung konzipieren. Unterabtei­lungen wie: »Dekor zwischen Ornament und Verbrechen oder Der Lack ist ab«. Miniaturen gestern und heute. Materialitäten der Naildesign-­Kommunikation. Inklusive ein Kapitel zu Nagellacknamen. So heißt eine klärschlammartige Farbe bei einer sehr teuren Firma »particulière«, ein dunkles Braunviolettrot »androgyn«, ein vages Grau ­»horizon«.
In Sachen Miniaturisierung konsultierte ich einen Kunsthistoriker. Der riet mir, eine andere Spur zu verfolgen: Ich solle mal über die ästhetische Betonung der Nägel als Krallen nachdenken. Tierdarstellungen, namentlich von Wappentieren wie Löwe, Adler, Bär böten sich zum Vergleich an. Angebracht seien, fand der kulturwissenschaftlich infizierte Forscher, auch Gender-Reflexionen. Gesellschaftliche Implikationen des Nageldesigns als Indiz der weiblichen Selbstvergewisserung und -stilisierung. Oder so ähnlich.

 

 

Eine Ausstellung zum Thema Oberflächen im Rotterdamer De Nieuwe Institute zu Oberflächen, die ich auf einer meiner Reisen sah, brachte weitere thematische Impulse. In der Schau gab es doch tatsächlich ein Nailstudio. Neugierig näherte ich mich. Noch bevor ich Farbe und ­Dekor ausgewählt hatte, stellte sich die Lackiererin als Museumsmitarbeiterin vor und machte mir klar, dass sie mir aus Kosten- und Zeitgründen nur einen Nagel bearbeiten könne. Dabei war das Museum leer. Als Gegenleistung sollte ich überdies einen Fragebogen zur Ausstellung beantworten. Vermutlich war meine Farbsucht dran schuld, dass ich das Institut mit einem scharfblauen Zeigefingernagel verließ.
Kurz darauf sah ich die Postkarte eines Kunstwerks ­einer mir unbekannten Künstlerin namens Silvia B., das ein ausgestopftes Albinoäffchen zeigte. Alle seine Nägel waren rot lackiert. Eine Pfote ließ es manieriert hängen wie ein Dämchen, während es zugleich seine andere Hand, auch sie lackiert, mit gespreizten Fingern, pardon Pfoten, betrachtete. Ein selbstzufriedenes, ja selbst­ver­liebtes, leicht entrücktes Lächeln lag auf dem Gesicht des Äffchens. Ich kaufte die Postkarte und dachte noch länger ­darüber nach, ob das gute oder schlechte Kunst war.

PS: Die Schweizer Wochenzeitung »WOZ« hat eine Broschüre zur »Digitalen Selbstverteidigung« veröffentlicht. Gegen Datensammler und -sauger wie
Facebook, online erhältlich unter www.woz.ch/verteidigung
Facebook hat im September 2017 publik gemacht, dass es während des amerikanischen Wahlkampfes 2016 via russische Fake-Accounts adressatenorientierte Anzeigen gegen Hillary Clinton in Umlauf gebracht hat. Unter dem Titel »Facebook versus democracy« kommentiert der Medienprofessor Siva ­Vaidhayanathan in der New York Times vom 12.9.2017 besorgt: »We are in the midst of a worldwide, internet-based assault on democracy«. Die Facebook-Aktie umspielt in jüngster Zeit die 180-Dollar-Marke.

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Boutiquen am Bosporus

Barbara Basting, 10.04.2018

Ich bin nicht mehr sehr zufrieden mit Facebook. Denn in jüngerer Zeit scheint der Algorithmus dort ein totales Willkürregime zu entfalten. Noch dazu wird er dauernd verändert. Kaum habe ich mich an den wohligen Begleitstrom der Erinnerungsbilder gewöhnt, beschließt der Herr Zuckerberg, dass damit Schluss ist. Oder bin ich wieder einmal selber schuld, weil ich zu wenig geliket und geteilt habe?
Wie herrlich simpel war der alte Algorithmus gestrickt. Zu einer Zeit, als ich häufiger in Istanbul war, hatte er doch tatsächlich bemerkt, dass ich häufiger in Istanbul war. Ungefähr fünfmal nacheinander bekam ich meine Schnappschüsse von dort zwecks Zwangserinnerung serviert.
Sie sehen hier den lausigsten aller Schnappschüsse. Beim Herumstromern war ich auf diese Pailletten-Karyatiden und das etwas beklemmende Treppenhaus gestoßen, wo sie Spalier standen.
Wir befinden uns nahe der Metrostation Osmanbey auf der europäischen Seite Istanbuls. Hier gibt es einen Cluster von Boutiquen mit religionskonformer Damenmode. Im Angebot sind zum Beispiel hochgeschlossene lange Mantelkleider. Nein, nicht diese trostlosen beigen Säcke, sondern auf Taille geschnittene Kreationen in farbigen Stoffen. Kapuzen dienen als Kopftuchersatz. Etliche Schnitte sind recht fesch und für gazellenhaft schlanke Frauen gemacht. Dazwischen gibt es immer wieder Schaufenster mit fantasiegesteuerter Abendmode, die alles in den Schatten stellt, was man so an Oscarverleihungen sieht.

 

 

Gerne hätte ich die Boutiquen näher inspiziert. Aber nachdem mir aufgefallen ist, dass das Personal durchweg aus je drei Männern besteht, meist zwei jüngeren und dem Boss, ziehe ich mich vorsichtig zurück. Denn sie mustern mich eher missbilligend durch ihre Schaufenster, vor denen ich, in Jeans und Sneakers gekleidet, stehe und hineinglotze wie ein Kind in ein Aquarium. Sehen sofort, dass ich nicht zu ihrem Kundinnensegment gehöre, wenden sich ihrem Teeglas oder den mit Kilometern von Plastikfolie zusammengepressten, chinesisch beschrifteten Kleiderballen zu, die gerade angeliefert worden sind.
Irgendwo hatte ich Geschichten von Istanbuls boomender Modeszene gelesen. Sie erweckten den Eindruck, dass Istanbul sich anschickt, in eine Aufzählung vom Typ »Paris-London-New York-Milano-Tokyo« zu passen. Ich kam ins Grübeln. Vielleicht musste ich mein Verständnis von Mode überprüfen.
Später fielen mir in der unendlichen Warteschlange vor der Gepäckkontrolle am Flughafen Atatürk die Gruppen schwarz verschleierter Frauen auf, die gigantische Koffer und mit braunem Klebeband umsponnene Pakete auf die Fließbänder wuchteten. Ich ahnte, was in den Paketen war. Istanbul, soviel verstand ich, ist jetzt die Shopping Mall des Nahen Ostens, und aus dem Knotenpunkt der Seidenstraße ist ein Polyesterhub geworden. Bis heute bedaure ich übrigens, dass ich die Treppe in Osmanbey nicht hinaufgestiegen bin.

PS: Mit der Facebook-Aktie ist das so eine Sache: rauf runter rauf runter. Hat sie ihre besten Zeiten gesehen?
»Du bist das Produkt«: John Lanchesters profunde Analyse der Datenkrake Facebook https://www.theatlantic.com/technology/archive/2017/09/what-we-dont-know-about-what-facebook-knows/539010/ kann man in deutscher Übersetzung hier lesen und hören: http://www.deutschlandfunk.de/ueber-facebook-du-bist-das-produkt.1184.de.html?dram:article_id=397257
Das Thema »Bots«, sprich fiktive Follower, ist noch lange nicht gegessen:
https://www.nytimes.com/interactive/2018/01/27/technology/social-media-bots.html

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This is not your blood.

Aya Momose, 11.12.2017

 

 

 

What was your first thought today?
A snow storm apparently hits New York City. I’m wondering if today or tommorrow.

 

Is it true?
I’m not sure.

 

East or West?
East, if anything.

 

How old is your consciousness?
28 years old.

 

What is the problem with solutions?
Unchosen choices constantly create all the countless parallel worlds.

 

Can you recite a poem?
I can’t, but only in fragments.

 

What is the personal form of “our”?
Bokutachi-no.

 

Where is your center of gravity?
Around liver.

 

What is your description of the word “anonymity”?
A voice without a face.

 

Duchamp or Warhol?
Duchamp.

 

 What is your spur?
An absolute difficulty of understanding the other

 

Are you serious?
Probably.

 

What does “why” mean?
Throwing a stone into a pond to stare ripples on the water.

 

Which groups do you belong to? Choice of three to five.
Something not being male, something using words, and something walking on two legs.

 

Do you translate these questions into your mother tongue and back?
この質問をあなたの母国語で翻訳して返してもらえますか?

 

What is the name of that difference?
Things like holding a sponge hammer to face each other.

 

What book are you actually reading?
The Invention of Solitude by Paul Auster.

 

Dogs or cats?
Cats.

 

 

 

What would you do if not art?
I would harvest honey in a damp thicket.

 

What should happen after death?
Staying there for a while, I gaze my body like through binoculars.

 

What is the personal form of “your”?
Kimi-no.

 

Where do you think you are going to?
Voice, the place where voices come from.

 

Blind or deaf?
Deaf.

 

Who does your past belong to?
Aged mother.

 

What Knowledge?
To find a new constellation.

 

Which faith?
Depriving while giving.

 

Can you describe the face of strangeness?
Surely different, although they’re pretty similar like twins. However, I don’t know what makes them different.

 

Your favorite geometric form?
Triangle.

 

 

 

What drives you mad?
The label of bottles. I couldn’t peel them off properly.

 

North or South?
To south, definitely.

 

What are your main worries?
After my death, no longer do I clear up all the misunderstandings in the past.

 

If you wouldn’t be you. What would you be the most alike?
A leaf-mimicking insect.

 

Looking forward, what do you see?
A white squeaky door.

 

Your favorite food?
Japanese wild plants, taste bitter and a bit earthy.

 

What would you like to get rid of?
The exploitation of something, that I wouldn’t intend.

 

Thinking back, what do you hear?
I hear someone singing high notes. That’s in foreign language though.

 

What would be the antidote?
A diary of the other.

 

Your most valuable possession? Only things.
Something to write memories down.

 

Your temporary frame of mind?
What if these simple days in our life had its script written by someone, as a series of these answers itself shaped a certain narrative just here.

 

 

 

 

All illustrations:

Lesson (Japanese)
2015, Single channel video, 7'16'' (looped)

© Aya Momose

 

Questionaire by Michael Heitz

 

 

 

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Custom Creates Law

Haus am Gern, 05.05.2017

Das heutige Zivilrecht geht aus Traditionen hervor, in denen unbestrittene Normen das Zusammen­leben der Mitglieder einer Gemeinschaft in Form von Rechten, Ansprüchen und Verpflichtungen regelten. Im Rahmen des internationalen Rechts bezieht sich das Gewohnheitsrecht auf Rechtsnormen, welche sich aus dem ­üblichen, sei es diplomatischen oder aggressiven, Umgang der Nationen untereinander herausgebildet ­haben.

Auf ausgedehnten Reisen durch Israel und die besetzten Gebiete befestigte Haus am Gern an Zäunen, ­Gittern, Abschrankungen und Geländern Bügelschlösser, auf denen zuvor der Text CUSTOM CREATES LAW eingraviert worden war. Insgesamt wurden 74 Schlösser illegal befestigt (sie können nur mit Gewalt entfernt werden), die Schlüssel archiviert und von den Orten einige Dutzend Fotografien gemacht, die danach von einem Computerprogramm zu je einem Bild zusammengefügt wurden.

Die Wahl der Stätten erfolgte sowohl spontan als auch in Reaktion auf die Geschichte(n) vor Ort. In Israel überlagern sich in den dichtbesiedelten Städten wie in den ödesten Wüsten Erinnerungen und Überreste von Ereignissen, welche sich vor Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden ereignet haben und heute als Beweise rechtliche, politische und religiöse Ansprüche rechtfertigen sollen – ganz zu schweigen von denjenigen Orten, die den verschiedenen Religionsgemeinschaften als »von Gott versprochen« gelten.

 

 

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  • Recht
  • Gegenwartskunst
  • Rechtspraxis
  • Israel
  • Abgeschlossenheit

Paradox I: That all things kill themselves

John Donne, 12.04.2017

To affect yea to effect their owne deaths, all living are importun’d. Not by Nature only which perfects them, but by Art and education which perfects her. Plants quickned and inhabited by the most unworthy Soule, which therfore neyther will, nor worke, affect an end, a perfection, a Death. This they spend their Spirits to attaine; this attained, they languish and wither. And by how much more they are by Mans industry warm’d, and cherisht, and pamper’d, so much the more early they climbe to this perfection, this Deathe. And yf between men, not to defend be to kill, what a heinous selfe murder is it, not to defend it selfe? This defence, because beasts neglect, they kill themselves: because they exceede us in number, strength, and lawles liberty. Yea, of horses; and so of other beasts, they which inherit most courage by beeing bred of galantest parents, and by artificiall nursing are bettered, will run to their own Deathes, neyther sollicited by spurrs, which they neede not, nor by honor which they apprehend not. If then the valiant kill himselfe, who can excuse the coward? Or how shall man be free from this, since the first man taught us this? Except we cannot kill our selves because he kill’d us all. Yet least some thing should repaire this common ruine, we kill dayly our bodyes with Surfets, and our Minds with anguishes. Of our Powers, remembring kills our Memory. Of affections, Lusting our Lust. Of Vertues, giving kills Liberality. And if these things kill themselves, they do it in ther best and supreme perfection: for after perfection immediatly followes exces: which changes the natures and the names, and makes them not the same things. If then the best things kill themselves soonest (for no perfection indures) and all things labor to this perfection, all travaile to ther owne Death: Yea the frame of the whole World (yf it weare possible for God to be idle) yet because it begun must dye: Then in this idlenes imagind in God, what could kill the world, but it selfe, since out of it nothing is.

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Problem IX: Warum haben Hurenkinder das allermeiste Glück?

John Donne, 12.04.2017

Vielleicht, weil das Glück selbst eine Hure ist? Doch eine solche geht beileibe nicht so sanft und nachsichtig mit ihren Sprösslingen um. Der alte natürliche Beweisgrund (dass das Beutemachen in verbotn’er Liebe ein ungestümes Vorgehen sei und deshalb mehr Geist beisteuere als bequemer und gesetzlich zugelassener Eheverkehr) mag mich leiten, doch wenn ich mich heute umschaue, sehe ich die Mätressen häuslich und sittsam werden; und sie und die Ehefrauen warten abwechselnd, bis man sie auffordert, dann sagen alle beide Ja, als lebten sie auf der Arche des Noah. Der alte sittliche Beweisgrund (dass die Hurenkinder die Verkommenheit ihrer Eltern erben und deshalb schon mit reichlich Vorrat begünstigt sind, wohingegen die anderen vom erbärmlich armseligen der Erbsünde allein zehren müssen) möcht’ bei mir die Oberhand gewinnen, aber da wir alle in Zeiten geworfen sind, wie sie heute nun einmal herrschen, so mag die Welt uns den Teufel ersparen, denn um verdorben zu sein, bedürfen wir seiner nicht; denn ich sehe Menschen, die drauf pfeifen, dass man ihre Lasterhaftigkeit zum Exempel macht oder die es verschmähen, sich von anderen zu ihrer Verdammnis verpflichten zu lassen. Weil die Gesetze sie der Erbfolge und der bürgerlichen Vorrechte beraubt, scheint es nur vernünftig, dass man ihnen dies ebenso vergilt, wie es die Natur tut, die schließlich die Vaterschaft der Gesetze inne hat, die den Weibern die Treue zu je Einem verweigert hat, sie dafür aber listig so geschaffen, dass sie Viele verlocke, weshalb den Hurenkindern eben de jure auch mehr Schlauheit und Geschick zukommt. Aber (ganz abgesehen davon, dass uns die Erfahrung lehrt, dass es auch unter ihnen nicht wenige Narren gibt), wollen wir doch einen ihrer hauptsächlichsten Beistände hinzuziehen, soll es uns denn angelegen sein, ihnen den Titel Narr abzusprechen. Und dieser (der einzige der noch geblieben ist) lautet, dass Weiber gemeinhin würdigere Männer wählen, als es ihre Ehegatten sind; und das nun ist de facto falsch. Entweder hat also die Kirche sie aus allen öffentlichen Ämtern des Dienstes an Gott enthoben, worauf sie nun bess’re Mittel sich suchen müssen, verdorben und auf diesem Wege Glückskinder zu werden, oder Teufel und Fürsten, die zwei Großmächte der Welt, treffen sich in eben dieser ihrer Großmächtigkeit – der eine macht den Bastard, der andere bescheinigt die Abkunft, so wie selbst die Natur große Gegensätze in Körper fasst und dort aufbehält. Oder vielleicht will’s auch der Zufall, und es ist deshalb so bestellt, weil sich so viele von ihnen auf den Gerichtshöfen herumtreiben, der Schmiede, wo gar manches Vermögen gepimpert wird, oder zumindest der Verschlag, wo man es feilbietet.

 

Übersetzung: Andreas L. Hofbauer

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Quaddie

Tyler Coburn, 12.04.2017

“Quaddie” is a term awaiting political correction, but how else should we describe the four-armed workers genetically engineered for three fall environments?
The Quaddies are the legal property of a mining company. As “post-fetal experimental tissue cultures,” they’re too many links down the Great Chain to share human rights and protections.
A Quaddie body is bottom-heavy: thin hips atop massive glutes. The lower arms bowed and muscled, the wrists thick, the digits squat. It’s what you get when you put a chimpanzee on a horse, the remove the horse.

 

→ Lois McMaster Bujold, Falling Free. New York: Baen, 1988

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Hermal

K.A., 12.04.2017

Im Gegensatz zu anders lautenden, und neuerdings immer wieder erhobenen, Behauptungen, ergreifen wir hier die Gelegenheit kurz nachzuweisen, dass wissenschaftlich ernstzunehmende und empirisch belegbare Grundlagen und Ausweise für Konstrukte, wie sie im Folgenden knapp angerissen werden, schlichtweg nicht existieren. Zwar hat Plinius d. Ä. in seinem Buch XXXVI vom Tempel der Fortuna in Antium berichtet, den Nero dort neu errichtet haben soll, doch bereits dieser Bericht entbehrt gemeinsam mit seiner Aussage, er hätte zur Gänze aus phengites (Leuchtstein oder Glimmer) bestanden, jedweden Beweises. Nicht nur mangelt es uns an archäologischen Funden, die auf einen solchen Tempel in Antium oder anderswo hinweisen, es muss auch unklar bleiben, worauf sich eine Wendung wie »Neubau« hier überhaupt beziehen soll. Glimmer ist ein hochgradig transluzides Mineral, das sich in hauchdünne Scheiben schneiden lässt. Dass diese trotzdem über die Härte des Marmors verfügen, hat Guido Panciroli aber dann im 16. Jahrhundert dazu erfunden. Wenn Plinius behauptet, dass es in diesem Tempel immer, auch bei geschlossenen Türen, helle bliebe, dann handelt es sich zweifellos um ein weiteres Produkt seiner Fantasie. Ausgehend von solchen rein spekulativ-fiktiven Annahmen eines Lapis specularum, referieren in jüngster Vergangenheit nun einige Publikationen – ich erspare mir an dieser Stelle genauere Verweise, denn es handelt sich in der Mehrzahl um obskure Druckwerke oder Blogeinträge, gleichwohl derlei »literarische« oder »mythopoetische« Bezüge nun auch schon in seriösen Veröffentlichungsorganen des IKR-BNT (Institut für Konsensrealität auf Basis -faktisch nachweisbarer Tatsachen) auftauchen – auf derlei »Grundlagen« und ergänzen sie um nachgerade lächerliche Erweiterungen. Man will nun von einem Adyton dieses Tempels wissen, wo pandrogyne Priesterinnen einzelne Steine (bearbeitet und unbearbeitet), Stelen oder phallische Diorit-Skulpturen mit flüssigem Butterfett salbten und mit taktil erregenden Stoffen (es stellt sich die Frage: »Wen sollen diese eigentlich erregen – sie selbst vielleicht?«) umhüllten. Mag man nun einwenden, dass Hypothesen zu imaginären Kulten, deren vorgebliche Tempel niemals existierten, kaum der Rede wert sein dürften; dennoch scheint es in Zeiten sich steigernder Verwirrung geboten, überall dort denen scharf in die Bresche zu fahren, die meinen, sich ihre fiktiven Historien einfach selbst fabrizieren zu dürfen. Zum Beispiel die sich wiederholende Wortverwendung »pandrogyn« – handelt es sich hierbei um einen Druckfehler, der von anderen geistlos übernommen und abgeschrieben wird, oder erfindet man sich hier gleich eine ganze Begriffslandschaft? Selbiges gilt für die »Herminen« oder »Herminalen«, wie man die Priesterinnen oder Kultdienerinnen (bei denen es sich wohl auch um Männer handeln soll) mitsamt ihrem »hermalen« Dienst zu nennen beliebt. Wie bei derlei Versuchen häufig, versucht man Fakten mit Hirngespinsten so zu vermischen, dass Pseudo-Fakten entstehen, die sich für die kritische Bewusstseinsbildung schließlich als schädlich erweisen. Ausgehend von einer an sich schon kryptischen Stelle des Aristoteles aus dessen Metaphysik, der zu Folge der »Hermes im Stein wohne/lebe/sei« entwickeln sich esoterische Gradienten, die sich zum einen durch frei erfundene Zusammenhänge absichern wollen, zum anderen werden »philosophische« Mutmaßungen angestellt, die wiederum dazu führen, diesen »Tempel« gleich überall zu finden! Die ganze Welt sei heute ein solcher geworden und allein eine »hermale« Lebensform würde den Weg weisen. Siliziumsand löse sich im Licht (lysioi lithoi !), alte Prozession wandeln sich zu neuen Prozessoren u. dgl. mehr. Im beklagenswerten Zustand, in welchem sich Teile der gegenwärtigen Forschungslandschaft heute befinden, liegt es dann auch nahe, dass populärkulturelle Elemente hier einfließen können. In einem erst kürzlich eingereichten Vorschlag für ein Symposium wurde ganz ernstlich nahegelegt, dass zwei Akkordfolgen [Eb F# Eb F# Dbm H F# und Am D Am D Cm G], die dem Soundtrack zu einem sechsminütigen Experimentalfilm aus dem Jahr 1949 eines obskuren kalifornischen Filmemachers entstammen, sich als quasi-pythagoräische Tonalsegmente dafür anbieten würden, mathematisch basierte Universalverhältnisse zu prüfen – und all das versehen mit dem Hinweis, dass jene Akkordfolgen der Begleitmusik hurritischer Zeremonialgesänge exakt...

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American English

Hendrik Rohlf, 12.04.2017

 

Richard Prince: American English
Sadie Coles HQ/Verlag der Buchhandlung Walther König: London/Köln, 2003
Limited Edition, ohne Paginierung

 

Das Foto mit der Frau auf dem Fahrrad wiederholt sich auf der Rückseite. Etwas ist anders, der Mund geschlossen, der Bildausschnitt leicht nach links verrückt. »American English«: Als Tableaus inszenierte und fotografierte Erstausgaben aus der Sammlung von Richard Prince, jeweils eine englische und eine amerikanische: J.G. Ballards, »High-Rise«, Jim Thompson, «The Killer Inside Me« (Lieblingsbücher von mir, weshalb ich das Buch unbedingt haben wollte, um jetzt zu bemerken, dass Philip K. Dick nicht dabei ist, obwohl ich mir dessen so ­sicher war) und Bücher von Kerouac, John Lennon, William Gibson u.a. Richard Prince schreibt im Vorwort: »I don't see fancied interest, I don’t see hobby or appreciation, I don't see exhibition or connoisseurship. The thing is, I don't see these things on my shelf. I just stare at them. They are there everyday. They change me.«

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How to Pilot an Aeroplane

Luc Meresma, 12.04.2017

 

Capt. Norman Macmillan:
How to Pilot an Aeroplane,
George Allen & Unwin LTD: London 1942,
first edition, 110 pages

 

This book told me just what I had to know before I flew. Flying came more easily and I mastered its intricacies as quickly as my ideas come up during a rapid dream, because I stored up in my mind (and I carried in my pocket) the knowledge of Capt. Norman Macmillan, gained during five thousand hours of every kind of piloting. No other writer has the same flying background. With this little book I succeeded in finding my personal style doing the Flick Half Roll, the Immelmann Turn, or simply the Loop. Try it, but never forget: Whatever you fly, find out for yourself what are the equivalent inspection schedules, and even though you are the pilot, and there are engineers and mechanics to do the work, learn how to inspect yourself, for you never know when you may have only yourself to rely on to decide whether your aeroplane is safe to fly or not. And find out how to do repairs. For this reason never forget having another small companion in your pocket: Engine Mechanics, by W.D. Arnot. Some of the greatest pilots have also been skilled mechanics, or artists, or writers, or philosophers. It is worthwhile to follow in their footsteps. I did, and this book helped me a lot.

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China frisst Menschen

Damian Christinger, 12.04.2017

 

Richard Huelsenbeck: China frisst Menschen
Orell Füssli Verlag: Zürich/Leipzig, 1930
Erstausgabe, 352 Seiten

 

Richard Huelsenbeck, Mitbegründer und Drummer des Dadaismus in Zürich, kehrte in den 1920er Jahren den Querelen der künstlerischen Avantgarden den Rücken, um als Schiffsarzt anzuheuern und die Welt zu bereisen. China war für ihn eine Offenbarung. »China frisst Menschen« ist ein erstaunlicher Roman, wider seine Zeit geschrieben, in der im Westlichen Mainstream von der »Gelben Gefahr« die Rede ist. Huelsenbecks aufklärerischer Roman, verortet China als Spielball der Westlichen Mächte, als einen gnadenlosen Ort zwischen den Imperien, in dem das gesamte Personal des Buches, ob Deutscher oder Chinese, am Schluss scheitert und von der Geschichte verspiessen wird. Das Fazit des Buches ist so einfach wie nüchtern – Huelsenbeck beschreibt den Hafen von Shanghai so: »Auf den Bänken träumen mit hochgezogenen Knien einige Bettler, Strandläufer, Chinesen und Europäer. Der Hunger hat die Unterschiede der Rassen ausgelöscht.«

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Human Oddities

Oliver Hendricks, 12.04.2017

 

Martin Monestier: Human Oddities. A Book of Nature's Anomalies
New York: Citadel Press 1987
transl. by Robert Campbell, 192 pages

 

Bearded Ladies, Dwarfs and Giants, Hermaphrodites, Siamese Twins (see Heng and Chang on the book cover), the Mule-headed Lady, The Serpent-Woman, The Amazing Half-Boy (famous for his appearance in Tod Browning's »Freaks«), The Man with the Rubber Skin and many more, as well as one picture and a story that haunted me most: Pasqual Pinon, The Two-Headed Mexican, who apparently had an extra head on his forehead that could open and close his eyes and his mouth, but was unable to speak (in Per Olov Enquist's novel »Downfall: A Love Story« she is called Maria). The book ends with a picture of a bareheaded young monk with a perfect ball on a pillow in his hands. »The future of humankind?« is the final question beneath this picture.

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Selbstporträt im Spiegel

Pierre Guyotat, 07.04.2017

 

 

»Dieses Selbstportrait datiert auf März 1962. Ich kam von einem Einsatz als Funker aus dem Landesinnern, dem Djurdjura-Massiv zurück. Ich war von meinen Kameraden aus der Funkstelle gewarnt worden. Als ich aus dem Jeep stieg, wusste ich bereits, dass ich eine schlimme Viertelstunde er­leben würde, eine Viertelstunde, die ein ganzes Leben dauern könnte. Ich kam zurück, und ich sah einen Jeep vom Geheimdienst, von der Militärpolizei. Ich habe mich sofort in unser Zimmer verdrückt. Meine Kameraden hatten bereits ­meine Notizen und ein paar ­meiner Sachen versteckt – Soldaten­solidarität. Ich hatte nur noch die Zeit, den Reflex, an den Stubenspiegel zu ­gehen und mich dort zu fotografieren. Das ist fast wie eine Art Selbst­portrait vor dem bürgerlichen Tod. Ich ­dachte, dass ich aus dem bürgerlichen ­Leben verschwinden würde, um mich dann in ich weiß nicht welcher Hölle wieder­zufinden. Kurz darauf wurde ich fest­genommen, angeklagt und eingesperrt.«

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12.05.2011 – 12.05.2017: Über nichtdigitale Speichermedien

Barbara Basting, 05.04.2017

Der Facebook-Algorithmus hat mitbekommen, dass ich was mit Kunst und Museen habe und setzt mir aus dem Pool meiner früheren Posts den Schnappschuss eines Louvre-Billets vor. Das Fetzchen hatte zum Zeitpunkt des Postens schon Jahrzehnte als Lesezeichen in einem nichtdigitalen Speichermedium überdauert, einem Taschenbuch aus meiner Pariser Studienzeit.
Mein Louvre-Tag war damals der erste Sonntag im Monat. Gratiseintritt! Zu blöd, die Seitenkabinette mit Dürer und Vermeer waren nur wochentags geöffnet. Für Studierende galt der »tarif réduit C«. Halber Preis, acht Francs: der Gegenwert von drei Baguettes. Heute ist der Louvre für die EU-Jugend bis 26 gratis. Der volle Eintritt liegt bei 15 Euro, Gegenwert von mindestens fünfzehn Baguettes.

 

 


Allerdings ist der Louvre auch um einiges größer als damals. Der »Grand Louvre« mit I.M Peis heftig diskutierter Glaspyramide war eines der »Grands Projets« von Präsident François Mitterrand. Zusammen mit seinem Minister Jack Lang führte er eine Kulturoffensive, als könne man damit die schon angeknackste »Grande Nation« retten. Keine Regierung seither hat noch derart beherzt an die Reformkraft der Kultur geglaubt. Töricht nur, dass selbst der Sozialist Mitterrand quasi royalistisch fixiert war auf »Grandeur« – und auf Paris.
Touristisch ist der »Grand Louvre« zwar ein Riesenerfolg und das meistbesuchte Museum der Welt. Aber trotz der Expansion nach Lens, in die wirtschaftlich gebeutelte Provinz, und trotz Eröffnung einer Islam-Galerie ist der Kulturglaube verdampft, ein Louvre könne den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Eher dienten solche Manöver, wie auch die kontroverse Gründung des Louvre Abu Dhabi, der Profilierung einer kultur­touristischen Marke.
Nun plötzlich dies: Der neugewählte französische Präsident Emmanuel Macron benutzt doch ausgerechnet die neopharaonische Glaspyramide als Staffage für seine erste Rede und legt auch hier die Latte hoch, in dem er auf den »Wagemut der Pyramide« und den Louvre als Gründungsikone republikanischer Kultur verweist.
Nicht nur angesichts solcher Pathosformeln kommen mir meine Louvre-Besuche von 1984 vor wie Tauchgänge in einer Zeitkapsel aus dem 19. Jahrhundert. Ihr Herzstück waren die Grande Galerie und der Ständesaal mit den Italienern sowie die Säle mit den grandiosen Historienschinken von Delacroix und Géricault. Man stand davor und versuchte sich was zu denken.
Denn der Louvre, dieses Produkt der französischen ­Revolution, aus dem sein Gründer Vivant Denon ein ­Museum des Volkes machen wollte, war noch 1984 ein Museum der Eliten. Vermittlung, außer dürren Namens- und Jahresangaben: zéro. Er war aber auch ein Hort der Kunst vor der Bilderflut, ein Museum vor dem Museumsshop, dem Museumsselfie und einer beflissenen Vermittlung. Es gab nichts als die Kunst. Also versuchte man zu verstehen, was diese Kunst war. Wenn man es hier nicht verstand, wo dann?
Über allem lag ein Zauber, den die geölte Kunstkonsummaschine mit Shoppingmall-Direktanschluss für mich verloren hat. Das ­Ticket von 1984 ist unversehens zum Eintrittsbillet in diese Welt von gestern geworden.

 

PS: Die Aktie schwankt um 150 Dollar. Der Ex-Facebook Executive Antonio Garcia-Martinez reflektiert im »Guardian« über ethische Probleme der zielgruppenorientierten Werbung von Facebook: https://www.theguardian.com/technology/2017/may/02/facebook-executive-advertising-data-comment, und der Netzkritiker Geert Lovink fragt in seinem jüngsten Buch: »What is the social in social media«? http://eu.wiley.com/WileyCDA/WileyTitle/productCd-1509507760.html

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12 Feb 2011 — 12 Feb 2017

Barbara Basting, 05.04.2017

Kürzlich wollte Facebook mit mir feiern. Zu dem Zweck hat das Unternehmen mir einen Eintrag auf meine Pinwand gepostet, die eigentlich für andere gesperrt ist. Wegen der Trolle. Aber für die FB-Leute gilt die Sperrung offenbar nicht. Steht sicher im Kleingedruckten. Der Post, den ich hiermit teile, hat mich leicht verstört: »Barbara ist Facebook vor 6 Jahren beigetreten«! Auf dem größten der Buttons, die das zugehörige Bild zeigt, erkenne ich mein Profilbild. Ein Selfie, das ich vor einiger Zeit vor einer stark gewellten Alufolienwand in einer Ausstellung von Joëlle Turlinckx im Museum für Gegenwartskunst in Basel aufgenommen habe und auf dem ich aussehe wie eine ölige Farbschliere. Absurder Tarnungsversuch. Auf den kleineren erkenne ich die Selfies einiger meiner sogenannten Facebook-Freunde. Mitten in dem -Button-Salat ein Pfeil. Eine Animation zum Anklicken.

 

 

 

 

Ich möchte an dieser Stelle dringend davor warnen. Es ist oberpeinlich. Eine Verhöhnung. Zum Dank für die jahrelange Mitgliedschaft bei FB wird mir eine extrem anspruchslose Animation im Stil eines etwas dümmlichen Kinderbuchs geboten. Sie zeigt als erstes einen Ballon, der in einen blauen Himmel aufsteigt, mit einem Wow-Smiley. Unten dran hängt eine Karte mit meinem Vornamen. Es folgt der Text: Heute mag ein ganz normaler Tag sein. Und doch ist er etwas ganz Besonderes. Warum? Natürlich wegen dem -Facebook-Jubiläum. Seit dem 12. Februar 2011 bin ich demnach bei Facebook. Die Animation präsentiert mir als nächstes eine Flippermaschine, in der oben ein Kalenderblatt mit dem magischen Datum eingefüllt wird. Dann laufen Like-Love-Wut-Buttons wie Flipperkugeln durch die Maschine, und nebst ein paar Bildern aus meiner »Timeline« genannten Vergangenheit sondert die Flippermaschine einen altjüngferlichen Stoßseufzer ab: »Wie die Zeit vergeht!« Die fünf, sechs darauf folgenden Fotos hat die algorithmische Schöpfkelle rausgefischt.

Da mir mein Facebook-Jubiläum so plastisch vor Augen geführt wird, drängt sich mir der Vergleich mit Dienstjubiläen in meinem bisherigen Angestelltendasein auf. Der Weltenlauf bringt es mit sich, dass das Ausharren auf einer Stelle heute nicht mehr so großzügig honoriert wird wie früher. In aller Regel sollte man froh sein, wenn man bleiben darf oder es lang genug in einem Betrieb aushält. Dies insbesondere, wenn es nicht nur darum geht, den Lebensunterhalt zu sichern, sondern auch noch Sinn und, ganz altmodisch, Erfüllung in der Arbeit zu finden. Leider zeigt die Gratisarbeit für Facebook hier keinen überzeugenden Weg auf.

Immerhin bietet sie eine Gratifikation in Form von Likes und Gratis-Erinnerungen. Genauer gesagt, sind es algorithmisch generierte Zufalls- und Zwangserinnerungen. In einer klugen und ziemlich einleuchtenden Studie des Literaturwissenschaftlers und Social-Media-Experten Roberto Simanowski habe ich jüngst gelesen, dass sich diese Erinnerungen gerade wegen ihrer algorithmischen Zufälligkeit nie und nimmer zu einer echten, kohärenten Erzählung fügen werden, sondern uns immer nur mit der Illusion einer solchen ködern. Leider funktioniert dieser Bild-Köder bei mir prächtig, ich gebe es zu. Da Facebook es an der materiellen Gratifikation ebenso fehlen lässt wie an einer Entlöhnung, beschloss ich, mich fortan auch pekuniär am von mir mitverursachten Erfolg des Netzwerks als Werbeplattform zu beteiligen. Ich habe mir zu meinem Facebook-Dienstjubiläum eine Facebook-Aktie gekauft (Einstiegspreis: rund 133 Dollar). Nun wollen wir mal schauen, wie sich das Geschäft mit den Illusionen entwickelt.

 

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THE MOST BEAUTIFUL CLOUD NAMES

Dorothee Scheiffarth, 05.04.2017

Cumulus tuba ;
Cirrus cumulonimbogenitus ;
Wallcloud ;
Bannerwolke ;
Föhnfische ;
mother-of-pearl cloud ;
Altocumulus translucidus ;
Stratocumulus castellanus ;
Cumulus mediocris ;
Punch-hole nuage ;
Cumulonimbus calvus ;
Iridescent cloud ;  
Nuage nacré ;
Altostratus pannus ;
Cirrus floccus ;
Schäfchenwolke ;
Instabilité (cirrus) de Kelvin-Helmholtz ;
Plume nuage ;;;

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BIG BUGS

Beni Bischof, 05.04.2017

Forever!

Star

Shame!

Cheat

War

Wedding

Psych

Suicide

Dying!

Love

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GUANAJUATONOVIEMBRE

Andreas Reihse, 05.04.2017

Setlist:
1 Luminous Procuress
2 Zero
3 Brass Canon
4 Mexican Tea Party
5 Jaguar
6 New Earth
7 Gas Giants
8 Evil Love

On stage: 10pm – 11pm
Zuschauer, gefühlt: ca. 3.000
Zuschauer, gezählt: 5.000
Klima: abendlich auffrischend, leichte Brise, zur Nacht hin schwer abkühlend
Bühnensound: zupackend
Publikum: euphorisch bis euphorisch verwirrt
Vor uns: Atom TM
Hinter uns: Ada
Backstage: Wagon
Sonstiges: Fotos, Autogramme, ankuschelnde Fans

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ABT. DIE DUEMMSTEN BERLINER FRISÖRNAMEN

Blixa Bargeld, 05.04.2017

Liebhaarber
Schnittstelle
Schnittweise
Haareszeit Friseur
Pierette res capillorum Haarschneiderei
über Kurz oder Lang
Salon Stilkamm
Wasser und Welle
Ja-hairgroup - Timecutter
Kommheim Haare schneiden
Hairtrend-Vision Berlin
HAIRLICH NATÜRLICH
Kopfgeist Beate Kodat Frieseur
Der Haarflüsterer® Berlin
Methaarmorphosen
haarjongleur Sylvia Scholz
Ha(a)rmonie
Haarstudio Abschnitt 22
Haar für Haar
KopfKunst Friseur
haargenau  & schnittig
Haarstudio Mit-Schnitt
Haareszeiten
Flhair
Kopfgeldjäger
Zu den Schnittigen
Haarstation (dabei das H gestaltet wie das H der Bushaltestellen)
Kaiserschnitt
Kamm 2 cut

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TWELVE DRUMMERS DRUMMING

Hanno Leichtmann, 05.04.2017

1. Ringo Starr
2. Mike D.
3. Roland TR 808
4. Jaki Liebezeit
5. Paul Lovens
6. Anthony Williams
7. Valerie Scroggins
8. David Moss
9. Moe Tucker
10. Dannie Richmond
11. Robert Görl
12. Georgia Hubley

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Je me souviens…

Jean-Luc Nancy, 05.04.2017

Je me souviens de l’étymologie du mot « souvenir ». En latin impérial subvenit mihi ­signifiait : « il me vient à l’esprit ». Le verbe avait eu les sens de survenir et de soutenir, de venir en aide. Le français en a fait « souvenir », terme qu’emploient parfois l’italien, l’espagnol, le roumain ou l’anglais, même l’allemand, le russe, le hongrois. Le tourisme a favorisé une spécialisation du mot en « objet typique r­apporté d’un pays visité ».
J’aimais bien que le souvenir survienne ou se glisse dessous. Comme un magnet retrouvé au fond d’une valise. On en est un peu honteux : pourquoi a-t-on cédé à ce fétichisme ? Pourquoi ce désir de garder un morceau du lieu, du pays, de la ville. Ou une image, une icône à défaut d’un morceau véritable.
Mon grand-père maternel gardait un gant qu’un incendie à bord d’un bateau avait rétréci, sans le brûler, à la taille d’un gant de poupée. Ce gant me fascinait : j’y voyais l’incendie, le paquebot, la main et tout le bras de la personne.

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Ich erinnere mich…

Discoteca Flaming Star, 05.04.2017

Ich erinnere mich an gewellte goldene Kornfelder.

Ich erinnere mich an mich; in der ­Peripherie des Bildes.

Ich erinnere mich an die Geheimpolizei Francos, wie sie mich eines nachts aus meiner Wohnung holte, wie sie mich die ganze Nacht be­fragte über meine Liebesbeziehung zu Antonio R. L. Ich erinnere mich an das Stück Zeitung, welches Antonios Tod am nächsten Tag wiedergab.

Ich erinnere mich an das endlose Wiederholen einer Szene; ich am Rande.

Ich erinnere mich daran, wie ich im Korridor eines Krankenhauses von einem melancholischen Monster ge­schlagen wurde.

Ich erinnere mich an die Ecke eines Zimmers mit seinem kleinen Fernseher und dessen gebogenen Bildschirm; gefüllt mit US-Militär­hubschraubern, kleine Soldatenauf Panamas Boden herablassend. ­Operation Just Cause. 

Ich erinnere mich an das gemeinsame Lächeln mit meinen zwei Vampirfreundinnen; ich erinnere mich, wie wir spielten einen Mann zu töten.

Ich erinnere mich an mein Bild im Kino: die Kamera fest auf mich gerichtet; ich war die Krankenschwester, die Kamera der Kranke.

Ich erinnere mich daran, wie ich ­meine Vespa verspielte und zwei Stunden zu Fuß nach Hause gehen musste, während mich die Spielsucht meines Großvaters begleitete.

Ich erinnere mich an das Herauskommen aus dem Zimmer, an das Herauskommen aus der Szene.

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I remember…

Stephen Barber, 05.04.2017

I remember during the frozen Tokyo winter of 1997: I took long walks in the dead of night through the Shinjuku Kabuki-cho district of endless bars, subterranean clubs and abandoned cinemas with Donald Richie, the American writer and film-maker, already in Tokyo for over forty ­years at that moment and determined still to explore that city to his last living instant. Walking across the Shinjuku plaza, after taking the subway from Ueno district, I watched the livid ­multi-coloured projections from the digital image screens on the surrounding towers incise and deepen the already-entrenched furrows of his aged, disintegrating face, casting animated sequences across it—in Tokyo's illuminated plazas, memory corrosively infiltrates the body itself, abrades it, honing-in especially on the face, eyes and mouth—as his lips vocally conjured memories of his friendships of the 1940s, 1950s, 1960s: Kawabata, Hijikata, ­Mishima… After passing the derelict structure of the immense Koma cinema that he loved and would be demolished soon after, we entered the near-darkened dense alleyways of the Golden Gai area, almost untouched for fifty years, and arrived at the discretely signposted bar, La Jetée, owned by Richie's friend, another obsessive agent of memory, the French film-maker Chris Marker, possessed by his own memories of the future, which Tokyo above all other cities disgorges, annulling or reversing linear time, oscillating between future-directed political contestations and now-lost corporeal gestures, transforming the megalopolis's malfunctioned facades and the imprinted bodies they momentarily contain…

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Exodus. Gods and Kings

Trmasan Bruialesi, 05.04.2017

Lieber Paul,

 

kurz nach Deiner überstürzten Abreise aus Warschau habe ich mir in einem freien Moment die DVD gegönnt, die Du – ich ­nehme an, absichtlich? – liegen gelassen hast. Warum gerade Ridley Scotts Exodus: Gods and Kings von 2014? Du wirst Deine Gründe gehabt haben, und Du wirst dafür geradestehen müssen. Denn als nach einer eher lauen ersten Stunde endlich die erste Plage mit digitaler Wucht über Memphis hereinbrach, klopfte es an die Tür. Es war der junge deutsche Fotograf vom Vortag auf der Vernissage – ich hatte die Begegnung verdrängt und die Verabredung vergessen – in Begleitung seiner polnischen Freundin und seiner ­Mappe. Er trug Béret und Bart und wirkte auf eine selten selbstverliebte Art ehrgeizig; er arbeite, sagte er, an einem großen Ding, es werde ­»wielki«, fügte er kokett auf Polnisch an. Die wichtigsten polnischen Künstler/Künstlerinnen will er porträtieren, Musiker, Maler, Autoren, Fotografen und natürlich Filmemacher, um sie dann im Gummidruckverfahren zu verewigen, »unsterblich zu machen«, seine Worte. Ohne Dich mit technischen Details zu langweilen, musst Du wissen, dass der Gummidruck das bevorzugte Edeldruckverfahren der Piktorialisten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war, ein Verfahren, das im Gegensatz zur klassischen Silber-Fotografie außerordentlich beständig ist, aber eben auch außerordentlich manieriert. Mit dem Gummidruck macht sich der Lichtbildner zum Maler der Ewigkeit. Mein Einwand, dass die Vergänglichkeit zur Genese der Fotografie gehöre, dass das Licht, welches das Bild erst zeichnet und dann sichtbar mache, es früher oder später auch wieder löschen dürfe, ja müsse; wobei: auch das stille Ver­rotten der Fotopapiere, der Platten und Filme in den Archiven sei nur ein sanftes Echo auf das Verwesen ihrer Barthes’schen Referenten; und ob er je Nicéphore Nièpces »Point de vue du Gras« im Original gesehen habe, die (im Gegensatz zu der von Gernsheim autorisierten, allgemein bekannten Reproduktion) kaum mehr lesbaren Spuren, welche das Licht vor 190 Jahren auf einer mit Judäa-Asphalt beschichteten Zinnplatte hinterlassen hatte – einem lichtempfindlichen Bitumen übrigens, das seit Urzeiten aus dem toten Meer gewonnen wird. Ich fragte ihn, ob er wisse, dass das persische Wort für Asphalt »mumia« lautet und im Alten Ägypten namensgebend war für das, was wir unter Mumifizierung verstehen: Künstliche oder natürliche Umstände verhindern Verwesungsprozesse zum Preis einer permanenten physischen Anwesenheit, welche doch nur die permanente geistige Abwesenheit manifestiert. Kurz, sagte ich, Gummidrucke sind die Mumien der Fotografie! Rückblickend war das wohl der Punkt, an dem ihn seine polnische Freundin zum Aufbruch drängte. Als sich die beiden leicht indigniert verabschiedet hatten, ohne dass wir auch nur ein einziges seiner Bilder betrachtet oder besprochen hätten, fühlte ich mich müde, ausgelaugt und ergab mich erneut den Plagen über Memphis, verschlief die Flucht der Israeliten und wurde erst von den aufgepeitschten Wassermassen des Showdowns geweckt – kein wirklich erhabenes Erwachen. Weißt Du, was ich an dieser Verfilmung wirklich vermisse? Die Szene, die sonst in keinem Bibelfilm fehlen darf, weil von unglaublich mythologischer Kraft: Exodus Kapitel 2 Vers 1–10, die mit dem kleinen Mose, ausgesetzt auf dem Nil in einem »Kästlein von Rohr«, wie Luther übersetzte, von seiner Mutter verklebt »mit Erdharz [sic!] und Pech«, um es ­wasserdicht zu machen – oder gar licht­dicht? War das Kästchen eine Kamera? War Mose ein Film? Sicherlich, das ist ein Kurzschluss, aber was für einer!


Dein Trmasan

 

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